Donnerstag, 17. Dezember 2020

Das Gutachten in der Schublade

Wenn es stimmt, was der W.D.R-Journalist Stefan Lauscher heute Morgen (17.10.2020) im Hörfunk sagte - dass ein Gutachten, dass die Zerstörung von fünf Ortschaften und deren Ersetzung im Nirgendwo einer Nachbarschaft, die der Kohleabbau nicht mehr ausraubt, für unnötig erklärte, von dem zuständigen Ministerium und der Landesregierung (auch der Bundesregierung?) zurückgehalten wurde, überrascht mich das - nicht. Es passt ins Klischee von den unredlichen, das Geschäft laufen lassenden Regierungen und es passt zur hier & da bekannt gewordenen Praxis großer & kleiner  korrupter Politiken, nur das zur Öffentlichen Diskussion zuzulassen, was zu den politischen Absichten passt. Es passt zur strukturellen Korruption der Bundesrepublik, die damit begann, dass die nationalsozialistisch kontaminierten und korrupten Eliten Ämter und Aufgaben übernehmen konnten, was noch immer als eine Art respektabler Integrationsleistung in unserer Geschichtsschreibung hier & da durchgeht: die Lebenslüge der Bundesrepublik Deutschland.

Andererseits: korrupte Lebenspraxis - hier & da ein Nachgeben strenger Moral - ist Lebenspraxis. Wer in Köln sozialisiert wurde, versteht das. Man muss wissen, was man tut, und sich nicht in die Tasche lügen. Unser Strafgesetzbuch zieht die Grenze zwischen dem tolerablen und dem intolerablen Klüngel. Solange eine strafrechtlich relevante Korruption aufgeklärt und gerichtlich verfolgt wird, ist es gut. Die Empörung über eine korrupte Praxis ist wohlfeil und zu wenig; ihre Aufklärung zählt. Die Differenz zwischen dem Klischee des (grundsätzlichen) Verdachts korrupter Lebenspraxis und der Feststellung einer korrupten Praxis ist lebensnotwendig. Warten wir ab.


(Überarbeitung: 16.12.2020)

 

Mittwoch, 16. Dezember 2020

Hart, aber großpratzig - am 14.12.2020

Am Montag, dem 14. Dezember 2020, ging es in Hart, aber fair unter anderem um die Frage, weshalb wir in der EU hinter Großbritannien und den Vereinigten Staaten hinterherhinken - wo doch deutsche Wissenschaftler  den Impfstoff entwickelt haben. Warum müssen wir warten?  Und wie kann man das Warten abkürzen?

Ungeduld macht unzivilisiert und unbeweglich. Der Gedanke an den Einsatz der Ellbogen verengt. Frank Plasberg besann sich aufs Abwerten und Anrempeln:

"In Brüssel  (Sitz der Zulassungsbehörde) werden doch keine neuen Versuchsreihen gemacht - sondern man liest Papier. Das heißt, man könnte auch entweder einen Kaffee-Automaten hinschicken, damit man auch nachts noch etwas lesen kann, oder beim Lesen helfen". 

Man liest Papier. Diese unfreundliche Bemerkung adressierte Frank Plasberg an Susanne Valerie Herold, die Infektiologin, Oberärztin und Professorin aus Gießen. Was ist schon Wissenschaft? Dagegen küsste Frank Plasberg auf robuste Weise dem niedersächsischen Ministerpräsidenten die Füße:

"Herr Weil, Sie gelten als ebenso zupackender wie kluger Ministerpräsident - ja, das ist jetzt eine Rampe", räumte der WDR-Journalist generös ein und ging ihn an, "könnten Sie mal aus dem Nähkästchen plaudern..." Das tat der Ministerpräsident gern; denn er war sich mit dem TV-Mann einig. Tatsächlich, sagte er, versuchen Kanzlerin und Gesundheitsminister das Zulassungsverfahren  in Brüssel zu beschleunigen. Eine Männer-Koalition fand sich zusammen, die die Medizinerin in die Defensive bugsierte: Frank Plasberg, Stephan-Peter Weil und Werner Bartens von der Süddeutschen Zeitung....drei Männer gegen eine Frau, der kein Raum gelassen wurde, das Zulassungsverfahren eines Impfstoffs zu erläutern. Ein jugendliches Männer-Vergnügen.... Der harte, aber faire Moderator vergaß das Ideal seiner Sendung. Aufwendige wissenschaftliche Studien lassen sich geschwind durchsehen, lautete seine Wissenschafts-feindliche Botschaft. Wahrscheinlich hat Herr Plasberg noch nie eine anspruchsvolle Forschungsarbeit vorgelegt. Der Fernseh-Mann dachte zu sehr ans Fernsehen. 

 

Montag, 14. Dezember 2020

Hart, härter, halbherzig - unser pandemisches Sich-Zieren

Es fängt mit der Formel an: leichter oder harter Lockdown, härterer Lockdown. Wer diese Formel ausspricht, dem sieht man das Zieren und schlechte Gewissen an: was er oder sie einem zumutet...und wie er oder sie sich scheut. Das Durchsetzen eines Lockdowns gefällt ihm oder ihr nicht. Mich erinnert das an das gut 40 Jahre alte Zögern & Zieren angesichts der mächtigen Empörung über die Gurt- und Anlegepflicht. Nun ist, keine Frage, der Eingriff in Sachen pandemischer Begrenzung eine andere Geschichte: lähmend und niederdrückend.

Dann die Vokabel Lockdown. Wer hat sie bei uns eingeführt ? In den U.S.A. wird sie seit dem 14.12.2012 gebraucht, als sich die Schüler in ihrer Schule einschlossen, um sich vor der Mord-Absicht eines schwer bewaffneten Mannes zu schützen. Kann sein, dass die Vokabel schon früher benutzt wurde; ich habe nur grob im Archiv der New York Times nachgeschaut. Der Lockdown ist eine zum shutdown analoge Wortschöpfung. Der shutdown bedeutet: das komplette Abschließen eines Hauses, wenn man in Ferien fährt, oder das Herunterfahren einer industriellen Anlage, die dann nix mehr herstellt. Die Franzosen sagen übrigens: confinement - da ist das Einklicken eines Schlosses nicht mehr zu hören.

Gehen wir weiter. Das Reden von der Kontakt-Beschränkung ist ungenau. Kontakte sind nicht das die Infektion treibende Problem, sondern die Qualität der ihnen zugrunde liegenden Beziehungen, die im Umgang mit der Pandemie anders gestaltet werden müssen: sie müssen verfremdet werden im Dienste des Verdachts dem Bekannten oder Vertrauten gegenüber... was bedeutet: man muss sich anstrengen, sich einen Ruck geben, sich überwinden, dem oder der Anderen zu signalisieren: ich will mich vor Dir schützen, indem ich eine Distanz einnehme und meine Maske hervorkrame. Es geht um Loyalität und Verpflichtungen von Beziehungen. Wieso sagt das keiner?

Gestern, in der Rede-Runde Anne Will, am 13.12.2020, hörte ich unseren (nordrhein-westfälischen) Ministerpräsidenten Armin Laschet zum ersten Mal von einer Begegnung sprechen. Begegnung! Wunderbar! Sie ist das richtige Wort, das die Beziehungsarbeit betont. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass vor allem in den privaten Kontexten die Infektionen angetrieben werden. 

Das Infektionsgeschehen ist diffus, heißt es. Diffus ist lateinischer Herkunft und bedeutet: ausgebreitet. Diffus ist eine unklare Beschreibung: man weiß es nicht besser. Diffus ist Ausdruck der Not, dass ein Viertel der Infektionsketten nur nachverfolgt werden konnte - wahrscheinlich sind es heute (am 14.12.2020) noch weniger. Die Unkenntnis ist also enorm. Sie diffus zu nennen, ist nett. Früher, in den 50er oder 60er Jahren, wurde die Unkenntnis mit der Formel (hochherrschaftlich) überspielt: da bin ich überfragt. Weshalb die Physikerin - tatsächlich, eine Physikerin - Viola Priesemann seit dem Sommer x-mal empfohlen hat, mit einer weiteren Beziehungseinschränkung die Infektionszahlen so weit zu drücken, dass sie: künftig nachverfolgt werden können. Das ist ihr nüchterner Sinn (den man nicht rührselig zu beschwören braucht): zu wissen, wo die Infektionen stattfanden, so dass die grobe, undifferenzierte Intervention des so schön klingenden, aber sehr weitreichenden Lockdowns unnötig ist. 

Weshalb ist das so schwer, unserer Öffentlichkeit mitzuteilen, so dass es (fast) allen einleuchtet? Die Antwort kann man sich am Gedöns um die Anlegepflicht klarmachen. Sie war eine Einschränkung des Vergnügens am seligen Chauffieren des eigenen Automobils. Einschränkungen durchzusetzen ist schwierig. Da können wir alle ein lebenslanges Lied von singen. Wer lässt sich schon gern etwas sagen? Weshalb sich die bundesdeutschen Regierungen bislang nicht getraut haben, eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen durchzusetzen. Angela Merkel, die ja immer im Wahlkampf ist, wie sie mehrfach sagte, scheut sich deshalb enorm; weshalb sie jetzt mit ihrer ganze Armlänge rudert und beteuert, wie wichtig diese in Zeiten der Covid-Pandemie  notwendige Beziehungseinschränkung ist. Während Viola Priesemann unter ihren Wiederholungen in dieser oder jener Rede-Runde ächzt und sich, wie man so schön sagt, den Mund fusselig redet. Man kann nur hoffen, dass ihr dieses Mal wirklich zugehört wird. 


(Überarbeitung: 17.12.2020)

     

Freitag, 11. Dezember 2020

Sofort! Sofort! Sofort!

Die Redaktion der Tagesthemen ist im allgemeinen gut eingestimmt auf die affektiven Bewegungen der Öffentlichen Diskussion, weshalb ich sie (fast) regelmäßig abends einschalte. Gestern, am 10.12.2020, begannen sie mit einem Bericht über die alarmierende Überlastung einer Intensivstation  der Berliner Charité mit der Versorgung sehr gefährdeter, an Covid 19-erkrankter Patienten.  Heyo Kroemer, der Chefarzt der Abteilung, war von Caren Miosga um eine Auskunft gebeten worden. "Wir sind an der Grenze des Machbaren", sagte er, "insofern ist aus unserer Sicht (der Leopoldina-Gruppe) jeder Tag, an dem wir nicht aktiv werden, ein Tag, der erheblich zu der Problematik beiträgt. Ich hatte gesagt, sie ist beherrschbar, aber sie ist an der Grenze der Beherrschbarkeit". Caren Miosga: "Es wäre also gut, das Leben vor Weihnachten noch weiter runter zu fahren?" - "Ich würde es nicht mit dem Wort gut verbinden", antwortet Heyo Kroemer, "es ist meines Erachtens unbedingt notwendig zu reagieren...." Mit dem Hinweis auf den kommenden Sonntag, an dem die Regierungsspitzen sich erneut abstimmen wollen, und dem Dank an ihn, beendete Caren Miosga den Austausch.

Warum sagten sagen beide nicht: Sofort! Sofort! Sofort!?? Christian Drosten wurde in seinem Dienstags-Podcast deutlich: Es gebe derzeit eine Stimmung in der Öffentlichkeit, vor der er und seine Kolleginnen und Kollegen in Deckung gehen möchten, weil sie sich nicht mehr richtig zu sagen trauten, was ist; auch er hoffe, dass die  aversiv gestimmte Öffentlichkeit nach seinem Podcast nicht wieder über ihn herfällt....Das Wort sofort ging Heyo Kroemer nicht über die Lippen. Und Caren Miosga sprach nicht für ihn die Dinglichkeit des Sofort! aus.  

Die falsche Zurückhaltung der A.R.D.  trägt zur Klärung nicht bei. Die unsystematische Konfrontation sachunkundigen, aber polemischen Getöses in Kurzbefragungen der Tagesschau oder in  den wöchentlichen Rederunden, die Wahrhaftigkeit versprechen, aber mit Krawall sympathisieren, helfen wenig.  Beschwichtigungen mit falschen Versprechungen und unrealistischen Hoffnungen sind (politisch) kostspielig. Die großmütterlichen Appelle, garniert mit einer lauen, flauen Werbung für eine schlecht verstandene Wissenschaftlichkeit sprechen die Not der Hilflosigkeit unserer Kanzlerin aus, den auf das Wohl des deutschen Volkes geleisteten Eid nicht mehr richtig erfüllen zu können; sie hängt fest in dem Netz ihrer Verpflichtungen, die Machtverhältnisse zu erhalten, was  es ihr schwer macht, uns den sprichwörtlichen reinen Wein einzuschenken: Die Normalität kehrt nicht wieder; die Impfung ist ein riesiges Projekt und Experiment; sie wird Jahre brauchen; die Folgen der Pandemie sind immens; exorbitant sind die nationalen wie internationalen Folgekosten der Erderwärmung.



 

Freitag, 4. Dezember 2020

Wer hat Angst vor der AhhEffDee? Caren Miosgas Lähmung in den Tagesthemen am 26.11.2020, als sie Alice Weidel zu konfrontieren versuchte

Alice Weidel, Fraktionsvorsitzende der Patei, die nicht weiß was sie will,  ist die Politikerin der schrillen Empörung über unsere undemokratischen Verhältnisse  - mit diesem Passepartout-Vorwurf überrascht sie hier & da ihr Publikum und macht es mal kirre, mal sprachlos, mal wütend. Am 22.11.2020 beklagte sie sich im Bundestag über ihre Rolle, nur Zaungast gewesen und von der Kungelrunde der Regierung ausgeschlossen worden zu sein. Das war ein hübscher Vorwurf aus sicherer Entfernung.  Die Redaktion der Tagesthemen präsentierte am Abend den parlamentarischen Beitrag von Alice Weigel und ließ Caren Miosga sie fragen:

"Was würden Sie tun, um noch mehr Tote und überlastete Kliniken zu verhindern?"

(Ja, dachte ich, eine präzise Frage. Was würde Alice Weidel tun?  Ich war gespannt.)

