Fernseh-Nachrichten wie die Tagesthemen, die ich seit einiger Zeit wieder regelmäßig sehe, servieren einem die Inszenierungen der Bilder, die man so leichthin Politik nennt und für Politik nimmt - etwas anderes bleibt einem, der keinen Zugang zu den Prozessen der Entscheidung hat, allerdings auch nicht übrig. Also: wie kann man die Inszenierungen lesen? Bilder des Konvois des U.S.-Präsidenten in Warschau; die schweren schwarzen Limousinen und die schweren schwarzen geländegängigen Fahrzeuge, die den Wagen, in dem der Präsident sitzt, in einem Pulk aufgehen lassen: eine eindrucksvolle Demonstration der Macht. Diese Fahrzeuge werden eingeflogen. Ohne einen mächtigen Konvoi fährt der Präsident nicht. In Seattle habe ich die vielrädrige Demonstration des Präsidenten-Amtes gesehen: voraus fuhren auf ihren schweren Motorrädern Polizeibeamte; dann kam der schwarze, eindrucksvolle Pulk; Polizeibeamte auf schweren Motorrädern bildeten die Nachhut. Wenn der Präsident in der Stadt ist, kommt der Verkehr zum Erliegen. Niemand beschwerte sich - jedenfalls in meiner (einmaligen) Gegenwart - ; die Passanten klatschten. Die Demonstration der Macht fungierte auch als öffentliche Selbstvergewisserung nordamerikanischer Identität. Die beobachtete Fahrt des Präsidenten, vermutete ich, war auch eine intime (fantasierte) Begegnung.
Das sah ich gestern (4.6.2014) in Warschau: Barack Obama tritt auch in Polen als U.S.-Präsident auf. Der gleiche Pulk Fahrzeuge. Unsere Bundeskanzlerin, sah ich wenige Bilder später, fuhr in Brüssel in einer Limousine mit belgischem Kennzeichen vor. Barack Obama sprach auch anders als seine bundesdeutsche Kollegin. Klare Worte vom Rechtsbruch; klare Worte der Zusicherung, das nicht durchgehen zu lassen. Was mich erinnerte an eine Erfahrung im Jahr 2013, als ich in der Nähe von Tucson, Arizona, nicht weit von der mexikanischen Grenze die zu einem Museum ausgebaute Station sah, in der eine der Interkontinental-Raketen aufgebaut war. Ich ging durch die unterirdischen Gänge bis in den Kontrollraum, in der die Mannschaften Tag für Tag, rund um die Uhr, auf den Befehl gewartet hatten, die Rakete abzuschießen. Es war eng und es war gespenstisch. Die Anlage war riesig, der personelle und technische Aufwand enorm gewesen. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, welche Anstrengung die Politik des Gleichgewicht des Schreckens gekostet hatte. Zum ersten Mal sah ich die (alte) Entschlossenheit der U.S.-Regierungen. Das ging mir bei der Rede des U.S.-Präsidenten durch den Kopf. Sein Auftritt milderte meine Furcht. Ich bin, vermute ich, nicht der Einzige, der sich fürchtet vor der russischen Usurpation; mir stecken die 50er Jahre noch in den sprichwörtlichen Knochen (die keinen Unterschied machen zwischen der Seele und dem Körper).
Die Schlagzeile der SZ am 5.6.2014:
"Westen will Putin Grenzen setzen. Wegen der Ukraine-Krise findet der G-7-Gipfel erstmals seit 16 Jahren ohne Russland statt. Obama warnt Moskau vor neuen Provokationen: "Unsere freien Nationen werden zusammenstehen". Setzt der Westen Grenzen? Nein, Nordamerika.
Ein Tag zurück: die Überschrift in der SZ auf S. 12 (4.6.2014, Nr. 127), Feuilleton-Teil:
"Die vielen langen Tage der Entscheidung. Der Mythos von der blitzartigen Invasion am 6.Juni 1944 lebt noch immer. In Wahrheit zog sich die Schlacht in der Normandie wochenlang hin. Fehlplanung und technische Unterlegenheit kosteten Tausende Soldaten der Alliierten das Leben".
Der Mythos von der blitzartigen Invasion ist eine schillernde Formel. Wer pflegt ihn? Der D-Day war: the day of decision - Tag der Entscheidung. Es gibt einen ordentlichen Western von Budd Boetticher aus dem Jahr 1957: Decision at Sundown. 1944 war der Tag der Landung gemeint; die Frage war, ob sie gelingen würde. The Longest Day hieß der (meistens) fröhliche Film vom 6. Juni 1944; er hatte drei Regisseure (Ken Annakin, Andrew Martin und Bernhard Wicki) und viele Stars, mit deren Identifizierung ich beim ersten Sehen ganz schön beschäftigt war. Der Film kam 1962 in die Kinos. Er lebte von der Zuversicht eines Western. Dass es an der französischen Küste anders zuging als im nordamerikanischen Westen, zeigte Steven Spielberg mit seinem Film Saving Private Ryan (1998) und als Produzent (zusammen mit Tom Hanks) mit der TV-Serie Band of Brothers (2001).
Schließlich noch ein Wort zur Invasion. Sie wird aus der Perspektive dessen wahrgenommen und ausgesprochen, dessen Grenzen verletzt wurden. So drang im Mai 1940 das deutsche Militär in Frankreich ein und besetzte das Land. Die Alliierten kamen nicht als Invasoren. Die verdrehte Verwendung des Substantivs erinnert mich an die andere verdrehte, so populär gewordene Verwendung des Wortes Holocaust, das zur Perspektive der Opfer, nicht der Mörder gehört.
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