Dienstag, 24. Januar 2012

Augen-Reiben

Gestern veröffentlichte die SZ Navid Kermanis Rede, die er im Hamburger Thalia-Theater gehalten hatte, unter dem Titel Vergesst Deutschland. Über Philotas, den wortlosen Terror und die Mitte der Gesellschaft.
Drei Passagen fielen mir auf.
1. "Und selbst wenn Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, wonach es nicht aussieht, am Mittag des 4. Novembers in Panik geraten und sich aus Verzweiflung, Furcht vor dem Gefängnis oder gar Scham spontan umgebracht hätten, so haben sie dennoch subjektiv ein Opfer gebracht, indem sie sich mit letzter Konsequenz für den bewaffneten politischen Kampf entschieden, damit für ein Leben in der Illegalität, für den Bruch mit der eigenen Familie und die Ächtung durch die Gesellschaft, für den Verzicht auf eine bürgerliche Laufbahn und die Unsicherheit einer Existenz im Untergrund, für die permanente Gefahr der Festnahme, der Verletzung oder des Todes".
Woher weiß David Kermani das? Hatte er mit ihnen gesprochen?
Was ist ein bewaffneter politischer Kampf in der Bundesrepublik?
2. Uwe Mundlos entstammt einer gebildeten Familie, schreibt er: "Der Vater von Mundlos auch nach dem Ende der DDR offenbar noch mit Sympathien für den Sozialismus".
Was ist daran so ungewöhnlich? Nichts Neues in Waldhagen, möchte ich mit dem Titel der WDR-Schulfunk-Sendung aus den 50er Jahren antworten. Den nationalsozialistischen Betrieb hielt vor allem die damalige junge akademische Elite am Laufen. S. zum Beispiel Mark Roseman: Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte. Berlin: Propyläen Verlag 2002. Der Originaltitel der Arbeit von Mark Roseman: The Villa, The Lake, The Meeting.
3. "Dass der größte unter allen Bucherfolgen der letzten Jahre ausgerechnet einer Schrift zukam, die die Überlegenheit des Eigenen und die Bedrohung durch das Fremde nicht mehr nur kulturell erklärt wie im Rechtspopulismus, sondern genetisch festschreibt, ist dabei mehr als nur ein Zufall. Es ist ein Menetekel".
Bangemachen gilt nicht. Das Vergnügen am Ressentiment ist  uralt. Das Ressentiment, da sage ich nichts Neues, ist das Produkt eines projizierten Hasses. Der Hass ist das Problem; er muss verstanden werden. Das unmögliche bundesdeutsche Projekt der Vergangenheitsbewältigung enthielt und enthält den Wunsch, sich des Hasses zu entledigen - mit ihm nichts zu tun haben zu wollen. In den 50er Jahren war der antisemitische Hass - verständlicherweise; die bundesdeutsche Öffentlichkeit fürchtete um ihr Ansehen - tabuisiert. Es half nicht: Jahr für Jahr beschäftigen antisemitische Handlungen die öffentliche Diskussion. Schon das Adjektiv nationalsozialistisch auszusprechen, erforderte Überwindung. In der Öffentlichkeit werden heute noch immer die Abkürzungen bevorzugt -  also, sagen wir, statt nationalsozialistisch - NS. Der mörderische nationalsozialistische Hass ist ein schreckliches Erbe; es ist kaum auszuhalten. Entsorgen können wir ihn nicht; aber ins Gespräch bringen. Er ist mir nicht fremd. Er wartet auf seine Projektions-Objekte. Er findet ständig welche - HARTZ IV-Bedürftige, die Griechen, die Bankiers... die Liste wird schnell lang. Sich die Augen zu reiben ist nicht schlecht. Anschließend muss man aber gut hingucken.

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