Alice Weidel antwortete teigig:

"Ja, da haben Sie schon recht". (Womit?) "Es sind schwierige Abwägungsfragen, die wir uns stellen müssen... und es geht vor allen Dingen....die Risikogruppen zu schützen. Und - wir halten - und daraus haben wir nie ein Geheimnis gemacht  -   den Lockdown oder die Methodik des Lockdowns für völlig falsch. Sie legen die Wirtschaft lahm. Sie bestrafen die Gastronomie, den Einzelhandel - also eigentlich auch die ... die Wirtschaftszweige, die alles richtig gemacht haben, die nicht wenig investiert haben, um Hygienekonzepte durchzusetzen - und gerade die Leute, obwohl sie alles richtig gemacht haben, werden abgestraft...."

Caren Miosga sprach in ihren Satz hinein und lenkte dagegen:

"... es ist ja in Deutschland kein totaler  Lockdown - und wir sehen ja, was in anderen Ländern passiert, in denen der Staat sich deutlicher zurückhält oder auch zu spät reagiert wie in den U.S.A. Da gibt es jetzt mehr als 250.000 Tote. Glauben Sie, dass so ein Staat seiner Verantwortung gerecht wird?"

Alice Weidel: "Sie müssen auf jeden Fall differenzieren. Und wir müssen uns Grundsatzpapiere anschauen "

Halten wir fest. Auf die Frage der Moderatorin, was Alice Weigel tun würde, antwortete Alice Weigel: Sie müssen auf jeden Fall differenzieren und anschauen.

Differenzieren und Anschauen sind nie schlecht. Aber was? Grundsatzpapiere. Damit war sie auf einer anderen Etage - davongelaufen. Schwer für Caren Miosga, Alice Weigel zu erreichen. Caren Miosga verlor bei dieser Art des Nachlaufens ihre Linie,  so dass sie nicht dazu kam, auf eine Antwort ihrer Frage zu bestehen nach dem Muster: "Frau Weigel, Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet". 

Caren Miosga richtete sich auf - als müsste sie den Vorwurf korrigieren und die Politik der Regierung verteidigen. Musste sie das? Nein. Jede aufgeweckte Zuschauerin und jeder aufgeweckte Zuschauer konnte sehen, wie Alice Weigel sich wand und auswich. Leider half Caren Miosga mit ihrem Schlenker zur U.S.-Politik Alice Weigel auf die Beine und brachte sie in die Spur ihrer routinierten Empörung zurück, mit der sie verdecken konnte, wie wenig sie auf der Pfanne hat. Die Hilfsbereitschaft der Moderatorin ist  die Folge ihrer  Scheu vor einem Clinch mit Alice Weigel, die davon lebt, dass sie einschüchtert mit ihrer akademischen Schminke (s. meinen Blog Aufruhr in Thüringen vom 14.2.2020).

     

 

 

Montag, 23. November 2020

It's not funny anymore

"Ein Präsident setzt Prioritäten", titelt heute (am 23.11.2020) auf ihrer ersten Seite die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Darunter das Farbfoto von Donald John Trump in rotem Blouson und mit weißer Kappe mit der bekannten Aufschrift: MAKE AMERICA GREAT AGAIN; er kratzt sich am Hinterkopf. Eine Hügelkuppe verdeckt die untere Hälfte von ihm. Diese Figuration hieß früher auf der Kirmes: die Dame ohne Unterleib. Von dieser blutrünstigen Fantasie spricht die Zeitung nicht. Die Bildunterschrift sagt (u.a.): 

"Während die anderen über die Pandemie sprachen, ging Donald Trump zum Golf. Dort müssen dann die Bälle die sich häufenden Niederlagen vor Gericht ausbaden".

 It's not funny. Der Präsident wütet auf dem Golfplatz. Wütet er dort? Es wäre schön, wäre es so einfach. Eine Meinungsumfrage, zitiert von Susan B. Glasser in The New Yorker vom 20.11.2020, ergab - wie immer valide dieser Befund ist - , dass 77 Prozent der Republikaner annehmen, dass die Präsidentschaftswahl vom Betrug beeinträchtigt wurde und dass Joe Biden nicht gewonen hat.  

Was sagt uns das? Wir beobachten das zähe U.S.-amerikanische Ringen um die (umstrittene oder zerstrittene) demokratische, öffentlich geteilte Wahrheit um unseren zunehmend unwirtlicher werdenden, für unsere expansiven Lebenswünsche zu kleinen Planeten: der Protagonist D.J. Trump des Great ist out. Das Vergnügen und die Lust, die Auseinandersetzung darüber zu diskretieren und zu zerstören,  ist die Hinterlassenschaft der Trump-Regierung. Sie trifft auf ausreichende Gegenwehr. Irgendwie bleibt es ein knappes Ringen. Es wird nicht aufhören. Es wird zunehmen. Die Erderwärmung breitet sich aus. Aber zuerst kommt Ende 2020 Weihnachten.




Mittwoch, 18. November 2020

Der arme, kleine Donald John T. - oh, wie schön ist es, ihn aus der Entfernung (Frankfurt - Washington) zu necken (Lektüre eines Journalismus - Beobachtung der Beobachter 97)

 Sei nicht so gekränkt, stell dich nicht so an, ist eine unserer beliebten sadistischen Formeln, jemanden, der sich verletzt fühlt, klein zu machen. Jetzt - es ist ein paar Tage her - hat Majid Sattar, der U.S.-Korrespondent der F.A.Z. (16.11.2020, S. 3) Donald John Trump als einen gekränkten Mann bezeichnet. Klar, man konnte ihn nicht für voll nehmen, musste ihn aber für voll nehmen. Das in unserer Öffentlichkeit gehandelte Bild schwankte zwischen Unterschätzung und Überschätzung - sollte man ihn wie einen Schüler zurecht weisen (nur über unsere Werte!) oder ihm die Füße küssen (ich sitze gern neben Ihnen!)? Jetzt macht Majid Sattar sich über ihn lustig. 

Den eindrucksvollsten Text, den ich kenne, über die mörderische Wirkung einer massiven Kränkung hat Heinrich von Kleist verfasst: Michael Kohlhaas. Man muss also, das bringt einem Heinrich von Kleist bei, auf der Hut sein. Das gibt Majid Sattar auch zu verstehen. Gleichzeitig beruhigt er:

"Der Präsident wandert auf schmalem Grat. Er weiß, dass er mit seinem Gerede über Wahlbetrug nicht weit gekommen ist. Erst am Freitag hatte er mehrere Niederlagen vor Gericht kassiert, wo Klagen seiner Anwälte entweder abgewiesen oder zurückgezogen worden waren. Mit den Republikanern im Kongress spielt er Mikado: Wer zuckt zuerst?"

Weiß er, dass er nicht weit gekommen ist? Dass er nur redet? Und spielt er mit den gewählten Vertretern seiner Partei? Sicher, er ist, könnte man salopp sagen, vor den Koffer gelaufen. Aber hindert ihn das am Weiterlaufen? Nein. Der Aufprall war nicht hart genug. Außerdem hat er noch genügend Leute, die ihm die Wunden lecken und anfeuern: Es geht noch! Und ist er in einer Verfassung des Spielens? Schön wär's ja. Das würde bedeuten: er ist zu erreichen. Aber offenbar rast er im Weißen Haus. Hält ihn seine Regierung zurück? Die letzten Beschwichtigungsversuche haben ihn nicht beruhigt. Schwer zu sagen. Man müsste ihn sehen können. The Trump Presidency nearly destroyed the United States, schrieb Jill Lepore für die Ausgabe des The New Yorker am 23.11.2020, vorveröffentlicht am 16.11.2020.  Nearly. Gegenwärtig räumt der U.S.-Präsident seinen Schreibtisch leer. Wir werden sehen.  

(Nachtrag: 19.11.2020. Das Spiel geht weiter titelt Majid Sattar seinen aktuellen Text über die destruktiven, gescheiterten Manöver des U.S.-Präsidenten. Er spielt nicht. Er versucht, mit den rechtsstaatlichen Mitteln eine demokratische Institution gravierend zu diskretieren; der Zerstörungsversuch ist gestattet, aber zynisch und korrupt. Zum Glück gibt es genügend an der Demokratie Interessierte, die einen klaren Kopf behalten. Allerdings allerdings - Max Boot von der Washington Post schreibt am 18.11.2020: Trump is testing democracy. Nine out of 10 Senior elected Republicans are failing).  

 

(Überarbeitung: 20.11.2020) 


Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident rauft sich die Haare - Armin Laschets offener Brief am 2.11.2020

Wenn das öffentlich-rechtliche Fernsehen nicht ausreicht, wenn ein in vielen Zeitungen des Bundeslandes abgedruckter, vom Ministerpräsidenten an uns adressierter und unterschriebener Brief mit einem Foto am aufgeräumten (leeren) Schreibtisch hinzukommt - muss es ernst sein. Armin Laschet schreibt:

"Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

vor uns liegen schwierige Wochen. Im Kampf gegen die zweite Welle der Corona-Pandemie ist dieser November der Monat der Entscheidung.

Wir haben Maßnahmen und Regeln beschlossen, die das Leben in Deutschland und in Nordrhein-Westfalen tiefgreifend verändern. Mir ist bewusst, dass die Beschränkungen für viele Menschen eine große Belastung darstellen und zu persönlichen und wirtschaftlichen Härten führen werden.

Deshalb brauchen wir in diesen Tagen vor allem eines: Solidarität. Mit den Alten und Kranken in unserer Mitte, für die der Virus eine tödliche Bedrohung ist. Mit den Pflegekräften sowie den Ärztinnen und Ärzten, die täglich an ihre Grenzen gehen müssen. Mit den vielen Gastronomen, Kulturschaffenden und anderen Selbstständigen, die sich in diesen Tagen um ihre wirtschaftliche Existenz sorgen.

Unser Ziel sollten wir dabei nie aus den Augen verlieren: Wir machen all das, um die Gesundheit der Verwundbarsten zu schützen. Um Kitas und Schulen offenzuhalten. Um das Wirtschaftsleben aufrechtzuerhalten. Es kommt jetzt wieder auf uns alle an. In der Corona-Pandemie haben wir unser Schicksal selbst in der Hand: Bleiben Sie zu Hause. Indem wir unsere Kontakte reduzieren, haben wir die Chance, den drastischen Anstieg der Infektionen abzubremsen und unser leistungsfähiges Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten.

Treffen Sie so wenig Menschen wie möglich. Und halten Sie sich an die bewährten Regeln: Abstand halten, Hände waschen, Alltagsmaske tragen.

Eines sollten wir uns in dieser schwierigen Zeit des Verzichts aber nicht nehmen lassen: die Hoffnung und die Zuversicht. Wir werden diese Pandemie überstehen - gemeinsam. Unser Land kann das. Möge uns der  Gedanke daran in den kommenden Wochen Kraft und den notwendigen Durchhaltewillen geben.

Passen Sie auf sich und aufenander auf. Bleiben Sie gesund! Ihr A.L. "

Das ist das Armin Laschet-Idiom: bemüht, zuredend, rührselig, sich entschuldigend, unpersönlich. Ich habe ihn vor Augen: wie er sich windet, mogelt, durchwurschtelt; er sagt die Wahrheit, aber er sagt sie nicht deutlich. Waten in lauem Wasser. Die Sätze hat er hier & dort vor Fernseh-Kameras schon gesagt; sie sind nicht neu. Wie lange werden seine Leute an diesem Text gefeilt haben? Nicht lange. Einen eigenen, wirklich persönlichen Ton versuchen sie nicht zu treffen.  Solidarität? Klar. Aber der eigene Egoismus ist nicht unwichtig. Die Angst, die Beunruhigung, die Lähmung, die Enttäuschung, der Ärger, die Unsicherheit, die Not, die Ungewissheit...unsere Existenz ist bedroht. Wie sehr, wissen wir nicht. Ich vermute: wir haben ein unscharfes Bild der Gefahr. Wo sind die Wolken der Aerosole? Überall? Wenn Leute zusammenstehen? Zusammensitzen? Wie eng oder wie weit? Wie ist das mit den Kontakten? Wie sehen die aus? Kann man die unterbrechen wie elektrische Kontakte? Haben wir auch ein unscharfes Bild. Wann  & wie infizieren wir uns?  Wissen wir nicht genau. Empfohlen werden die bewährten Regeln: Distanz, Hygiene, Maske. Das Lüften hat der Ministerpräsident vergessen. 

Solidarität heißt auch: wir müssen unsere Beziehungen anders  gestalten. Kontakte sind das falsche Wort. Beziehungen müssen wir verfremden - voreinander zurückweichen, sich komisch verhalten, unnatürlich. Wir begegnen uns auf den Straßen - wo immer - mit einem Verdacht: trägt der oder die die Last des Virus? Unser Leben ist dramatisch verändert. 

Was sagt uns Armin Laschet nicht? Wie er es macht. Das wollen wir sehen. Zureden ist zu wenig.

Nichts Neues von der Heiligen Kuh - sie wird gemästet und gemästet (92)

Ist das nicht toll? Die Steckdosen werden installiert. Bis 2022, lese ich (F.A.Z. vom 18.11.2020, S. 15), verfügt ein Viertel unserer Tankstellen über die Möglichkeit, nicht nur Sprit, sondern auch Strom abzuzapfen; zwei Jahre später dann die Hälfte der Tankstellen, und noch einmal zwei Jahre weiter drei Viertel. So die Planung. Alles beim Alten: der Staat subventioniert mit unseren knappen Steuern (Pandemie!) für die Autoindustrie deren Infrastruktur. Und die so genannte Innovationsprämie - zur Zeit 9000 Euro Zulage -  für Elektro-willige Käuferinnen & Käufer steht bis 2025 zur Verfügung. 

Na dann: fröhliche Steckdosen  und glückliche Autobauer! Es lebe die Schnapsidee vom Mogeln mit  den Treibhausgasen. Hauptsache, die Bänder bewegen sich und stoßen viele Kutschen  aus. Diese Art von Verschwendung rechnen wir nicht mit. Es wäre natürlich auch einfach gegangen. Langsame Transformation der individuellen Mobilität mit radikalen Geschwindigkeitsbegrenzungen und mit kleinen Fahrzeugen, die wenig fossilen Brennstoff verbrauchen, neben der allmählichen Produktion von Fahrzeugen mit Elektroantrieben. Jetzt soll ein tüchtig forcierter Austausch stattfinden, an dem vor allem die Autoindustrie interessiert ist. Die Sorge um die dramatische Erderwärmung ist die Ausrede fürs Geschäft.

