Dienstag, 22. Mai 2018

Darf ein Nationalspieler, der unsere Nationalhymne nicht mitsingt, beim nächsten Spiel dabei sein? Eine Frage an Ilkay Gündogan und Mesut Özil

Eigentlich nicht. Wer nicht mitmacht, darf nicht mitmachen. Wer sich nicht einfügt, gehört nicht zu uns. Wer hier aus der Reihe tanzt, muss gehen - oder muss zumindest, wie jetzt im Fall des Londoner Fototermins mit Recep Tayyip Erdogan, zu dem sich Ilkay Gündogan und Mesut Özil einfanden, den aber Imre Cam absagte, eine Konsequenz spüren.

Die Empörung, einer unserer öffentlichen Lieblingsaffekte, kursiert. Da fällt es schwer, die Klappe zu halten. Ich kann es auch nicht. Ich bin der Protagonist der Anti-Empörung. Unser Grundgesetz sagt nichts zur Qualität einer Aussage, die vom Recht der freien Meinung geschützt ist. Die Empörung ist ein verführerischer Affekt - (häufig) die selbstgerechte Erlaubnis, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen und sich aufzuspielen. Im Fall unserer Fußballspieler sind wir normalerweise nicht so pingelig - Franz Beckenbauer, der einen Schiedsrichter (Luigi Agnolin) zum psychiatrischen Fall erklärte (29.10.1986), kam damit unbehelligt durch. Die Orte der Stadien für Weltmeisterschaften waren auch nicht so wichtig. Fußball ist doch Fußball. Klar doch. Aber es gibt Unterschiede.

Jetzt folgt die aktuelle Empörung der Empörung vor einem Jahr, als es um die Aufregung der Beteiligung unserer Bürgerinnen und Bürger (mit bundesdeutschen oder türkischen oder beiden Pässen) am türkischen Referendum ging. Das Muster des damaligen Vorwurfs: hier demokratisch leben und dort für undemokratische Verhältnisse votieren - geht nicht! Jetzt kann zudem für die Verweigerung des Mitsingens ein Exempel gefordert werden (Ausschluss von der WM im Juni).

Die Geschichte dieser Empörung ist uralt. In der Bundesrepublik wurde oft über die Enge im Land geklagt. In Deutschland war es auch eng. Die Fremdheit unserer Bürgerinnen und Bürger mit anderen als den uns vertrauten (kulturellen und familiären) Bindungen und deren Expansion in der Republik sind manchmal oder oft - wer weiß es genau? -  schwer erträglich. Der Fototermin in London und die Fußballweltmeisterschaft in Russland liefern uns die Gelegenheit für bundesdeutsche Selbst-Erfahrung (s. meine Blogs Hart, aber unfair und Recep Tayyip Erdogan, das Referendum und die öffentliche Heuchelei vom 17.3. und  21.4.2017).

Dienstag, 15. Mai 2018

Der verdrehte Journalist - Beobachtung der Beobachter(69)

"Der Dieselskandal hat Volkswagen fest im Griff", schreibt Sven Astheimer in seinem Text Skandal ohne Ende (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.5.2018, S. 15, Nr. 110). Nicht nur VW - auch den Journalisten Sven Astheimer. Der Dieselskandal hat Volkswagen fest im Griff - ein Satz der besonderen Art: wieso ist der Dieselskandal das Subjekt - der Akteur - dieses Satzes? Sven Astheimer entschuldigt die Leitung des Wolfsburger Konzerns - der Skandal rüttelt. Dabei ist es doch anders herum: die Leitung des Konzerns hat massiv strafrechtlich betrogen und muss sich verantworten. Müssen wir Mitleid haben?

Sven Astheimer bedauert den neuen Chef Herbert Diess, den die nordamerikanischen Ermittler zu den Verantwortlichen rechnen. "Ausgrechnet Diess", so Astheimer, "der zu seinem Amtsantritt noch Demut versprochen und für einen Neuanfang geworben hatte". Ausgerechnet. Will uns Sven Astheimer weismachen, er sei überrascht? Will er uns weismachen, er könne es nicht glauben?

Ich wünsche den Tag herbei, an dem die journalistische Unschuldsvermutung in dieser Zeitung von diesem Journalisten nicht mehr so langmütig gepflegt wird.     

Montag, 14. Mai 2018

Journalismus-Lektüre - Beobachtung der Beobachter (68): die Trivialisierung der Komplexität

Neulich las ich Winand von Petersdorffs Text Wahrheit scheibchenweise (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.4.2018, S.2). Gemeint war die Mitteilung des kürzlich angeheuerten Beraters Rudy Guliani, dass der U.S.-Präsident seinem Anwalt Michael Cohen den Betrag von $ 130.000,- doch zugesteckt hätte - obgleich Donald Trump bestritten hatte, von dem Geld etwas zu wissen; inzwischen hat Donald Trump - umständlich mit einigen Finten  - zugegeben, den Betrag bezahlt zu haben. Deshalb: Wahrheit scheibchenweise.

