Freitag, 4. Dezember 2015

Die Crux des Nicht-Wissens

Kalter Terror in heißer Kultur. Kein Filmtitel - betagten Kinogängern fällt vielleicht Eiskalt in Alexandrien von J. Lee Thompson aus dem Jahre 1960 ein - ,  sondern der Titel des Textes von Marianne Leuzinger-Bohleber in der gestrigen Frankfurter Allgemeine Zeitung (3.12.2015, S. 7, Nr. 281). Untertitel: "Patriachale Strukturen und simples Denken in Schwarzweiß beim IS bieten Traumatisierten scheinbare Lösungen in einer unübersichtlich gewordenen Moderne". Marianne  Leuzinger-Bohleber ist Direktorin des Frankfurter Sigmund Freud-Instituts. Ihr Text skizziert Arid Ukas Lebensgeschichte, des salafistischen Dschihadisten, wie sie ihn vorstellt, der 2011 zwei U.S.-amerikanische Soldaten erschoss und weitere U.S.-Soldaten verletzte.  "Uka", schreibt Marianne Leuzinger-Bohleber, "war in eine gravierende adoleszente Krise mit schweren Depressionen geraten, hatte alle seine Beziehungen und die Schule abgebrochen, wovon seine Eltern nichts wussten. Vielleicht wäre vieles anders gekommen, wenn die Lehrer dies als Alarmzeichen verstanden und mit den Eltern Kontakt aufgenommen hätten".

Die adoleszente Krise ist Kurzschrift - eine unscharfe Erklärung. Möglicherweise wollte und konnte Marianne Leuzinger-Bohleber nicht weiter Auskunft geben. Klar ist: die Adoleszenz ist eine äußerst schwierige, äußerst konfliktreiche Lebensphase -  die Lebensentwicklung steht buchstäblich auf der Kippe. Weshalb wurde er zum Mörder? Der Text unternimmt keine Rekonstruktion der Lebensgeschichte von Arid Uka. Fragen bleiben offen. Wie kam es, dass Arids Eltern offenbar den Kontakt zu ihrem Kind verloren? Wie kam Arid auf die Idee, zu morden? Er wäre "durchs Internet radikalisiert" worden. Wie? Marianne Leuzinger-Bohlebers Antwort: "Er hörte dschihadistische Predigten, schaute sich entsprechende Videos an und verfolgte die Kampfhandlungen des IS im Irak und in Syrien". Wie wurde er radikalisiert ? Wie sah seine innere Beschäftigung mit den Bildern und Ansprachen aus? Bekannt ist: "Am Abend vor dem Terrorangriff sah er einen Film von Islamisten aus Usbekistan, die sexuelle Übergriffe von amerikanischen Soldaten auf muslimische Frauen im Irak und in Afghanistan zeigten. Im Video wurde zum Schutz muslismischer Frauen aufgerufen. Nach einer schlaflosen Nacht entschied Uka sich, amerikanische Soldaten zu töten, die auf dem Weg nach Afghanistan waren".

Was war in dieser Nacht? Wie entschied er sich? Mit welchen Gedanken, Ideen, Fantasien? Mit einer mörderischen Rettungsfantasie? Wieso Mord? Wie passt das zu seiner Lebensgeschichte? Das leitet Marianne Leuzinger-Bohleber nicht ab. Unabhängig von der Frage des Persönlichkeitsschutzes, müsste man wissen, wie die individuelle Mord-Fantasie entstand und wie sie - unter welchen Bedingungen, in welcher Verfassung - exekutiert wurde: um die tatsächliche Wirkung des Einflusses einer mörderischen Ideologie abschätzen zu können. Der Text hat eine relevante Leerstelle: er gibt keine Auskunft über die fantasierten Beziehungen von Arid Uka: über seine innere Verortung, wo und wie er  mit wem in seiner inneren Welt lebte. Das ließ sich offenbar nicht rekonstruieren, weil die Einzigen, die darüber hätten Auskunft geben können, es nicht wussten: Arid Ukas Angehörige.

Marianne Leuzinger-Bohleber behilft sich am Ende ihres Textes mit einer vagen Auskunft:
"Vor allem Jugendliche mit einer inneren Leere, darunter viele Traumatisierte, werden von dem klaren 'Schwarzweißdenken' der präzisen, fundamentalistischen Unterscheidung zwischen 'richtig' und 'falsch', Gläubigen und Ungläubigen angezogen".

Einen Jungendlichen mit einer inneren Leere habe ich noch nie getroffen. Die innere Leere ist eine ungenaue Beschreibung. Eher muss man eine sprachlose Verzweiflung vermuten, die nicht weiß, wohin. Aber das wissen wir nicht. Unscharfe Erklärungen helfen nicht, aber decken unser Nicht-Wissen mit dem Trost eines vertrauten Narrativs zu.

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