 

Donnerstag, 5. November 2020

Erstaunliche bundesdeutsche Unkenntnisse: der 4. November 2020, ein Tag nach den U.S.-Wahlen

1. Donald John Trump hat nicht seinen Wahlsieg erklärt. In seiner ersten öffentlichen Erklärung beschrieb er die Prozeduren der Auszählungen, aus denen er als wiedergewählter Präsident hervorgehen werde... dann schob er nach: frankly, we did win. Wichtig ist hier das Adverb frankly, das man übersetzen kann mit: offen gesagt. Das aber ist eine persönliche Anmerkung - ein vorsichtiges Zugeständnis zur demokratischen Prozedur der Wahlen und der Auszählungen: eine (kleine) Einschränkung, die signalisiert, dass D.J.T. die Gefahr seiner Katastrophe wittert.

2. Unsere Öffentlichkeit hat sich auf den pathologischen Narzissmus des gegenwärtigen Präsidenten verständigt. Was er bedeutet, ist aber offenbar nicht verstanden worden. Beispiel ist der Kommentar von Berthold Kohler (F.A.Z., 5.11.2020, S.1): Trump bleibt sich treu. Bertold Kohler reibt sich die Augen. Hatte er erwartet, Donald J. Trump könnte sich ändern? Wie soll das gehen? Vorm Spiegel kommt ihm die Einsicht? Nein, Pathologie bleibt Pathologie. Seelische Erkrankungen reparieren sich nicht von selbst. So werden psychische Kontexte verniedlicht und verachtet. Seit einem guten Jahrhundert gibt es dafür die Verfahren der Psychotherapie/Psychoanalyse.  Was pathologischer Narzissmus im täglichen Umgang bedeutet, scheint nicht bekannt zu sein.  Es ist nicht so schwer. Donald John Trump ist eine ehrliche Haut: er tut alles, um seinen Stolz zu schützen. Entweder er redet  (öffentlich) Stuss oder er blufft, irritiert und schüchtert ein. Wahrscheinlich ist er selbst mächtig durcheinander; der Boden unter ihm bröckelt. 

3. Die U.S.A. kennen auch den Rechtsweg. Der Weg zum obersten Verfassungsgericht ist weit. Wie bei uns. Das müsste doch bekannt sein. Wer sofort nach dem obersten Gericht schreit, hat die institutionelle demokratische Verfasstheit seines Landes nicht verstanden. Donald J. Trump müsste sich belehren lassen. Dass gestern in der Wahlberichterstattung einige unserer Journalisten und Journalistinnen den Aufschrei des Präsidenten ernst nahmen, statt aufzulachen, ist erstaunlich und spricht für eine institutionelle Unkenntnis. Die ist allerdings bei uns weit verbreitet - was das gern benutzte Adjektiv formaljuristisch belegt.

4.  Die Crux der Meinungsbefragungen. Die Befragungsinstitute legen in der Öffentlichkeit ihre Karten selten auf den Tisch - es gibt kaum Angaben über die Art der Befragung, über die Fragen, Stichproben, Verrechnungsverfahren. So lassen sich von unsereins die Befunde schwer abschätzen. Manchmal werden die Meßfehler-Bereiche angegeben. Man muss ihnen und denen, die darüber berichten, vertrauen. Die U.S.-Befragungsinstitute haben das Ausmaß der Stimmen für den demokratischen Kandidaten offenbar wieder ordentlich prognostiziert; allerdings deren Einfluss überschätzt. Die prognostische Einschätzung ihrer Bedeutung für das electoral college ist enorm kompliziert. 

Meinungsbefragungen haben eine gewisse Reichweite. Das Problem ist, dass die Befragten nicht auf Anhieb im Moment der Befragung präzise und gut erinnerte und gut bedachte Auskünfte geben können. Das geht nur in ausführlichen, mehrstündigen Befragungen, die Gespräche sind und explorativen Charakter haben. Studien mit diesen qualitativen Verfahren sind aufwendig, teuer und schwierig. Sie sind aber das angemessene Verfahren, um herauszubringen, was die U.S.-Wählerschaft mit dem aktuellen Präsidenten verbindet und was andere Wählerschaften bewegt.     

5. Jörg Schönenborn vom WDR war gestern der glänzend informierte Journalist, der virtuos  und geschliffen die Daten der Meinungsbefragungen mit den Wahlergebnissen verknüpfte und nüchtern die Daten vortrug. Was für ein Kontrast zu seinen aufgeregten Kollegen... ich beruhigte  mich und konnte gut schlafen. Chapeau bas für den Mann aus Köln!

 

(Überarbeitung: 5.11.2020) 

(Nachtrag, 24.11.2020: zu Punkt 4. Alles hängt ab von der Aufrichtigkeit der Befragten. Die zu kontrollieren und abzuschätzen ist äußerst schwer, wenn nicht unmöglich bei den standardisierten, telefonischen, hastigen Befragungen. Die U.S.-Amerikaner haben damit offenbar ein Problem. Ambivalenzen, das Vergnügen an der Zerstörung, die Interviewer vortanzen zu lassen, kommen offenbar nicht ausreichend zur Sprache. Wie sieht das bei uns aus? Schweigen. Im sozialwissenschaftlichen privatissimum wird darüber sicher gesprochen.)

 

 



 

Dienstag, 3. November 2020

"Democrats need not fear" - die Washington Post vom 2. November 2020

 Das schreibt Henry Olson in der Washington Post vom 2.11.2020 in seinem Text My predictions for the 2020 presidential and congressional races. 

Henry Olsen, der den Verlauf der (hinsichtlich der verbesserten demographischen) Daten der Befragungsinstitute rekonstruiert, die durchweg für einen Gewinn des aktuellen Präsidenten unter den notwendigen Margen verblieben sind, ist sich wegen einer Dimension der U.S.-amerikanischen Wählerschaft sicher: ihres common sense wegen. Geprüft wurde bislang von der wählenden Bevölkerung immer wieder die Frage, ob der amtierende Präsident es verdient, wieder gewählt zu werden. Er verdient es nicht, sagen die seit geraumer Zeit stabil gebliebenen Umfragen.

Ein anderes Wählervotum kann man sich auch schlecht vorstellen - es sei denn, die U.S.-Wählerschaft hätte in ihrer Mehrheit ihren Realitätssinn verloren. Man darf sich nicht blenden lassen. Donald J. Trump hat - unabhängig von seinem Persönlichkeitszuschnitt - mit Hilfe seiner Mannschaft und seinen Gefolgsleuten verstanden, dass Lärm eine erfolgreiche Marketing-Strategie ist. Lärm ist schwer zu ertragen - er irritiert, beunruhigt, schüchtert ein und überwältigt. Sich ihm entgegen zu stellen bedarf einer erheblichen Anstrengung. Ich bewundere die Präzision und die Zähigkeit einiger U.S.-amerikanischer Printmedien, die von Beginn an die Leistungsfähigkeit des gegenwärtigen Präsidenten nüchtern eingeschätzt und nicht nachgelassen haben,  dessen erratische und korrupte Politik zu beschreiben. 

Sollte er nicht recht behalten, schreibt Henry Olsen, erleben wir the greatest polling failure in history. Dann müssen wir sehen, wie es weiter geht und was wir machen. 


 

Freitag, 30. Oktober 2020

Angela Merkels pandemischer Dreiklang: "geeignet", "notwendig" und "verhältnismäßig". Wie klingt er?

 Geeignet, notwendig und verhältnismäßig nannte unsere Bundeskanzlerin am 28.10.2020 in ihrer Rede im Bundestag die Politik ihres Managements der Pandemie. Drei Adjektive zur Straffung ihres Arguments gemäß ihrer vertrauten Unlogik des Alternativlosen bot sie auf. Ob die angeordneten Interventionen  zur weitreichenden interaktiven Immobilität die Inzidenzzahlen ausreichend reduzieren, ist offen. Ihre Wirksamkeit und Angemessenheit müssen sich erweisen. Angela Merkel liebt es nicht, ihre komplexen Entscheidungen gut zu begründen. Sie liebt die vertrauensselige Ansprache (Sie kennen mich) und die unscharfe, großmütterliche Ermahnung (Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst), die so handlungsleitend ist wie der Appell Pass auf dich auf! Fahr vorsichtig! Am 2.11.2020 sagte sie: "Ich glaube in der Demokratie an die Kraft der Vernunft und der Verantwortung". Bravo. Ein Satz für die Ansprache zu Festtagen.

Fünfundsiebzig Prozent der Kontakte müssen unterbrochen werden, ist die vage Grundidee der vom 2.11. an geltenden Beschränkungen unserer Lebensbewegungen im Alltag. Wieso Fünfundsiebzig Prozent? Wo kommt diese Zahl her? Sind es die drei Viertel ungeklärter Infektionen? 

Wie kann man menschliche Kontakte unterbrechen? Interaktive Kontakte sind keine elektrischen Kontakte. Unsere Kanzlerin hat offenbar ein technisches Verständnis. Das Problem beginnt mit dem Wort Kontakt. Es hat in unserem Sprachgebrauch seine interaktiven Konnotationen verloren. Das lateinische contactus bedeutet: Berührung, Ansteckung, Einfluss. Das ist eine Palette von Beziehungsformen. Wie werden sie gestaltet und reguliert? Was ist ihre jeweilige Bedeutung? Es gibt unpersönliche, kollegiale, freundschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen unterschiedlicher Qualität und Geschichte. Was und wie viel steht auf dem Spiel, wenn man sich begegnet?  Menschliche Kontakte kann man nicht unterbrechen - man muss sie gestalten. Vermeiden kann man sie auch nicht ohne weiteres - man muss sich zumindest verabreden, sich nicht zu begegnen.

 Wie kriegt man das hin, wenn die Gesichtsmaske aufgesetzt und Distanz gewahrt werden muss? Das Aufsetzen und Zurückweichen sind Scham-besetzt, muss man vermuten; man quält sich, ziert sich, fürchtet, den oder die andere zu kränken, schief angesehen oder verachtet zu werden. Wir leben von und in unseren Beziehungen. Und jetzt sollen wir sie weiter systematisch  (und wahrscheinlich langfristig) verfremden? 

Davon abgesehen: Das Problem ist, dass nur ein gutes Viertel der Infektionen bislang rekonstruiert werden konnte - das heißt, es ist nicht ausreichend bekannt, wie und wo die Leute sich mit dem Covid -19-Virus ansteckten. Man weiß es sehr ungefähr: auf Familienfeiern, Großereignissen, geselligen Anlässen in geschlossenen Räumen, unter bestimmten Arbeitsbedingungen wie in der Fleischfabrik in Rheda-Wiedenbrück. Was ist mit den  anderen Interaktionen  im Alltag? Wie verlaufen da die Wege der Infektionen? Wie verlaufen überhaupt die Wege der Infektionen? Erst wenn wir das genau wissen, können wir klug intervenieren. Umfangreiche, großzügige Forschung dazu wäre nicht schlecht; sie könnte unsere Lebenswirklichkeiten am Laufen halten.

Im Augenblick wissen wir einiges. Die Verbreitung des Virus setzt eine Annäherung und eine Interaktion voraus. Jemand  amtet das Virus aus, ein anderer atmet es ein. Eine Wolke Tröpfchen transportiert ihn vom Wirt zum Wirt. Wie groß muss die Wolke - die Viruslast - sein? Wissen wir nicht. Wie bewegt sie sich? Können wir überhaupt von einer Wolke sprechen? Ist auch unklar. Klar ist: jemand muss einen Verbund von Aerosolen in unsere Richtung befördern. Weshalb Abstand zu wahren eine gute, allerdings grobe Handlungsanweisung ist. Die zweite Handlungsanweisung betrifft die Maske. Sie systematisch in der Öffentlichkeit zu benutzen ist so klug - allerdings nicht so einfach -  wie den Sicherheitsgurt anzulegen. Der Sicherheitsgurt schützt vor den Folgen eines (statistisch) seltenen Autounfalls. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, eine infizierende Viruslast einzuatmen? Das wissen wir noch nicht. Weshalb eine unsichtbare, allgegenwärtige, mehr oder weniger große Bedrohung in unserer öffentlichen Diskussion kursiert und beunruhigt. Christian Drosten hat das mit dem Bild eines Zigarettenrauchers zu präzisieren versucht: langsam füllt sein Qualm den Raum; irgendwann haben die Anwesenden ihn in der Nase und können ihn sehen. Ähnlich konzentriert sich die Viruslast. Deshalb ist der  Raum ein ungünstiger Ort.   

Ob die geeigneten, notwendigen und verhältnismäßigen Interventionen geeignet, notwendig und verhältnismaßig sind, müssen wir sehen. Die Kanzlerin unternimmt ein Experiment - ohne es wirklich deutlich zu sagen. Wenn man unsicher ist, muss man zugeben, dass man experimentiert, um sich schlau zu machen. Offenbar folgen Politiker dem Missverständnis, Zweifel nicht äußern zu dürfen. Die Kanzlerin und ihre Kolleginnen & Kollegen sollten uns für die Ungewissheit des Experiments zu gewinnen und zu überzeugen suchen, die Plausibilität des Experiments erläutern und die Kritik am Experiment erörtern. Schließlich befinden wir uns in einer demokratisch verfassten Gesellschaft und können erwarten, dass wir einbezogen werden.  

Außerdem können wir erwarten, nicht mit rührseligen Trostformeln abgespeist zu werden. Die Wahrheit hilft. Weihnachten wird ein anderes Fest. Die Forschung braucht ihre Zeit. Die nächsten Jahre werden schwierig. Ein happy ending ist nicht zu erwarten. Die Pandemie kriegen wir nicht besiegt. Naturkatastrophen kann man nicht bekämpfen; man kann nur die Folgeschäden reparieren. Die Natur siegt immer. Die Erderwärmung nimmt uns in den Griff. Wir werden zur Kasse gebeten. Mir graust vor der Hitze. Da hilft keine Maske. Kein Rückzug. Wir werden eine gewaltige solidarische nationale wie internationale Anstrengung aufbringen müssen, um unsere Lebensformen (Lebenswünsche und Lebensentwürfe, kulturelle Teilhabe, Konsumieren, Reisen) zu modifizieren. Diese Pandemie kommt vermutlich nicht allein.


