Dienstag, 31. März 2015

Die Tragödie des Andreas Lubitz

Die öffentliche Diskussion hat es mit ihrer Aufgabe der Beruhigung eilig und kommt deshalb auf einfache Lösungsvorschläge. Einer besteht im Ruf nach forcierter Kontrolle. Was soll forciert kontrolliert werden?

Die konfliktuöse innere Welt eines Menschen und dessen daraus abgeleitete, erschlossene (mögliche) Gefährdung oder Gefährlichkeit eines Menschen. Wie soll das gehen? Es geht nicht. Big Data und Big Neuro helfen nicht. Die Tragödie des Piloten Andreas Lubitz besteht darin, dass ihm offenbar nicht gelang, in den therapeutischen Kontakten ausreichend Auskunft über sich zu geben, so dass mit einer angemessenen Schutzmaßnahme, die unsere Gesetzgebung bereits vorhält (die aber seltsamerweise unbekannt zu sein scheint), hätte interveniert werden können. Andreas Lubitz konnte es offenbar nicht - aus welchen Gründen auch immer. Er hatte sich in den therapeutischen Kontakten entschieden, sprachlos zu bleiben - und handelte damit - bewusst oder nicht bewusst, wir können es (wahrscheinlich) nicht mehr rekonstruieren - gegen seine Lebensinteressen, zu  klären, was mit ihm ist. Deshalb helfen Psychologische Test-Verfahren nicht: sie sind abhängig von der Auskunftsbereitschaft.

Wir sind täglich darauf angewiesen und müssen darauf vertrauen, dass wir unseren (gemeinsamen) Lebensinteressen gemäß handeln und uns das Lebenswichtige mitteilen. Wir sind auf unsere Auskunftsbereitschaft angewiesen. Wer sich aus dieser unausgesprochenen Verpflichtung zurückzieht, tut sich und uns keinen Gefallen. Die eine enorm schwierig zu beantwortende Frage für eine demokratisch verfasste Gesellschaft, die von ihren Bürgerinnen und Bürgern die Beachtung der (eigenen und gemeinsamen) Lebensinteressen erwartet, bleibt: welches Ausmaß an Rückzug können und müssen wir tolerieren - in der Familie, im Freundeskreis, in der Verwandtschaft, im Kreis der Kolleginnen und Kollegen? Die andere, intime Frage für einen selbst bleibt: wann muss ich über meinen Rückzug Auskunft geben und mich mitteilen?

Montag, 30. März 2015

Fallen der Öffentlichen Diskussion

Die Vermutung der französischen Staatsanwaltschaft bekannt zu geben, war verständlich, aber unzureichend bedacht. Sie versperrt den Blick auf andere Lesarten des katastrophalen Unglücks. Der Suizid des Piloten Andreas Lubitz erscheint plausibel als Erklärungsversuch seines Einschlusses und seines Schweigens. Ob sein Einschluss als ein Aussperren des Kollegen intendiert war, ist die Frage; sein Schweigen ist mehrdeutig. Der Schluss vom Suizid auf die Probleme des Patienten erschien in der Öffentlichen Diskussion sofort plausibel. Die Entdeckung der (zerrissenen) Krankschreibungen des Piloten als Beleg für dessen Verschweigen seiner Erkrankung ebenfalls. Es ist unbekannt, welche Erkrankung der oder die behandelnde Ärztin diagnostizierte und welcher Art der Kontakt war, der zur Festlegung  einer Diagnose führte. Im öffentlichen Verständnis die Erkrankung als Depression auszulegen, war der nächste, rasche Schritt in der Verständigung über die Verfassung des Piloten.

In der gestrigen Sendung der A.R.D. Günther Jauch war zu sehen, wie diese Vermutungskette als eine Art öffentlicher Hypothese eines erweiterten Suizids im Kontext einer Depression den Diskutanten vorgelegt wurde mit der diffusen Frage nach dem Erklärungs- und Erkennungszusammenhang.  Das Konzept des erweiterten Suizids, auf dem der Moderator als Erklärung bestand, bestritt der anwesende Theologe. Dass die als Depression diagnostizierte Erkrankung nicht als Erklärungsversuch für das Ausmaß an Destruktion - wobei wir nicht wissen, ob und wie sie der Pilot intendiert hatte - aufgeboten werden kann, wurde unzureichend bestritten. Günther Jauch war eine Sendung der Hilflosigkeit und der Gelähmtheit - Ausdruck des enormen Drucks der veröffentlichten Beunruhigung und des Wunsches der Öffentlichkeit nach Vergewisserung im seltsamen, unklug hastigen Wettlauf um Aufmerksamkeit und Einschaltquoten. Die Öffentliche Diskussion in dem TV-Forum offen und komplex zu halten schien am gestrigen Sonntag, dem 29. März 2015, nicht möglich zu gewesen zu sein.  

Freitag, 27. März 2015

Nicht-Wissen und Nicht-Wissen-Wollen

Der Flug der Germanwings ist eine Katastrophe, die vermutlich irreparables Leid auslösen wird - bei den Angehörigen der verunglückten Passagiere und bei den Angehörigen des Piloten Andreas Lubitz: die Zeit heilt nicht gravierende Verluste. Dass Andreas Lubitz die Katastrophe intendiert und initiiert zu haben scheint, ist eine entsetzliche Interpretation der letzten Aufzeichnungen des Schweigens (des Co-Piloten) und der identifizierten Geräusche. Die öffentliche Diskussion rätselt über die Motive seines Handelns. Beabsichtigter Suizid ist die Auslegung der französischen Staatsanwaltschaft. Die Bild-Zeitung titelte heute Morgen: "Der Amok-Pilot". Der Chef der Süddeutschen Zeitung, Kurt Kister, titelte seinen Kommentar (27.3.2015, S. 4, Nr. 72): "Herostratos im Cockpit". Wie immer sucht die öffentliche Diskussion nach schnellen Erklärungen - oder zumindest nach Metaphern, die erklärende, vertraute Narrative in die erschütterte, labilisierte Welt-Perspektive setzen. Sie dienen der Beruhigung und sie kürzen den Verständnis-Versuch ab.

