Freitag, 14. Juli 2023

Schlechte Karten für grüne Politik: zum bundesdeutschen Zwang des Mäkelns an der Gegenwart. Wer hat Angst vor der Farbe Braun?

"Der Ampelstreit scheint noch nicht beigelegt", leitet Anne Will ihre Sendung Anne Will (am Sonntag, dem 9.7.2023) mit dieser Frage an Lisa Paus, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ein, "da tragen Sie den nächsten öffentlich aus. Was haben Sie und die Grünen genau nicht aus den zurückliegenden Monaten gelernt?"  

"Was haben Sie und die Grünen genau nicht aus den zurückliegenden Monaten gelernt?" Die Frage ist eine Spitzenleistung journalistischer Frage-Technik des ausgetüftelten Überfalls. Anne Wills Redaktion hat offenbar lange nachgedacht. Die Frage stammt aus dem Arsenal eines terrorisierenden Lehrers, der seinem Schüler die unerledigten Hausaufgaben um die Ohren schlägt. Die Frage traf. Lisa Paus, es war ihr anzusehen, sortierte und rechtfertigte sich: "Na, ich denke, wir haben doch einiges geschafft". 

Zweites Beispiel: der Kommentar von Jasper von Altenbockum (F.A.Z. vom 13.7.2023, S.9) mit dem Titel: Merz will es wissen. Das Pronomen Es ist, wie wir wissen,  "semantisch leer" (DUDEN-Grammatik). Also: was will Herr Merz wissen? Das weiß der F.A.Z.-Journalist nicht. Er vermutet, Herr Merz, der mit seinem ambitionierten Projekt des großen Wähler-Fischens bislang gescheitert ist,  möchte im Kampf um Zustimmung der Wählerschaft Profil gewinnen, weshalb er jetzt den Generalsekretär ausgewechselt hat. Das ist das Klischee einer schlichten Vermutung: Profil wird einem oder einer in einem komplierten Prozess nicht-bewusster öffentlicher, affektiver Abstimmung zugeschrieben; Zuschreibungen sind Projektionen eines Bildes von Einschätzung und Erwartung; sie dienen der Bildung eines Vorurteils oder eines Ressentiments. Profile werden in Umfragen abgefragt; ob und was sie zum Erfolg beitragen, ist unklar. Das hat Jasper von Altenbockum nicht im Blick.  Er beschreibt sein Unverständnis, das sich auch als Beschreibung eines Sinn suchenden Journalisten lesen lässt: "Die Ampelkoalition streitet, stümpert und stocht vor sich hin, doch die Opposition konnte daraus nicht viel Honig saugen". Armer Friederich Merz; Imkern liegt ihm nicht. Aber dagegen ist unsere Regierung unter aller Kanone.

Drittes Beispiel des öffentlichen Mäkelns. "Die Zwischenbilanz der Ampel", so die F.A.Z. in der selben Ausgabe, "die Bundesregierung hat trotz ihres Dauerstreits manches geschafft". Was zum Beispiel? "295.300 Wohnungen wurden im vergangenen Jahr fertiggestellt. Das ist weit entfernt von der Zielmarke von 400.000". Weit entfernt? Fast drei Viertel der geplanten Wohungen sind - 75%. Sind die weit entfernt?

Da kann man sich streiten. 75% sind eine ganze Menge. Das Glas ist doch ziemlich voll. Wieso dieser Unterton? Unsere Regierung muss offenbar ihr Fett abkriegen. Neulich lauteten im Juni 2023 zwei Schlagzeilen der Frankfurter Sonntagszeitung: die Digitalisierungswüste und das Welken der Grünen. Zwei Schlagzeilen zur Beschreibung der bundesdeutschen Situation: Nix läuft richtig. Dabei wusste schon Walt Disney: Die Wüste lebt. Und was welkt, blüht anderswo wieder. Wir haben eine Regierung, die angetreten ist, die Korruptheit, Lähmung  und Verzagtheit der vorigen Regierung zu vertreiben, und die die Dringlichkeit des Handelns verstanden hat. Dieser Belebungsversuch ist hier & da offenbar nicht willkommen. Zu viel offene Zukunft. Das wollen wir nicht genau wissen. Wir bleiben lieber in der Gegenwart unserer vertrauten verdrucksten Vergangenheit. Mäkeln ist eine Variation des Klagens. Stillstand ist schlecht, Bewegung erst recht. Wo ist der Journalist, wo ist die Journalistin - die Mut machen und das Risiko begrüßen? Wer hat immer noch Angst vor der  Farbe Braun

(Überarbeitung: 19.7.2023)