(Überarbeitung: 4.11.2020)

Donnerstag, 8. Oktober 2020

Der Bully D.J.T. kriegt, wonach er sich sehnt: mächtig eins auf die Nase

Donald John Trump stolpert vor sich hin. Er wackelt. Erst spottete er lang & breit über die Gefahr der Covid-19 Pandemie. Dann infizierte er sich und dankte kleinlaut vor einer Kamera und einem Mikrophon für die vielen condolences - seine Vokabel -  und erkannte die Gefahr des Virus - ohne ihn chinesisch zu nennen -  an. Dann pries er die Schule des Lebens - sein Wort -  und räumte seine Begriffsstutzigkeit ein. Dann ließ er sich mit Maske in seinem gepanzerten Kasten vor dem Krankenhaus auf & ab chauffieren und kassierte die Zuneigung seiner Wählerinnen und Wähler. Dann wurde er transferiert ins traute Heim, zog auf dem Balkon des Weißen Hauses seine Maske vom Gesicht und streckte den aufgespreizten Roger!-Daumen in die Welt-Öffentlichkeit. Dann setzte er die Ausgleichszahlungen für die in besondere Not geratenen U.S.Bürgerinnen und Bürger bis nach seiner Wiederwahl aus - im Klartext: wenn Ihr was kriegen wollt, müsst Ihr mich wählen. Dumm, dümmer, am dümmsten. Es gibt offenbar immer eine Steigerung. Der Mann folgt weiter den grenzenlosen, rabiaten Impulsen seiner Bedürftigkeit und hofft auf den Hammer, der ihn erlöst.

 

Freitag, 25. September 2020

Let's have some fun - D.J.T. und F.A.Z.

Heute, am 25.9.2020, titelt die F.A.Z. auf ihrer ersten Seite: 

"Trump will sich nicht zu friedlicher Machtübergabe bekennen".

Friedlich ist nett. Es ist eine Lieblingsvokabel deutscher Erziehungspraxis. Unfriedlich ist gar nicht oder selten in unserem Gebrauch; ich weiß nicht, wann ich dieses Wort zum letzten Mal gehört habe. Unfrieden ist geläufig und wird ungern gesehen. Unfrieden, erfahren wir gegenwärtig, ist offenbar der demokratische Normalfall. Weil die U.S.-Verfassung hier & da locker gestrickt ist, wie D.J.T. herausbringt, kann der jetzige Präsident einfach sitzen bleiben. Die Washington Post hat es gerade (24.9.2020) ausgemalt: Am 3.11. liegt Donald Trump vorn. Joe Biden überholt ihn mit den Ergebnissen der Briefwahl. Die Konservativen erheben Einspruch gegen die Briefwahl, dagegen erheben die Demokraten Einspruch. Es geht hin & her.

Schließlich geht die Entscheidung an die Bundesländer. Dort haben die konservativen Gouverneure die Mehrzahl...D.J.T. bleibt im Amt. Die Verfassung hat dagegen nichts einzuwenden. Das wird, sollte es so kommen, ein schreckliches Theater. Ein Aufstand in den U.S.A. Es ist nicht zu erwarten, dass D.J.T. zugunsten eines nationalen Friedens nachgeben wird. Solange er eine Chance sieht oder seine unverfrorenen, abgekochten Juristen ihm offerieren, wird er wüten. Es wird schmutzig. Leider kostet der Spaß einen immensen demokratischen Preis. Die stolze U.S.-Demokratie wird sich erholen müssen. Ob wir Beobachter bleiben können, ist fraglich. Möglich, dass wir uns einmischen müssen.

 


  

Donnerstag, 17. September 2020

ZDF, 15.9.2020 um 20.15 Uhr: "Donald Trump - der unterschätzte Präsident"

Fünfundvierzig Minuten schräger Trost aus Mainz. Eine buchstäblich tolle Sendung mit einem tollen Titel. Sigmar Gabriel tauchte als einziger bundesdeutscher Zeuge auf, der kundtat: erratisch (seine Vokabel) sei die Politik des U.S.-Präsidenten nicht, er rede nicht nur, sondern handele. Wenn das kein Lob war. Die als Zeugen und künftige Wähler des Präsidenten aufgebotenen U.S.-Amerikaner aus den mittleren Bundesländern sehen das ähnlich: Verträge hat er kassiert, neue geschlossen, Abkommen gekündigt, die Wirtschaft beschleunigt, den Supreme Court konservativ besetzt, die Welt irgendwie aufgemischt - er hat, wie das so schön heißt, bis auf die Grenzmauer zu Mexiko, geliefert. Von wegen. Geliefert hat er die demokratische Destruktion und ein psychosoziales Disaster. Davon ist nicht die Rede. Autoren sind: Stefan Wiesen (Wort) und Jürgen Rehberg (Bild). Ihr Dokumentarfilm wirkt wie ein manövrierunfähig gewordenes Boot, in das unglücklicherweise zuviel Wasser hineingeschwappt ist. Das Wasser ist die katastrophale Leugnung der von Donald John Trump getriebenen U.S.-Regierung,  die zu spät realisiert hat, dass eine Pandemie eine Pandemie ist, die Erderwärmung gewaltig zunimmt und Fachleute etwas zu sagen haben. Stefan Wiesen und Jürgen Rehberg wollten offenbar ihr Publikum einstimmen auf die Wiederwahl des U.S.Präsidenten mit dem bekannten Klapser: So schlimm wird's nicht werden.

 An einer  Stelle des Films habe ich aufgemerkt. 2011 gab es eine Veranstaltung, auf der Barack Obama sprach und Donald John Trump anwesend war. Barack Obama ging ihn - wie die U.S.Amerikaner das häufig ziemlich robust tun - mit einem sehr spöttischen Humor an und demütigte ihn zum Vergnügen vieler Anwesenden. Donald Trump, war aus der Entfernung zu beobachten, blieb freundlich und machte, wie wir das sagen: Gute Miene zum bösen Spiel.  Er machte keine Gegen-Bemerkung. Er wehrte sich nicht. Das fand ich erstaunlich.  Auch einem Präsidenten kann man widersprechen, wenn man so adressiert wird. Sollte Donald John Trump, wenn er bei seiner Abwahl im November nicht mehr über Macht und Status seines Amtes verfügt, einfach einknicken, ohne zu wüten, wie es befürchtet wird? Ein Bulldozer ohne Sprit und Schaufel?  Bullies sind ängstlich, muss man wissen; sie erwarten, dass jemand schrecklich über sie herfällt -  weshalb sie einschüchternd auftreten. Wir werden sehen.


(Überarbeitung: 20.9.2020)

   

 

 

 

Donnerstag, 27. August 2020

Hart, aber hilflos: die Redaktion verhebt sich am 24.8.2020 um 21.00 Uhr

 Wahlkampf mit allen Mitteln: Zerbricht Amerika an Donald Trump? war der reißerische Titel der Frank Plasberg-Sendung vom 24.8.2020. Der Titel spielt mit dem Vergnügen an Katastrophenfilmen à la Mark Robson-Films Erdbeben (U.S.A. 1974). Mit anderen Worten: der Titel war nicht ernst gemeint. Wie will man diese hypothetische, enorm weit ausgreifende und weit reichende Frage in einer Rederunde besprechen und klären? Wie zerbricht überhaupt ein Land? War Deutschland 1945 zerbrochen? 1949 wurde es geteilt. 

Vielleicht sollte man den Titel variieren: ARD-Fernsehen mit allen Mitteln. Die Mittel dieser Sendung waren allerdings  bescheiden. Die Redaktion von Hart, aber fair hatte fünf Protagonisten eingeladen, um das Zerbrechen zu diskutieren; ein Protagonist war Pro-Trump, die anderen Naja-Trump bis Anti-Trump. Frank Plasberg dirigierte deren Auftritte. Des Vergnügens wegen begann er mit dem Pro-Protagonisten: mit George Weinberg, Jahrgang 1947, an der RWTH Aachen promovierter Bauingenieur und Sprecher der außerhalb der U.S.A. lebenden Republikaner. Frank Plasberg ging ihn frontal an - jemand muss den ARD-Journalisten gesagt haben, dass die direkte Konfrontation eine effektive journalistische Technik im elektronischen Forum ist, weil man da die Leute leicht in die Tasche stecken kann - und versuchte, ihn wegzukegeln:    

"Was muss man ausschalten können, wenn man Donald Trump wählen wird - Herz oder Verstand?" 

Eine ausgetüftelte, aber rührselige und naive Frage, die George Weinberg die Enge einer Alternative (Herz oder Verstand) aufzwingen wollte. Natürlich ließ er sich nicht zwingen und sprach über Donald Trumps Verdienste in der ersten Phase der Präsidentschaft; die zweite setzte mit dem pandemischen Prozess ein. Frank Plasberg ließ ihm diese Form von Weichzeichnung  durchgehen. Er war offenbar schlecht vorbereitet und erinnerte ihn nicht mit Nachdruck an die erratischen Manöver des Präsidenten der Jahre 2017, 2018 und 2019. 

Als Beispiel für die Technik des U.S.-Präsidenten, Zweifel zu säen, um zu diskreditieren, wurde ein Ausschnitt aus dessen Pressekonferenz eingespielt, in dem Donald Trump von Journalisten befragt worden war, wie er den Text eines Juristen einschätzen würde, der die Rechtmäßigkeit der Kandidatur von Kamala Harris, deren Eltern keine gebürtigen Amerikaner sind, während Kamala Harris in den Vereinigten Staaten geboren wurde, anzweifelte. Donald Trump beantwortete die Frage beschämend ausweichend - zu dieser juristischen Frage könne er, Präsident der Vereinigten Staaten, nichts sagen.

Frank Plasberg fragte George Weinberg, wie er das ausweichende Manöver des Präsidenten fand. George Weinberg hatte an der Antwort seines Präsidenten nichts auszusetzen; es war eben eine juristische Frage, die zu beantworten Donald Trump sich nicht in der Lage sah. Frank Plasberg reagierte spitz; er ging im Studio buchstäblich auf den Pro-Protagonisten zu:

"Sie wissen das ganz genau. Ich schätze Sie so ein - Sie sind intelligent und promoviert - , dass Sie das genau wissen. Wieso leugnen Sie das vor sich selbst?"

Eine treuherzige, flehende Aufforderung, wahrhaftig zu sein. Frank Plasberg machte ihm den Vorwurf, sich in die Tasche zu lügen. Das wiederum wollte  George Weinberg nicht auf sich sitzen lassen; er kam ihm entgegen mit der Unterscheidung zwischen juristischer Fachfrage - zu der er nichts sagen könnte - und eigener Meinung, die er natürlich hätte: seines Wissens ist Kamala Harris' Kandidatur in Ordnung.

So ging es weiter. Der Pro-Protagonist kam durch. Die Antwort auf die Befürchtung des Zerbrechens wurde vorläufig gegeben. Norbert Röttgen und Ansgar Graw sagten: unwahrscheinlich; die demokratischen Institutionen der U.S.A. halten. Eine Katastrophe wurde nicht beschworen. Das Erdbeben bebte nicht.   

 

(Überarbeitung: 28.8.2020)  

 

    

Wer hat Angst vor Donald J. Trump? Über eine schwer zu greifende (alternativlose?) Trump-Lähmung

Tabubruch nannte Majid Sattar von der F.A.Z.  (21.8.2020, S. 3, Nr. 194) Barack Obamas Rede auf dem Parteitag der Demokraten am Mittwoch, dem 19.8.2020. Sattar verstand sie als eine Brandrede, wie er schrieb. Barack Obama hatte am 19.8.2020 Donald John Trump beschrieben:

"For close to four years now, he's shown no interest in putting in the work; no interest in finding common ground; no interest in using the awesome power of his office to help anyone but himself and his friends; no interest in treating the Presidency as anything but one more reality show he can use to get the attention he craves".

Sechs! Setzen! Der Amtsinhaber ist unzureichend, zudem hat er ein schweres Selbstwertproblem - Barack Obama, könnte man sagen, bewegte sich in den bekannten Mustern der nordamerikanischen - nicht der bundesdeutschen -  kritischen Beschreibung von Donald John Trump. So weit - nicht schlecht und nicht verkehrt. David Remnick, Autor der bewegenden Autobiographie von Barack Obama und Chefredakteur der Zeitschrift The New Yorker, glaubte, beim ehemaligen Präsidenten ein gewisses Vergnügen beobachtet zu haben - er sprach, so Remnick, mit einem barely concealed relish (20.8.2020). Obama nahm keine Rücksicht. Sein Vergnügen  -  sollte Remnicks Beobachtung zutreffen -  ist verständlich. Seine Besorgnis auch.  Aber Donald Trump, der gegenwärtige Amtsinhaber, ist nur ein Teil des Problems. Donald Trump verfügt noch immer ausreichend über Mitarbeiter und Berater, die ihn stützen, schützen, informieren und wappnen - die Donald Trump zu Donald Trump machen und ihn Donald Trump sein lassen.  Bod Woodward hat mit seinem Buch Fear eine Erklärung  für diese Art von Unterstützung gegeben. Reicht sie? Wahrscheinlich nicht. Und was ist mit seinen Wählerinnen und Wählern, die ihm folgen? Barack Obama, vermute ich, kennt nicht die Arbeiten des französischen Soziologen Bruno Latour, der 2018 in einem Interview sagte: "Wir sind alle wie Trump" (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13.5.2018, S. 50, Nr. 19).

 Es ist, wie immer, komplizierter. Die (in meiner Wahrnehmung) seit den 60er Jahren manifeste und jetzt mehr & mehr prononcierte, tiefe, nationale wie internationale Unzufriedenheit mit den Lebensverhältnissen in demokratisch verfassten Ländern - deren Ausmaß wir nicht genau kennen - , die Leugnung und der Widerwille gegen dringend notwendige Veränderungen, der globale Verdacht der Korruption, des Zynismus und des Desinteresses staatlicher Institute und gesellschaftlicher Eliten, die Entwertung und Verachtung der Wissenschaft - sind vielleicht die unverstandene Bewegungen enttäuschter Hoffungen auf die demokratischen Versprechen nach Fairness und Gerechtigkeit in unseren Gesellschaften.  