Was besagt diese Redeformel? Wer so spricht, behauptet seine Vermutung oder sein Bild von der ganzen Wahrheit, wie wir sagen; sonst könnte er ja nicht sagen, dass sie nach und nach - eben: scheibchenweise - zugestanden wird. Was ist im Fall des U.S.-Präsidenten für Winand von Petersdorff die ganze Wahrheit? Donald Trump lügt und betrügt. 

Das ist nicht neu; das ist seit langem bekannt. Diese Wahrheit hilft nicht. Wir sind nicht in einem Strafverfahren. Wir erleben und erfahren den massiven Angriff auf die demokratisch verfasste Gesellschaft der Vereinigten Staaten:  auf die Zuversicht, sich auf eine Wahrheit verständigen zu können. Diese Zuversicht erodiert seit geraumer Zeit - nicht nur in den U.S.A.,  auch bei uns und in Europa. Man könnte auch sagen: diese für eine demokratisch verfasste Gesllschaft notwendige Übereinkunft, sich auf eine Wahrheit verständigen zu wollen, und die damit verbundene Zuversicht, sich auf eine Wahrheit verständigen zu können, werden seit einiger Zeit mit den Füßen getreten. Die Logik der Geschäftsinteressen dominiert. Gehört das nicht zur gegenwärtigen, unvollständig erfassten und verstandenen Wahrheit?

Montag, 7. Mai 2018

Neues von den betrügerischen Hütern der Heiligen Kuh (65): Alles beim alten

Herbert Diess ist der neue Chef des Volkswagen-Konzerns. Ob seine Sprache neu oder anders ist, kann man prüfen. Wir müssen anständiger werden, forderte er - mit einer Aufzählung ähnlicher Komparative -  in seiner Antrittsrede (F.A.Z. vom 4.5.2018  S. 22, Nr. 103). Anständiger klingt gut - wie ein Eingeständnis vertrauter Unanständigkeit. Davon sprach er allerdings nicht. Anständiger gehört zu einer oft benutzen Sprachfigur, die ich kalmierenden Komperativ genannt habe (Psychologie Heute November 1997): der kalmierende Komperativ ist eine umgekehrte Steigerungsform. Beispiel: um das Adjektiv alt zu vermeiden, wird jemand als älter bezeichnet. Das mildert den Schrecken des Alters. Älter ist die umgekehrte Steigerungsform von jung; die Sequenz der Steigerung lautet: jung, älter, alt. Die Sequenz der Steigerung von anständiger lautet: unanständig, anständiger, anständig.

Hätte Herbert Diess gesagt: wir müssen anständig werden - wäre ich zufrieden. Das wäre ein klares Wort gewesen. Herbert Diess spricht weiterhin, lässt sich aus seiner Rede ableiten, das verlogene VW-Kauderwelsch des Beschwichtigens, Vernebelns und Vertröstens. Die Kultur des Betrugs wird fortgesetzt. Nichts Neues aus Wolfsburg.

    

Journalismus-Lektüre (67) - Beobachtung der Beobachter: Was ist klug, wenn die richterliche Anordnung der Verhaftung gegen einen vorliegt?

Gegen Martin Winterkorn wurde Anklage vor dem Detroiter Gericht erhoben; seine Verhaftung angeordnet.

Was droht Winterkorn?, fragen Corinna Budras, Rainer Hank und Georg Meck in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 6.5.2018 (S. 32).

Martin Winterkorns Verhandlung vor Gericht würde, orakeln sie, von dem "strengen Vorsitzenden Richter Sean Cox" geleitet. Von dem strengen Richter.  Corinna Budras, Rainer Hank und Georg Meck weisen darauf hin, dass für die Verhandlung des Verfahrens Martin Winterkorns Anwesenheit Voraussetzung ist. Sie schreiben:

"Damit ist nicht zu rechnen. Martin Winterkorn hält sich derzeit in Deutschland auf. Das ist auch klüger so. Solange er das Land nicht verlässt, wird er nicht ausgeliefert".

Die Autoren benutzen mit ihrem klüger ebenfalls den kalmierenden Komparativ (s. meinen Blog vom selben Tag). Klüger ist die Steigerungsform von unklug; die Steigerungssequenz lautet: unklug, klüger, klug. Die Autoren beschwichtigen: bleibe im Lande und ernähre dich unredlich! Sie mogeln sich durch ihren Text. Sie pflegen ein seltsam dubioses Rechtsverständnis. "Unbehelligt von der Justiz", bedauern sie den von dem nordamerikanischen Gericht Beschuldigten, "lebt Winterkorn freilich nicht mal in der Heimat.  Gegen ihn wird auch hierzulande eifrig ermittelt". Eifrig? Sind sie unzufrieden mit unseren Ermittlungsbehörden?