Vor gut zwei Jahren spottete Majid Sattar über die "neue Fachdisziplin" - die "Trump-Psychologie"  (s. meinen Blog vom 23.3.2018 Lektüre einer Form von Journalismus 65). Die europäischen Regierungen rätselten, so Mattar damals, über ihren Umgang mit dem U.S.-Präsidenten; er hatte deren Überlegungen auf die Formel sanft oder robust gebracht. Das war die schlappe Formel eines journalistischen Beobachters ohne Fantasie, der sich in seiner Verachtung des U.S.-Präsidenten sicher wähnte. Sattars nordamerikanische Kollegen hatten nach dessen Wahl präzis prognostiziert, was Barack Obama damals nicht aussprach, um den Start der neuen Präsidentschaft nicht zu kontaminieren. Jetzt scheint Majid Sattar der Spaß vergangen zu sein; Tabubruch und Brandrede lassen eine Ängstlichkeit anklingen. Das ticket to hell, das Charles M. Blow in der New York Times mit der Präsidentschaft von Donald John Trump vermutete, ist möglicherweise noch für eine Weiterfahrt gültig.     

Was dann wird, müssen wir sehen. Wir müssen damit rechnen. Das Trumpsche Klima und der Trumpsche way of politics sind gefährlich:  Wahrheiten gibt es nicht mehr; jede wilde Behauptung, deren Widerlegung Zeit kostet, beansprucht Beachtung;  groteske Zweifel haben Gewicht; Drohungen verfangen. Die politische Perversion der alternativen Fakten und der fake news - die bundesdeutsche Macht-Formel unserer Regierung von der Alternativlosigkeit ist demokratisch kaum besser -  ist eingesickert als eine Art anderer Realität der Irritation, Destabilisierung und Desorientierung: vielleicht hat der Präsident doch recht. Zum Glück hält die Washington Post gegen und dessen gut 20.000 Betrügereien nach.  Trump will die Briefwahl, das neueste Beispiel seiner präsidialen Zerstörungsversuche, verhindern; er lässt offen, ob er das Wahlergebnis im November anerkennt.  Barack Obama unterschätzt  ihn nicht. Er warnt vor der Zerstörung demokratischer Kultur. Donald John Trump lässt die Abrissbirne rotieren. Scherben bringen kein Glück und sind nicht lustig.

(Überarbeitung: 24.11.2020)

Freitag, 14. August 2020

Was haben wir angerichtet?

Gestern im Feuilleton-Buch der F.A.Z. (13.8.2020, S. 9) der Text Dürr, dürrer, am dürrsten. Untertitel: Das Waldsterben der achtziger Jahre war im Vergleich zu dem, was gerade im Westerwald passiert, harmlos - eine Stippvisite  von Uwe Ebbinghaus.

Der Befund ist ordentlich beschrieben:

"Die Reviere kommen mit dem Fällen nicht nach. Ein Blick auf diese Baumleichen, deren Farbe in den letzten Tagen vom Braum zum Rot gewechselt ist, genügt, um zu wissen: Es wird Jahrzehnte dauern, um den Schaden zu beheben. Und es kann noch schlimmer werden. Der Klimawandel ist in der Mitte Deutschlands angekommen".

Es wird noch schlimmer werden. Der Schaden ist nicht zu beheben. 

 Der Schaden ist ein schwaches, tröstliches Wort. Vom Schaden wissen wir: es gibt immer eine Reparatur. Wie nennen wir einen Defekt, der den Normalzustand darstellt? Müssen wir noch finden. Zur Zeit lügen wir uns noch in die Tasche. Das Wort Klimaschutz ist mein Beleg.  Es ist das Wort einer schrecklichen, sogar parlamentarisch legitimierten Illusion. Das Klima können wir nicht schützen. Wir hatten und wir haben es nicht in der Hand. Wir sind Teil der Natur. Wir entkommen ihr nicht. Es ist Zahltag. Wir werden gezwungen, den Preis unserer maßlosen Expansion zu entrichten. Er wird uns nach & nach präsentiert. Die Pandemie ist der Anfang.  

Der Chor der Empörung

Das Geschäft mit der Empörung läuft. Vorgestern oder Vor-Vorgestern, ich bin mir unsicher, legte Ingo Zamparoni, unser öffentlich-rechtlicher Schlaumeier im Dienste seiner (unbekannten) Redaktion, in den Tagesthemen mit einem seiner scheußlich schrillen Anrempler los: Konnten Sie das nicht vorher wissen? - Nein, das konnte der bayrische Ministerpräsident nicht wissen. Er war zu schnell.  Ein einfacher Vorschlag, großzügig und großspurig an die politisch relevante Öffentlichkeit adressiert, erweist sich als eine schwierig zu realisierende Idee. Das wissen wir alle: die Wirklichkeit ist immer komplizierter als man fantasiert. Söders bayrische Variation des Merkelschen Wir schaffen  das ist eben nicht so einfach zu schaffen. Wir haben alle den Fehler gemacht, die Zahl der Tests zu unterschätzen, sagte Andreas Zapf, Präsident des Bayrischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Eine sicherlich zutreffende Auskunft (F.A.Z., 14.8.2020, S. 8) -  eine ehrliche Auskunft, würde ich sagen, nicht verpflastert mit Sätzen zum Einlullen. Das kam, so die Vermutung in der Zeitung für die klugen Köpfe, offenbar nicht gut an: Zapf wurde von Markus Söder ins Innenministerium versetzt. Der bayrische Ministerpräsident selbst entschuldigte sich vor Kameras und Mikrophonen.

Ich warte auf den Moment, an dem  Ingo Zamparoni von einem der Angerempelten ausgelacht wird mit der Antwort: Weil ich es nicht wusste. Vor dem nassforschen Fernseh-Mann gehen so Viele in die Knie und reden sich vor ihm raus - anstatt ihm zu sagen: Sie stellen schlichte Fragen, die unmöglich so einfach zu beantworten sind. Leider will ein Mann wie Markus Söder offenbar gefallen; und außerdem konkurriert er heftig. Dass er unsere Kanzlerin zu kopieren und zu übertreffen beabsichtigt, ist kein gutes Zeichen. 

Der bundesdeutsche Chor der Empörung ist auch kein gutes Zeichen. Wohl ein Beleg für die Unbedarftheit und/oder Unverfrorenheit einiger öffentlicher Berichterstatter - als seien sie noch nie in Kontakt gekommen mit der Komplexität unserer Wirklichkeiten. Sollte ihr Geschäft des Planierens sie blind gemacht haben? 

Hier ein Beleg: Jasper von Altenbockum, der Mann von jener Zeitung für die...Sie wissen schon...der sich auskennt in politischen, psychosozialen Prozessen, hat seinen heutigen Kommentar auf der ersten Seite überschrieben mit "Söders Grenzen". Ha! Er räsonniert: "Es könnte der erste Tag in seiner Amtszeit gewesen sein" - als Markus Söder sich mit einer tiefen Verbeugung entschuldigte - , "an dem ihm Bayern als Heimat tatsächlich groß genug ist". Über wen spricht Jasper von Altenbockum?  


(Überarberitung: 31.8.2020)

 


Montag, 3. August 2020

Die Zukunft unserer pandemischen Gegenwart

Der pandemische Schatten lähmt. Er wird wieder größer. Wir tappen im Hellen durchs Dunkle. Wenn wir die Haustür hinter uns schließen, ist unklar, in welcher Umwelt wir uns bewegen. In einer Wolke von Aerosolen unklaren Ausmasses ? Wer schleudert sie uns entgegen? Wer nicht? Wo und wann fühlen wir uns sicher? 

Das wissen wir nicht mehr.
Aber die wichtigsten Ungewissheiten über unsere pandemisch bedrohte Umwelt sind bekannt. Ich folge Caroline Buckee (The New England Journal of Medicine 2020; 383: 303 - 305): 1. Wir wissen nicht, wo wir uns befinden: die Zahl der Infizierten ist unklar; 2. Die Biologie des Virus ist unklar; 3. Die Wege der Infektionen sind unklar. Weshalb die Modell-Rechnungen, die prognostischen Extrapolationen und abgeleiteten Empfehlungen unscharf und ungenau sind und nur für kurze Zeiträume - im besten Fall - zutreffen. Weshalb die Verhaltensvorschläge grob sind: 1. Masken tragen; 2. distanzierte Interaktionen ; 3. Gruppen vermeiden.

Was tun?
Die erste Regel im Augenblick: dazu beitragen, die Infektionszahlen niedrig zu halten. Das ist eine vergleichsweise einfache, allerdings lästige Übung. Weitaus schwieriger ist die Inventur unserer Lebensformen und unserer Lebensgewissheiten. Die gegenwärtige Pandemie lehrt uns: die westlichen, demokratisch legitimierten Gesellschaften haben sich darauf verständigt - in einem hochkomplizierten Prozess gemeinsamen Fantasierens eigener Großartigkeit und Überlegenheit - , gegen die sieben Jahrzehnte alten Warnungen vor den sozialen Kosten und Grenzen des Wachstums und vor dem Ende der Natur buchstäblich über unsere Verhältnisse zu leben mit den bekannten Folgen einer weitreichenden, unfairen Ausbeutung und Destabilisierung unserer globalen Lebensverhältnisse. Im Augenblick haben wir kein Wort für das, was passiert. Die Vokabel Vollbremsung (unseres psychosozialen Lebens) tröstet mit der Aussicht auf das Ende des Bremswegs und spielt mit der Illusion, wir hätten das Steuer in der Hand. Das hatten wir noch nie. "Nous ne sommes jamais sortis de l'évolution", sagte Pascal Picq, Paläontologe und Anthropologe, im Interview mit Édouard Reis  (Ouest-France, 11/12.7.2020, S. 6) - wir sind abhängig von den natürlichen Prozessen.  Nach Corona wird es nicht geben. Gasgeben wird nicht helfen. Wir müssen andere Lebensformen finden.

Donnerstag, 9. Juli 2020

Die Maske und das Maulen

Die Maskenpflicht - was für ein Wort! - erinnert mich an die Gurtpflicht. Die war Mitte der 70er Jahre mächtig umstritten; in den Umfragen war die Mehrheit dagegen. Der  Gurt tauchte als Sicherheitsgurt in der öffentlichen Diskussion auf; die Autohersteller boten zuerst den Bauchgurt, dann den Dreipunkte-Gurt, schließlich den automatischen Gurt auf, den man  zu sich heranziehen und sich umlegen konnte - anders als im Flugzeug, in dem noch immer der umständliche Bauchgurt bereit liegt. Wie so oft, sind die gut gemeinten Wort-Schöpfungen ungenau. Mit der Sicherheit des Autofahrens hat der Gurt zuerst nichts zu tun: er mildert die Unfallfolgen erheblich und verhindert, dass die Insassen gegen die Windschutzscheibe knallen, in dem Glas stecken bleiben oder durchs Glas herausgeschossen werden. Autofahren ist gefährlich; auch wenn Unfälle statistisch gesehen relativ selten sind, muss man dennoch mit ihnen rechnen und sich vor den Folgen schützen. Das war die  technische, einfache Botschaft des Sicherheitsgurtes. Aber was für Ingenieure evident ist, muß noch längst nicht jedem einleuchten. Die Ingenieure ahnten nicht, dass der Gurt in die Lebensform des Autofahrens masssiv eingreift und sie ernüchtert mit der Evokation der Möglichkeit eines Unfalls. Man lässt sich ungern reinreden. Das Wort vom Sicherheitsgurt beruhigte nicht. Es gab die öffentliche Diskussion einer drastischen  Befürchtung, sich an den Autositz zu fesseln,  im verunglückten Auto festzustecken und möglichweise zu verbrennen. So wurde das Anlegen des Gurts mit dem Verbum anschnallen belegt: Teufelszeug. Anschnallen sagt genug. Wer will das schon.

Der Gesetzgeber scheute. Am 1.1.1976 wurde die Anlegepflicht gesetzlich verordnet. Wer ihr nicht folgte, musste kein Bußgeld aufbringen. Erst Anfang der 80er Jahre wurde ein Bußgeld von DM 40,00 festgelegt. Das half. Der Aufschrei klang ab. Die Quoten des Anlegens stiegen auf ein hohes Niveau. Die Folgeschäden von Unfällen nahmen ab; die Zahl der tödlichen Unfälle ging deutlich zurück.

Nun zur heutigen Maske als Mittel, sich vor der pandemischen Infektion zu schützen. Sie ist nicht (mehr) sonderlich umstritten. Die meisten finden sie - Umfragen zu Folge - vernünftig.  Sie ist wiederum ein Eingriff in unsere Lebensformen. Sie erinnert daran, dass wir unser Leben nicht ganz in der Hand haben -  dass wir uns jetzt, wenn wir uns zu nahe kommen,  mit Covid-19 infizieren können. Dass wir uns jetzt einschränken müssen.

Die Maske ist lästig. Man muss sie bereit halten. Sie stört beim Sprechen. Sie wärmt einen auf. Man muss seine Finger kontrollieren. So wird herumgemault. In den Tagesthemen wird das Pro & Contra vorgeführt. Dabei gibt es kein Pro & Contra. Ein Auto kann man ohne Sicherheitsgurte nicht kaufen. Der angelsächsische Stolz über die demokratische Verfasstheit der Gesellschaft lautet: It's a free country. Die Pandemie - was der Prozess der Erderwärmung bislang nicht geschafft hat - lehrt die Ernüchterung  unserer demokratischen Illusion. Die Freiheit ist begrenzt. Unser Grundgesetz sagt dazu (Artikel 2, Absatz 2): "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt". Dieser noble Satz, Ende der 40er Jahre formuliert, hatte verständlicherweise das erbarmungslose Ausreizen der balancierenden Kräfte unserer natürlichen Systeme nicht im Blick. Pandemien werden uns vermutlich noch lange begleiten. Die Covid-19 Pandemie ist, habe ich aufgeschnappt, möglicherweise die Folge der weit verbreiteten Invasion des Geschäfts in die Natur. Sie ist noch eine mit den Mitteln der Forschung erfaßbare Krise. Sie zwingt zur zügigen, gut durchdachten Revision unserer Lebensformen und zur Aufmerksamkeit für die Katastrophen von Armut, Ungleichheit und Erderwärmung. Leider schleppen wir das schwere Gepäck veralteter Konzepte und vertrauter Illusionen vom Wachstum, Konsum, Normalität  weiter mit uns herum. Zum Maulen haben wir keine Zeit. 
 
Überarbeitung: 18.11.2022) 


Mittwoch, 13. Mai 2020

Wenn ein Fachmann Stuss quatscht: "Der Sport weiß mehr als die Virologie"

"Der Sport weiß mehr als die Virologie" lautet die Überschrift des Interviews, das Anno Hecker mit dem Sportmediziner Perikles Wolfgang David Wilhelm Simon für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (am 11.5.2020, S. 28, Nr. 109) führte. Simon ist nicht einverstanden mit den Einschränkungen unserer Lebensradien als grobem  Mittel der Infektionsreduktion. Er findet sie unangemessen und unklug. Darüber kann man natürlich heftig diskutieren.

Perikles Simon weiß, wie man Haken schlägt und davonkommt. Zwei Beispiele:
"Der Sport übt sich in vornehmer Zurückhaltung. Bewegungsmangel ist weltweit für rund neun Prozent der Todesfälle die Hauptursache. Mit mehr als fünf Millionen Toten jedes Jahr ist Bewegungsmangel der Sarg und Covid-19 ein spitzer, medienaffiner Sargnagel. Diesen wollten wir mit einem beherzten Lockdown mächtig lockern".

Was sagt er nun? Das Festhocken wegen der Corona-Pandemie ist tödlich? Wieso ist der Covid-19 ein spitzer, medienaffiner Sargnagel? Nägel sind meistens spitz. Medienaffin? Klar doch: die Wege der Infektion sind schwer zu übersehen und zu kontrollieren. Die Beunruhigung ist enorm. Die öffentliche Diskussion greift das auf - mit besonnenen wie lauten und robusten Strategien des Anti-Geschäfts und des Geschäfts. Ist das nicht verständlich? Das Virus: ein Sargnagel? Die Bilder taumeln. Die Argumente wackeln. Bewegungsmangel ist keine Krankheit, sondern das Produkt unserer Lebensformen. Dazu kursiert ein beschwichtigendes Stichwort: Zivilisationskrankheiten. Meint er das? Wie kommt er auf fünf Millionen Tote? Vielleicht bewegen wir uns auch zuviel? Nicht nur (fantasierend/tagträumend) auf der Couch, sondern auch im Automobil oder im Flugzeug. Jetzt werden wir zur Inventur und Revision unserer Lebensformen gewissermaßen mit besonderem Nachdruck angeregt; seit fünf Jahrzehnten stehen diese Forderungen auf der Tagesordnung. Perikles Simon offeriert kalten Kaffee (ich möglicherweise auch).

Zweites Beispiel:
"Wir mögen das Beste wollen, wenn wir uns neuerdings für virologische Messgrößen begeistern, nur haben wir auch die anderen Menschen noch ausreichend im Blick? Die liberalen Schweden leben noch, und zwar ohne den prognostizierten Zusammenbruch ihres Gesundheitssytems. Verstehen zu wollen, warum dies der Fall ist, mag bessere Handlungsanweise generieren, als auf Spekulation von Virologen und Epidemiologen einzugehen. (....) Vorrangig die Regierungen demokratischer Länder haben aus dem Meer an Zahlen schnell diejenigen gefischt, die als Handlungsgrundlage für Ausnahmezustände herhalten. Das will ich hier nicht kritisieren, denn es mag für die wenigen Menschen, die entscheiden mussten, alternativlos gewesen sein. Weit wichtiger ist, dass wir alle bei dieser Vorgehensweise bleiben möchten".

Er will nicht kritisieren, wie er sagt, aber er ärgert sich mächtig. Worüber? Dass auf einmal die Spekulation von Virologen und Epidemiologen zählt. Wo er doch so viel mehr weiß. Allerdings hat er die Prinzpien von Wissenschaftlichkeit nicht verstanden. Ärgerlich und jammerschade, dass der Journalist von der Zeitung für die klugen Köpfe ihn entwischen ließ.
   

Dienstag, 5. Mai 2020

Der historische Augenblick: Traut sich unsere Regierung, am Dienstag, dem 5.5.2020, der Automobilindustrie zu widersprechen? Nein. Vertagt.

Unsere Bundesregierung trifft heute mit den Vertretern der Automobil-Branche zusammen. Die Branche verlangt ihr Zubrot. Dafür wurde schon reichlich getrommelt (s. mein Blog Tagesthemen am 27.4.2020). Sie hat ein Interesse und eine Idee: wieder Millionen Autos zu bauen. Muss das sein? Bevor Geld ausgegeben wird, muss darüber gestritten werden. Ob sich unsere Bundesregierung traut? Nach fünf Jahrzehnten des Kotaus?  Carl Martin Welcker, Präsident des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagebau, widerspricht - nicht im Sinne der Transformation unseres Systems der Mobilität, sondern im Sinne der Markt-Konkurrenz :

"Wir sollten nicht einzelne Branchen  herauspicken. Der Konsument sollte entscheiden. Und wenn er sich für einen neuen Kühlschrank entscheidet oder eine neue Heizung oder die Abdichtung  eines Fensters, dann hat das eine eben solche Berechtigung wie der Kauf eines Autos" (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.5.2020, S. 15, Nr. 104: Autoprämie spaltet Politik und Wirtschaft).

Von einer Spaltung ist nichts zu lesen. Welcker ist gegen die Exklusivität der vierrädrigen Kutschen. Ob die Leute von der Zeitung Ungemach für ihre Anzeigenkunden fürchten? Wir werden sehen, was unsere Regierung entscheidet.

Sie hat sich vertagt und versprochen, im Juni ein Konzept für alle Branchen vorzulegen. 

Donnerstag, 30. April 2020

Die "Tagesthemen" am 27.4.2020: Matchball für VW. Es spielten auf dem öffentlichen Viereck: Ingo Zamparoni und Herbert Diess

"Welche innovative Idee kommt denn von Ihnen jetzt?" war Ingo Zamparonis erste Frage an Herbert Diess, den Konzernchef von Volkswagen. Kein freundlicher Auftakt. Das Adverb denn ist eine Kränkung. Den damit verbundenen Subtext kennen wir: Was willst du denn, duuu... ? Die Frage lässt einen vor den sprichwörtlichen Koffer laufen. Ingo Zamparoni versuchte, wie im Tennis mit einem Ass-Aufschlag den ersten Punkt zu machen. Welche innovative Idee kommt denn von Ihnen jetzt? heißt übersetzt: Was wollen Sie? Ihnen fällt doch nichts Neues ein. 

Machte Ingo Zamparoni seinen ersten Punkt?

Nein. Der Mann aus Wolfsburg hatte sich vorbereitet; er war gewappnet. Er wußte: dieses Gespräch ist kein Gespräch, sondern Werbung für seinen Konzern. Die Zukunft von Volkswagen ist unsicher. Die Attraktivität des Autos als Statusausweis und als Transportmittel bröselt. "VW strebt an, bis 2025 global führend in der Elektromobilität zu werden", sagte er vollmundig  2019 (s. meinen Blog von 5.3.2020 VW und sein Batterielieferant Samsung). Die Kosten des massiven Betrugs sind noch nicht abgetragen. Die Verfahren stehen noch aus. Die riesigen Investitionen des  Konzerns in die Infrastrukturen der künftigen Produktion, die gewaltige Anstrengung des Ausbaus und der Integration der digitalen Technik in die Praxis des Autofahrens sind angesichts der unklaren (globalen) Marktchancen der elektrisch angetriebenen Modelle und der Veränderungen der Mobilität  wie ein ungedeckter Scheck auf die Zukunft. Der langfristige Einfluss der Corona-Pandemie ist nicht abzusehen. Herbert Diess stand mit schwerem Gepäck vor der Kamera.

Er antwortete: "Ja, ich glaube, dass wir dringend ein Konjunkturprogramm brauchen. Das Automobil bietet sich an. Es hängen viele Arbeitsplätze dran. Wenn Autos verkauft werden, geht die Bestellwelle los und setzen ein ganzes System in Bewegung. Arbeitsplätze beim Handel, beim Hersteller, beim Zulieferer sind gesichert. Dann natürlich die Materialketten. Stahl, Kunststoff und der Maschinenbau bekommt neue Aufträge".

Das Automobil bietet sich an, sagte Herbert Diess. Er gab keine Antwort auf die Frage. Er sagte indirekt: Es bleibt alles beim alten. Er pflegte die Taktik der Untertreibung. So ein Satz Das Automobil bietet sich an, muss man vermuten, fällt einem vor der Kamera bei einem Millionenpublikum nicht ein. Über diesen Satz haben einige Leute intensiv nachgedacht. Der Satz gibt Auskunft über die Strategie der Leute von VW: Keine Forderung stellen! Sich nicht einlassen auf die Existenzsorgen des Konzerns! Sich für eine Rettung anbieten!  Herbert Diess retournierte Ingo Zamparonis Aufschlag. Das Automobil bietet sich an. Dagegen kann doch niemand etwas haben.

Dagegen kam der Mann von den Tagesthemen nicht an. Ingo Zamparoni bekam alle Bälle zurück. Er machte den Versuch, auf einer Forderung von Fahrzeugen mit Klima-freundlichen Antrieben zu bestehen - er sagte nicht, welche. Herbert Diess antwortete mit freundlicher Zustimmung und verwies auf die kommende, wenige Schadstoff ausstoßende Modellstaffel. Das Automobil bietet sich an. Ingo Zamparoni sprach ihn  auf die geplanten Gewinn-Ausschüttungen und auf den Widersinn von Dividenden und staatlicher Unterstützung an. Nun ja, natürlich, so Herbert Diess, geht es auch darum, "das Geld auch zu verteilen. Viel davon geht auch an den Staat zurück".

Hinsichtlich des Kurzarbeitergeldes? Herbert Diess: "Das sind Beiträge, die wir einbezahlt haben, die Mitarbeiter und das Unternehmen, hälftig über 10 Milliarden. Wir haben davon wenig beansprucht. Und ich glaube schon, dass es in solchen Krisenzeiten erlaubt sein muss, auch Kurzarbeitergeld zu beanspruchen". Wer sagt's denn. It's only money. Geld ist genug da. Wir verbrennen Milliarden. Wir beanspruchen Milliarden. Wir haben Anwaltskosten in Milliardenhöhe. Geld spielt keine Rolle. Die Großspurigkeit der deutschen Herren. Leider war Ingo Zamparoni miserabel vorbereitet. Er wandte sich der Aufnahme der Produktion zu. "Ja, wir versuchen, die Krise bestmöglichst zu meistern", so Herbert Diess. "Wir stehen auf der Bremse beim Geldausgeben, bereiten uns auf den Wiederanlauf vor. Aber das ist natürlich auch ein Grund, dass wir sagen: Wir müssen jetzt die Wirtschaft in Bewegung bringen. Und eine Absatzhilfe für Autos würde dabei sehr gut dabei helfen".

Ingo Zamparoni: " Sagt der Konzernchef. Vielen Dank für dieses Gespräch, Herr Diess".
Herbert Diess: "Ich bedanke mich". Das war ein ironisches Ass.

Was sagt uns dieser Gesprächsversuch? Das Automobil bietet sich an war die  mehrfach wiederholte Formel des für Volkswagen unnachgiebig drängenden Konzernchefs. His offer you can't refuse.  Ingo Zamparonis naive Technik der direkten (kränkenden) Konfronation brachte den Konzernchef nicht von seiner Linie ab; lächelnd spielte er mit der Routine des von vielen Trainern gut eingeübten, freundlichen Zustimmens seine Punkte zusammen. Man bekommt eine Idee von der Macht  des Wolfsburger Konzerns.

(Überarbeitung: 1.5.2020)


Mittwoch, 29. April 2020

Covid-19 und die idolisierte und verachtete/gefürchtete Position von Wissenschaft

Wissenschaftlich ist in unserer öffentlichen Diskussion ein Adelsprädikat, Wissenschaftlichkeit ein Fremdwort. Eine wissenschaftliche Studie geht mit ihren Befunden häufig einfach durch, die Qualität ihrer Wissenschaftlichkeit gilt unbesehen. So erhalten beispielsweise Meinungsumfragen enormes Gewicht; mit den durch die  Sonntagsfrage der A.R.D. ermittelten Prozentanteilen der Bundesparteien besetzen die Leute von den Tagesthemen die Agenda der öffentlichen Aufgeregtheit. Die Art und Größe der Stichprobe, die Kennzeichen der Repräsentativität, die Formulierung der einzelnen Fragen, den Typus der Befragung (offen oder standardisiert, Dauer, telefonischer oder direkter Kontakt, Quote der Verweigerung) erfahren wir nicht - eine Chance, deren Wissenschaftlichkeit selbst abschätzen zu können, bekommen wir nicht. Eine Umfrage ist eben eine wissenschaftliche Umfrage.

Seit einigen Jahren beobachte ich den inflationären Gebrauch des Begriffs Theorie. Sie taucht in vielen Kontexten auf und hat viele Konnotationen. Eine Theorie kursiert in Schrumpf-Form als: Gerücht, Behauptung, begründete oder unbegründete Vermutung, Hypothese. Nur nicht als Theorie. Gegenwärtig hat die Verschwörungstheorie Konjunktur. Was ist eine Verschwörungstheorie? Ein beklopptes Wort. Ursprünglich, wenn ich mich richtig erinnere, ironisch gemeint, ist der spöttische Klang verschwunden; jetzt ist es salonfähig geworden. Was verbirgt es? Den mehr oder weniger monströsen Verdacht eines Schlaumeiers. Den aufgeblasenen Testballon eines Intriganten. Die aggressiv aufgeladene Projektion eines verbohrten Übellaunigen nach dem vertrauten Motto: Haltet den Dieb! Wenn der Begriff der Theorie vom kursierenden Sprachgebrauch so planiert wird, leidet das Bild von Wissenschaftlichkeit.

Das konnte man letzten Sonntag (28.4.2020) in der Sendung Anne Will beobachten, als der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet und der Partei-Vorsitzende der Freien Demokraten Christian Lindner über die willkürliche Expertise einiger Virologen und Epidemiologen klagten und damit Auskunft gaben über ihr Missverständnis von Wissenschaftlichkeit und über ihr arrogantes Herrschaftsgebahren über die Wirklichkeit: sie soll einfach und zweifelsfrei sein. Von Komplexität wollten die Herren Laschet und Lindner nichts wissen. Sie sind die Getriebenen bedrängender Interessen. Weshalb sie von Wissenschaftlern  Zuarbeit - sprich: Unterwerfung verlangten , aber nicht Verständnis der Wirklichkeiten. Die im Grundgesetz verbriefte Freiheit der Forschung (Artikel 5) war ihnen zuviel oder zu schwer auszuhalten. Dabei sind die Korrekturen und Revisionen der (plausibel und gut) begründeten Vermutungen und Hypothesen der Epidemiologen und Virologen gerade Ausdruck ihres kontrollierten, konzeptgeleiteten wissenschaftlichen Vorgehens in den verschiedenen Phasen des verunsichernden Nicht-Wissens vom Verlauf des pandemischen Prozesses.

Kann sich ein Laie auch schlau machen? Sie oder er kann. Voraussetzung ist: die Erläuterungen der Fachleute aufnehmen und nach dem Gefühl für Plausibilität und Evidenz abschätzen.  Einfache, grelle Bilder als Übersetzungshilfen für die Komplexität machen mich misstrauisch. Christian Drostens geduldige, ausführliche Erläuterung und Übersetzung der Struktur des Viruses - Beispiel: 30.000 Basen-Paare des Genoms lassen sich auslesen und identifizieren (2. Podcast) - , seine penible, systematische Lektüre der aktuellen, internationalen Forschungsliteratur waren und sind Werbung für sein Fach und Ausweis seines wissenschaftlich begründeten Vorgehens.  Inzwischen liegen die Podcasts des N.D.R. mit Christian Drosten auch transkribiert zugänglich vor. Eine strapaziöse, lohnende Lektüre. Ich empfehle sie als Pflichtlektüre.      


Die Gesichtsmaske und der Sicherheitsgurt

Vor 50 Jahren hatten wir eine ähnlich laute, allerdings nicht so tief beunruhigte Aufgeregtheit der öffentlichen Diskussion. 1970 war das Jahr der gut 19.000 tödlich verunglückten Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer. Die Bundesregierung  unternahm zwei Schritte: die Einführung einer Geschwindigkeitsbegrenzung und die Einführung einer Anlegepflicht von Sicherheitsgurten. Der öffentliche Aufschrei hallte durch die Republik. Er war enorm. Die Geschwindigkeitsbegrenzung auf Landstraßen (100 km/h) wurde gegen Riesen-Getöse durchgesetzt, auf Autobahnen nicht - offenbar für politischen Mut: unmöglich. Die Kompromißlösung war die Empfehlung von 130km/h. Der Sicherheitsgurt war äußert unbeliebt. Eine Minderheit votierte für das Anlegen des Gurtes. Die Mehrheit lehnte es ab. Das Gurtanlegen setzte eine Anstrengung voraus: weil der Gurt vor den gravierenden Folgen eines Unfalls schützen sollte, musste er mit der Überzeugung einer Unfall-Möglichkeit angelegt werden. Mit der Anstrengung, diese Vorstellung aufzubringen, zeigten die Motivstudien zum Anlegen, stieg man damals ungern in sein Fahrzeug - sie ging einem buchstäblich gegen den Strich der Freude am Fahren.

Der Gesetzgeber führte die gesetzliche Anlegepflicht Mitte der 70er Jahre ein; die versäumte Pflicht wurde nicht sanktioniert. Anfang der 80er Jahre wurde ein Bußgeld erhoben; seitdem wird die Anlegepraxis kontrolliert und gegebenenfalls geahndet. Damals setzte sich der Gesetzgeber gegen die Ablehnung der Mehrheit durch. Er hatte die Unfallforschung gewissermaßen auf seiner Seite. Der australische Staat Victoria hatte die wissenschaftliche Vorarbeitet geleistet: der Sicherheitsgurt reduzierte dort für die Autofahrerinnen und Autofahrer äußerst effektiv die Unfallfolgen. Victoria wurde für die westdeutsche Verkehrspolitik zum Vorbild. Das Anlegen wurde bei uns zur Selbstverständlichkeit. Das Tempolimit bleibt dagegen unsere Heilige Kuh, deren Bewegungsspielraum bislang keine Regierung anzutasten wagte.

Jetzt haben wir die Pflicht, in den öffentlichen Räumen der Geschäfte und des Nahverkehrs eine Gesichtsmaske anzulegen. Ihre Schutzfunktion ist umstritten. Die Forschung favorisiert den Gebrauch der Masken. Was wollen wir mehr? Offenbar die Gewissheit des Nicht-Zweifeln-Müssens. Dabei sind wir, wie wir jetzt wieder erfahren, vor Überraschungen nicht sicher: im Leben geht viel daneben. Diese Lebenserfahrung ist trivial. Man muss sich dennoch regelmäßig dran erinnern. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, lautet eine unserer vielleicht abgedroschenen, vergessenen Alltagsweisheiten. Im Flugverkehr  - der im Augenblick allerdings nicht verkehrt -  ist sie noch immer die Regel und hat sich bewährt. Erstaunlich, nicht? Dort war auch das Anlegen des Gurtes keine Frage. Die mütterliche Konnotation der Alltagsweisheit sollte uns nicht bockig machen. Die Covid-19 Pandemie lehrt uns die Vorsicht und die Notwendigkeit, unsere Lebensformen zu überdenken. Wer auf Sicht fährt, wie die Berliner Politiker ihr tastendes Entscheidungs-Tempo hinsichtlich der Pandemie umschreiben, muß langsam fahren und behutsam steuern.


Mittwoch, 22. April 2020

Angela Merkels "Öffnungsdiskussionsorgie" - ihr Aufschrei der Überlastung



Die Covid 19-Pandemie zwingt zur Inventur unserer demokratisch legitimierten Lebensformen, erfordert eine schnelle Abstimmung und Zustimmung zu den staatlich verordneten Interventionen und verlangt ein solidarisches Engagement. Unsere Kanzlerin muss das Paket einführen, erläutern und behaupten. Die Pandemie lässt wenig Zeit. Wer den Clint Eastwood-Film Sully (U.S.A. 2016) kennt, weiß: Flugkapitän Chesley Sullenberger hatte gut 200 Sekunden Zeit, seine Entscheidung der Wasser-Notlandung auf dem Hudson zu treffen, zu prüfen und zu realisieren. Mit seinen Fluggästen hätte er über andere Ideen und Vorschläge schlecht diskutieren können.

Nun ist Angela Merkel nicht Chesley Sullenberger. Sie hat es nicht ganz so eilig. Aber ihren verabredeten Kurs diskutiert, relativiert und sich bedrängt zu sehen - kann sie offenbar schlecht ertragen. So verstehe ich ihre Formel von der Öffnungsdiskussionsorgie (ihrer Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen)  - als ihren (berechtigten)  Aufschrei der Überlastung angesichts der Ungeduld mancher Kolleginnen und Kollegen, das Experiment der Bewegungs-Einschränkungen durchzuhalten und dessen Auswertung abzuwarten. Bislang genügte ihr Hinweis auf die Alternativlosigkeit (die ein Missverständnis der Alternative war) oder auf ihre Kränkbarkeit, um ihre Politik durchzusetzen - aber jetzt sind die Not und die Beunruhigung über die pandemischen Ungewissheiten enorm: äußerst schwer erträglich.  Ihr Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst ist zu wenig - für die Diskussion der Abschätzung und für die Kommunikation der möglichen Vernichtungsspur, die die Pandemie in unserem psychosozialen Gefüge zu hinterlassen droht.

Dienstag, 21. April 2020

Jens Spahn, Jürgen Habermas und Christian Drosten: Kommunikationsformen über Covid-19

Gesundheitsminister Jens Spahn bilanzierte am Freitag, dem 17.4.2020, auf der Pressekonferenz zusammen mit Lothar Wieler vom Robert Koch-Institut:
"Der Ausbruch ist, Stand heute, wieder beherrschbar und beherrschbarer geworden".
Die gute Nachricht: der Infektionsfaktor ist (statistisch) kleiner als eins geworden. Ist die Pandemie deshalb wieder beherrschbar und beherrschbarer geworden? Wohl kaum. Das Verbum beherrschen impliziert das Gefälle eines Machtverhältnisses. Zu einem Virus, der einen natürlichen Prozess unterhält, gibt es kein Machtverhältnis: wenn wir gut ausgerüstet sind, sind wir entweder ausreichend immunisiert oder wir können uns immunisieren (lassen). Soweit sind wir noch lange nicht. Das müsste Jens Spahn wissen. Er steigert das Adjektiv beherrschbar in beherrschbarer. Ich nenne das den kalmierenden Komparativ: die Technik der Beschwichtigung. Jens Spahn glaubt, uns mit einer Illusion einlullen zu müssen. Er steht offenbar unter immensem Druck und versucht, sich mit einem heiklen Manöver zu entlasten.

Jürgen Habermas sagte am 10.4.2020 in der Frankfurter Rundschau (https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/juergen-Habermas-coronavirus; abgegriffen am 13.4.2020, 12:52):
"So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie".
Diese Unsicherheit ist nicht neu. 1985 kam Jürgen Habermas mit dem Suhrkamp-Büchlein Die neue Unübersichtlichkeit heraus. Damit war er nicht weit von heute entfernt. Von Niklas Luhmann stammt die Faustregel: Wissenschaft erzeugt ebenso Wissen wie Nichtwissen. Der Fortschritt schreitet nicht einfach fort. Die Erfahrungswissenschaften erzeugen keine Beton-festen Gewissheiten, sondern vorläufige Annäherungen an die Wahrheiten von Wirklichkeiten.  Normalerweise werden die Grenzen des wissenschaftlich generierten Wissens  verschwiegen. Man muss sich nur die robuste Politik von Wissenschaft vor Augen halten:  Aquisition (von Forschungsgeldern) betreiben, Macht gewinnen, Ungewissheit vertreiben. Wissenschaft, in ein paar Minuten in den Tagesthemen und in anderen, ähnlichen Programm-Sparten des Fernsehen verkündet, soll zum guten Schlaf beitragen.  Das Adverb nie liegt außerhalb der Reichweite seiner Erkenntnismittel; es sollte nicht zum Wortschatz eines Sozialwissenschaftlers gehören - Jürgen Habermas nähert sich dem Trost-Kitsch.

Das Antidot dazu ist  Christian Drosten, den der Radiojournalist Adrian Feuerbacher  und die Radiojournalistinnen Korinna Henning, Katharina Mahrenholz und Anja Martini zu dem N.D.R.-Podcast-Projekt einluden, zur Covid-19-Pandemie virologische Theorien und Forschungspraxen sowie epidemiologische Konzepte ausführlich in einem unaufgeregten, nicht bedrängenden Gesprächsrahmen zu erläutern. Das war ein glänzender Einfall und ein Glücksgriff in einem. Christian Drosten vertritt das Ideal der redlichen und nüchteren Wissenschaftlichkeit; an der Korruption durch den Glamour  der Aufgeregtheit ist er desinteressiert. Das Format des Podcast genügt ihm. Das zehnköpfige Team des Senders unterstützt ihn in seinem Engagement, ein angemessenes, realistisches Bild des Virus und des pandemischen  Prozesses zu zeichnen, und stellt die Texte der Gespräche mit einem Schlagwort-Register zur Verfügung. Inzwischen wurde Christian Drosten mit dem Sonderpreis für herausragende Kommunikation der Wissenschaft in der Covid 19-Pandemie von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Stifterverbandes ausgezeichnet (F.A.Z., 21.4.2020, S. 9). Eine Auszeichnung, die wir feiern sollten. Die Mannschaft der Hamburger Radioleute sollten wir einschließen. Ein Hoch auf alle Beteiligten! 

Freitag, 20. März 2020

Angela Merkel und Covid-19: die Hilflosigkeit des Appellierens

"Ich glaube fest daran", sagte  unsere Kanzlerin in ihrer nationalen Ansprache am 19.3.2020, "dass wir diese Aufgabe bestehen, wenn wirklich alle Bürgerinnen und Bürger sie als ihre Aufgabe begreifen". Der Satz ist Merkelsches Idiom: unscharf, unpersönlich, betulich. Im Klartext: Wir schaffen das, wenn wir uns alle anstrengen.  Ihr Ich glaube fest daran ist eine protestantische Formel. Was ist unsere Aufgabe Genügend Abstand zueinanander  halten - gut zwei Meter - und Schmierinfektionen mit gründlichem Waschen der Hände vermeiden. Was noch? Sagt unsere Kanzlerin nicht. Sie appelliert: "Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst". Und: "Seit dem zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung in unserem Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames, solidarisches Handeln ankommt". Fromme Sätze, die mir nicht helfen.

Eine Demokratie lebt vom unerschütterlichen (auch wenn es schwerfällt) Vertrauen in die  Vernünftigkeit der Mehrheit seiner Bürgerinnen und Bürger, die Lebensinteressen im Blick zu halten. Sie müssen daran nicht erinnert werden. Appelle zu vernünftigem Handeln unterstellen unvernünftiges Handeln. Sei vorsichtig! unterstellt die Risikobereitschaft. Das hört niemand gern. Betüttelt zu werden ist ein Graus. Ein Erwachsener oder eine Erwachsene lässt sich  mit einer besorgten Weitsicht herab und macht einen klein - und bockig. 

Bockigkeit ist ein gutes Zeichen: Jemand wehrt sich; etwas ist noch nicht verstanden. Die Covid-19-Pandemie hat eine unscharfe Gefahrenkontur: das Virus ist im Alltag (wohl im Labor) nicht zu sehen. Es ist weit weg.  Wir sind gewohnt, das, was wir mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen können, für wirklich zu halten. Was wir auf diese Weise identifizieren können, nenne ich: sinnliche Gewissheit. Es gibt aber auch eine abstrakte Gewissheit - die Überzeugung, dass eine plausible, gut hergeleitete oder begründete Hypothese oder Vermutung stimmt. Man nennt das: Evidenzgefühl. 

Wieso wird dann die abstrakte Gewissheit, dass das Covid-19-Virus uns ernstlich bedroht, hier & da (wir wissen es nicht genau) nicht für evident gehalten? Weil, mein erster Eindruck, die Kommunikation der Gefahr uneinheitlich, vielstimmig und unterschiedlich präzis ist und die Qualität der Kommentatorinnen und Kommentatoren verschieden sind. Es gibt, ein Beispiel für die Repräsentanten der Fachleute, Christian Drosten von der Berliner Charité, der glänzend (in seinen täglichen Podcasts beim NDR - ein Bravo auf das Öffentlich-Rechtliche!) ein Bild des Covid 19-Virus  und der Komplexität des wissenschaftlichen Vorgehens vermittelt. Man kann ihm, der das Ideal von Wissenschaftlichkeit gekonnt, skeptisch und skrupulös repräsentiert, nur eine riesige Zuhörerschaft wünschen. Es gibt Alexander Kekulé, den Virologen aus Halle/München, der mit ihm konkurriert, schon einmal nachkartet (bei Anne Will am 15.3.2020) und mit riskanten Bildern hier & da einen  anderen fachfremden Ton anschlägt. Mit anderen Worten: will man jemanden erreichen, muss man integer, diffenziert und an alle adressiert - auch an die jungen bockigen Leute mit den vermeintlich tauben Ohren - kommunizieren (können). Am besten läßt man die Besten ran.


 



Montag, 9. März 2020

Corona-Virus, Klima-Katastrophe und Tempolimit

Es kommt ganz schön dick. Jens Spahn, unser Bundesgesundheitsminister, hat die Gegend, in der ich lebe, zu einem Gebiet deklariert, das man besser meidet. Ein paar hundert Meter weiter von uns entfernt fließt die Rur vobei und droht, wie vor einem Jahr die Ufer zu überschwemmen. Der Regen kommt geschüttet, statt langsam in Schneeflocken verpackt. Das C-Virus grassiert. Die Entschleunigung unser Lebens- und Wirtschaftsformen wird als ein Mittel der ersten (vorläufigen) Bewältigung empfohlen. Können wir sie uns leisten? Halten wir sie aus? Wie dringlich ist unsere Not?

Man könnte sagen: seit den 70er Jahren sind wir mit dieser Frage beschäftigt; seit dieser Zeit wird die Antwort aufgeschoben. Jetzt erfahren wir ganz hautnah: unser gesellschaftliches, psychosoziales System wird bis zum Anschlag mit höchsten Umdrehungen gefahren. Langsamer fahren geht nicht.  Sagen einige Wirtschaftsfachleute. Der Dax fällt. Das sagen sie seit den 70er Jahren. Weshalb wir noch immer kein drastisches Tempolimit (für alle Straßen) haben. Menschen sterben. Drastische Entschleunigung, heißt es, können wir uns nicht leisten. Oder doch? Drastische Entschleunigung heißt auch: Veränderung unserer Lebens- und Bewegungsformen - Rettung von Leben. Die Frage ihrer Dringlichkeit und ihrer Möglichkeit wird gegenwärtig bei uns und woanders - zum Beispiel in Italien -  (wie immer: vorläufig) entschieden.  

Donnerstag, 5. März 2020

VW und sein Batterielieferant Samsung - der liefert zu wenig: nur 50.000 statt 200.00. Mein in der Reihenfolge verrutschter Blog vom April 2019

Samsung, entnehme ich (28.4.2019, S. 21) der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - "VW hadert mit Batterielieferant Samsung" - ,  sollte für 200.00 Autos Batterien liefern; jetzt bringt Samsung nur ein Viertel für VW auf.  Was nun? "Um mittelfristig nicht von den asiatischen Zuliefern für Batteriezellen abhängig zu werden, die derzeit den Markt beherrschen, plant VW den Bau eigener Batteriefabriken in Deutschland", so die Zeitung. Schön und gut. "VW strebt an, bis 2025 global führend in der Elektromobilität zu werden", reportiert die Zeitung ohne Wimpern-Zucken. Hatten wir das nicht neulich - vor ein paar Jahren, als Martin Winterkorn sich in die Brust warf und versprach, mit einer Jahresproduktion von 10 Millionen Fahrzeugen größter Hersteller zu werden (s. meinen Blog vom 19.3.2015: Vertrautes von der Heiligen Kuh)?

Es hat sich wenig verändert: noch immer deutsche, dieses Mal allerdings panische Großmannssucht, noch immer der Tanz um das Kalb des gewaltigen Wachstums, noch immer die Fantasie, Millionen individueller mobiler Einheiten auf den Markt zu werfen ... alter Wein in neuen Schläuchen, sagt man dafür. Jetzt sind es: Batterien. Es sind noch sechs Jahre bis 2025. Wie soll das gehen? Wahrscheinlich weiß das in Wolfsburg niemand. Das sagt natürlich niemand. Aber der VW-Chef verspricht: Wird schon. Er hat einen Riesen-Scheck auf die Zukunft ausgestellt. Und wenn es nicht wird? Ist Herbert Diess in Pension gegangen, Angela Merkel nicht mehr im Amt. Wer bezahlt dann das teure Versprechen? Einmal dürfen Sie raten.

Absichtliche oder unabsichtliche Verachtung? Ein Foto vom Hanauer Staatsakt am 4.3.2020

Heute, am 5.3.2020, macht die Frankfurter Allgemeine Zeitung ihre erste Seite mit einem Foto vom Hanauer Staatsakt zum Gedenken an die Ermordeten mit deren Angehörigen auf. Das Foto zeigt rechts unsere Kanzlerin, die sich einem Angehörigen zuwendet, der das gerahmte Bild eines ermordeten Verwandten ihr entgegenhält und sie anschaut. Neben ihm sitzt vermutlich seine Frau, die zu dem rechts von ihr sitzenden Bundespräsidenten spricht. Das Foto ist mit der Zeile unterlegt:

"Erinnern an die Toten: Kanzlerin Merkel und Bundespräsident Steinmeier mit den Angehörigen eines Opfers".

Ich vermisse die Namen des Paares, das zwischen unserer Kanzlerin und unserem Bundespräsidenten sitzt. Wäre es nicht fair und anständig, auch deren Namen zu nennen, damit sie ihre Identität erhalten? Schwer vorzustellen, dass ihre Namen schwierig zu ermitteln waren. Schwer vorzustellen, dass das Paar, das in der ersten Reihe exponiert sitzt, nicht einverstanden gewesen sein sollte, dass ihre Namen bekannt werden. Schwer,  diese Unterlassung nicht als eine repräsentative Form vertrauter, subtiler Exklusion zu verstehen.

Ich verstehe den Gedenkakt auch als Veranstaltung des schlechten Gewissens - für die jahrzehntelange Dauerkränkung durch Formen subtiler Exklusion und mehr oder weniger expliziter Verachtung, mit der den Bürgerinnen und Bürgern türkischer Herkunft häufig begegnet wurde und wird,  ganz abgesehen von den mörderischen Brandlegungen und Exekutionen seit den 90er Jahren. Eine deutliche Entschuldigung (durch die Repräsentanten unseres Staates) für das die Ermittlungbehörden leitende Vorurteil der Verachtung bei der Fahndung nach den Schwerkriminellen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe steht seit knapp zehn Jahren noch immer aus als eine Anerkennung des enormen Leids der Angehörigen und ihrer schweren Beschämung und Kränkung durch diese Form der Exklusion. Zugleich wäre es Zeit, die idiotische Namensgebung der Schwerkriminellen mit dem Akronym einer ehemaligen Automarke aufzugeben und dem Trio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe einen angemessenen Namen zu geben (s. meine Blogs Wie wirklich sind die Bilder unserer Wirklichkeiten? vom 13.12.2011, Ist Hass ein politisches Argument? vom 7.11.2012 und Hart, aber unfair vom 17.3.2017). Zudem sollte bedacht werden, dass die Rede von den rassistisch motivierten Morden den Mörder aus Hanau, Tobias Rathjen (Leserbrief der F.A.Z. vom 2.3.2020, S. 18),  und damit uns in den bundesdeutschen Blick nimmt, die Ermordeten aber nicht. Mit-Empfinden und Selbst-Mitleid sind schwer zu identifizieren und zu trennen.

Schludrigkeit? Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter 99 )

Beim Frühstück eine Zeitung zu lesen, wenn es einem gut schmeckt, bedeutet die Gefahr, zu einem trägen Leser zu werden. Das fiel mir auf, als ich den langen Riemen über den bayrischen Ministerpräsidenten in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (1.3.2020, S. 3) überflog - der Autor ist Timo Frasch, sein Text ist überschrieben:

"Der Kanzlermacher. Markus Söder kann von Bayern aus eine Menge bewirken. Warum sollte er da nach Berlin gehen?"

Ich las:

"Söders Hang zum Effekt verdeckt, dass er extrem fleißig ist. Er liest viel - und nicht nur das, was er von Amts wegen muss".

Klingt gut: er liest viel.
Wieviel liest er ? Was liest er? Was hat er mit wirklichem Interesse gelesen? Und was hat er behalten? Von welcher Lektüre hat er profitiert?

Er liest viel. Klingt gut, sagt aber nichts. Ein Satz des Bluffs und der Schludrigkeit, vermute ich. Lesen ist eine zeitintensive Tätigkeit. Das Investment in einen unbekannten Text - ein Experiment der Neugier. Wilhelm Salber, mein Professor in Köln, ein Schnell- und Vielleser, sagte einmal, er könnte im Jahr höchstens 15 Bücher lesen. Wahrscheinlich dachte er an eine genaue Lektüre (mit Bleistift zum Exzerpieren). Er liest viel. Beinahe hätte ich's geglaubt.

Es lebe der Markt, aber nicht unbedingt der Patient: die Politik des Totsparens als fragwürdige Vorsorge in Krisenzeiten. Aktueller alter Blog vom November 2012

Manchmal wünsche ich mir, dass ein gelungener Text von den vielen Foren unserer öffentlichen Diskussion wahrgenommen und diskutiert wird. Evelyn Rolls in der SZ auf der Seite Drei veröffentlichten Reportage "Totgespart. Operation gelungen, Patient in Gefahr. Warum gibt es in Krankenhäusern: zu viele Keime und zu wenig Personal? Eine Überlebensgeschichte aus der Berliner Charité" ist ein glänzender Text zur Komplexität unseres Gesundheitssystems, das durch den Versuch, mittels schlichter Ideen betriebswirtschaftlichen Managements Kosten zu sparen, ruiniert zu werden droht. Die Ideen lauten: Verdichten, Beschleunigen, Ent-Kontextualisieren (Parzellieren). Wenn nur eine Nachtschwester in einem Krankenhaus eine Station versorgt (statt zwei oder drei), lastet jede Menge Verantwortung und Arbeit auf ihr; sie muss sie hetzen; zudem darf nichts dazwischen kommen; wenn zwei Patienten gleichzeitig in Not sind, kommt sie in Not. Ent-Kontextualisieren hat Evelyn Roll am Beispiel des Transports einer Patientin oder eines Patienten in deren Bett beschrieben: Nicht die oder der, der oder die die Behandlung übersieht, schiebt das Bett auf eine andere Station, sondern jemand, der nur für diese Arbeit zuständig ist (und Mitarbeiter einer dafür beauftragten Fremdfirma ist) und nur das Bett von dem einen Platz zum anderen Platz schiebt. Wie lange der Patient allein in seinem Bett wartet, interessiert ihn nicht. Das Warten des desorientierten Patienten fällt aus dem Interesse einer Krankenhaus-Behandlung heraus; für die Kosten-Erstattung ist das Warten irrelevant.

Das ist nur ein Beispiel der Dysfunktionalität im Krankenhaus. Sie ist die Folge der Anstrengung, die Kosten zu senken, indem man an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern spart. Totgespart nennt Evelyn Roll das Resultat dieser Strategie. "Wer Glück hat", schreibt sie, "gerät an einen Spitzenmediziner, danach jedoch in den Pflegenotstand".         

Freitag, 28. Februar 2020

Die Erosion der C.D.U.

1999, kurz vor Weihnachten, schob Angela Merkel mit Hilfe ihres in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Textes über die obsolete Abhängigkeit der Union von Helmut Kohl den Kanzler vom Sitz des Parteivorsitzenden. Jetzt, im Februar 2020, wird an ihrer Kanzlerschaft gerüttelt.  Die Konzeptions-arme Kanzlerin hat sich verkalkuliert. Ihre mit viel treuherzigem Tamtam verkündete Trennung ihrer beiden Ämter - der Kanzlerin und der Parteivorsitzenden - und der Aufgabe des zweiten Amtes  war ein verunglückter Schachzug, weil sie die Notwendigkeit der Trennung der beiden Ämter nie richtig verstand und deshalb die Trennung schlecht realisierte - was seltsamerweise die öffentliche Aufregung durchgehen ließ und was sogar als politikwissenschaftliches Klischee kursiert, Regierungsamt und Parteiamt müssten von einem Akteur oder einer Akteurin besetzt sein. Das Klischee passt nicht so recht zum Geist unseres Grundgesetzes von Artikel 21, Absatz 1: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit".

Mitwirken bei der Willensbildung des Volkes ist etwas anderes als die Willensbildung im Zentrum der Regierungsarbeit zu gestalten. Die Differenz ist offenbar in der C.D.U. vergessen worden - was wir nach der Wahl des Ministerpräsidenten in Erfurt beobachten konnten, als Paul Ziemiak, der Sekretär der Partei, der Kanzlerin assistierte und streng auf den (vermeintlich) bindenden Parteitagsbeschluss der Exklusion (s. meinen Blog Aufregung in Thüringen vom 14.2.2020) hinwies, wobei Ziemiak den Artikel 38, Absatz 1, zweiter Satz nicht parat hatte: "Sie - die Abgeordneten des Deutschen Bundestages - sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen".

Zudem ist die Anmaßung der Verschmelzung zweier Ämter die Lizenz zur Korruption:  Politik droht zur Magd der Partei zu werden -  sie droht, vor allem dem Überleben der Partei zu dienen. Das ist jetzt seit zehn Jahren zu beobachten und macht den Schlingerkurs (für den Machterhalt gedachter, aber planloser, nicht durchdachter und nicht ausreichend abgestimmter Interventionen - ein Beispiel: die Transformation unserer Energie-Versorgung) unserer Kanzlerin und ihren Regierungen verständlich. Irgendwann begann die interne Erosion der Union. Sie wurde im vergangenen Jahr allmählich sichtbar und ist jetzt manifest: seit der Wahl des Ministerpräsidenten in Erfurt am 5.2.2020. Annegret Kramp-Karrenbauer, die neue Parteivorsitzende, aber als Verteidigungsministerin weiterhin im Dienst der Kanzlerin, wurde depotenziert und kündigte ihren Rückzug aus dem Partei-Amt und ihren Verzicht auf eine Kanzlerin-Kandidatur an. Zehn Jahre haben die Akteure der Union sich geduckt unter der Fuchtel der (haarsträubenden) Alternativlosigkeit - des erstaunlichen Missverständnisses des Substantivs Alternative - und ihre Auseinandersetzungen vertagt. Der Wettbewerb neuer Partei-Piloten ist ausgerufen. Sie müssen sich ducken und sich gleichzeitig aufrichten, ohne sich zu verrenken. Schwierige Polit-Gymnastik. Hoffentlich bleibt Zeit zum gründlichen Nachdenken.