Kurt Kister verfügte: "Welche Motive den Mann dazu gebracht haben, ist letztlich bedeutungslos". Wieso ist ein Verständnis der Motive letztlich bedeutungslos? Es  ist bedeutungsvoll. 1. Es ist wichtig zu verstehen, wie, wo und wann gewalttätige Handlungen sich in reparativen Fantasien vorbereiten, welche regulative Funktion sie für die Balancierung des Selbst haben und wie und wann sie realisiert werden und auf eine sprachlose Weise sprechen.  2. Ein Verständnis der Motive bietet keinen Trost des immensen Leids, aber eine gewisse Distanzierung von dem ersten Eindruck der Monstrosität des Piloten: er bekommt eine Geschichte und damit ein menschliches Leben, auch wenn es schrecklich entgleist zu sein scheint. 3. Der Abgrund menschlicher Existenz wird vielleicht weniger tief. 4. Der Pilot Andreas Lubitz scheidet als Aufregungslieferant aus.

Soweit sind wir nicht. Die Frage und die Genese des Suizids sind ungeklärt: seine Geschichte, seine lebensgeschichtliche Ableitung, der Prozess vom Fantasieren des destruktiven Impulses bis zur Realisierung, sein Adressat. Suizide gehören zu einer Beziehung. Man müsste sie kennen, um einen Selbstmord rekonstruieren zu können. Möglicherweise waren andere Prozesse relevant. Wir wissen es nicht. Möglicherweise werden wir sie nicht erfahren können. Der Einzige, der Auskunft hätte geben können, war Andreas Lubitz. Das Nicht-Wissen auszuhalten, ist schwer, das Nicht-Wissen-Wollen zu empfehlen, anmaßend.

Am Ende seines Textes schreibt Kurt Kister:

"Eines ist sehr wichtig: Menschen mit psychischen Problemen bedürfen des Respekts und der Hilfe. Man wird dadurch Ausnahmekatastrophen nicht verhindern können. Aber vielleicht kann man so auch einem Verzweifelten vermitteln, dass nichts von größerem Wert ist als das Leben. Jedes Leben". So widerspricht Kurt Kister seiner ersten Empfehlung und endet mit einer rührseligen, diffusen Empfehlung. Wir wissen nicht, was Andreas Lubitz wollte. Der Verweis auf Menschen mit psychischen Problemen ist tückisch. Wir wissen auch nicht, was Andreas Lubitz bewegte.

Die lautlosen Schreie eines Verzweifelten sind schwer zu hören.

Überarbeitung: 31.3.2015.

Mittwoch, 25. März 2015

Streiken stört

Beim Einsortieren der Zeitungsausschnitte fiel mir nach der gestrigen Katastrophe (am 24.3.2015) des in den südfranzösischen Alpen zerschellten Airbus 320 mit seinen tödlich verunglückten Passagieren der Text von Marc Beise über die streikenden Piloten der Lufthansa auf: "Guten Flug, noch!" ist er überschrieben (Süddeutsche Zeitung vom 21./22.3.2015, S. 25). Dafür, dass der Titel jetzt wie gewaltiger Hohn klingt, kann Marc Beise nichts. Wohl für den leichten Spott, der sich als immer unangemessen erweist, weil er die Wirklichkeit des Piloten-Berufs auf die sprichwörtliche leichte Schulter nimmt.

Er möchte, sagt er im ersten Absatz, "ausdrücklich keine Neiddebatte" beginnen.
Dementis, wissen wir, sind schlecht: irgendwie bejahen sie, was sie verneinen. Marc Beise schreibt: "Dennoch ist dieser fortgesetzte Streik der Lufthansa-Piloten, der nun ins Wochenende hinein fortgesetzt wird, ein Ärgernis und ein Fehler". Wieso ist er ein Ärgernis und ein Fehler? Die Piloten nähmen keine Rücksicht auf die Markt-Situation ihres Unternehmens angesichts von "Flugsteuern", "sich verändernden Märkten" und "Billigfluglinien". Marc Beise:

"In dieser Situation Gehaltssteigerungen im zweistelligen Bereich zu fordern; längere Lebensarbeitszeiten zu verweigern (in einer Zeit, da alle Menschen länger arbeiten müssen und dies biologisch auch können); für Berufseinsteiger dieselben Privilegien zu fordern wie für die Alten; einen Streik immer weiter herauszuziehen, sodass Millionen an neuen Kosten verursacht und das Image der
Firma schädigt - das alles ist in dieser Radikalität einfach nur: dumm":

Warum vertritt Marc Beise die Interessen der Leitung der Firma Lufthansa und macht sich deren Sorgen? Er schreibt für die Redaktion Wirtschaft. Wieso schreibt er für die Konzern-Interessen - und nicht für die Leute, die den Konzern am Laufen halten? Wie so häufig, wenn eine Tätigkeit einfach aussieht, sind wir geneigt zu glauben, die Tätigkeit wäre auch einfach. Fred Astaire, habe ich aufgeschnappt, trainierte täglich acht Stunden. Nein, wir kennen die Lebenswirklichkeit von Piloten unzureichend: die enorme existenzielle Belastung des Berufs; die schwierigen Lebensrhythmen und die schwierigen Lebensformen; die permanente Anspannung auch dann, wenn sie nicht tätig sind - schließlich wartet der nächste Flug: es ist nicht so schwer sich vorstellen, dass mit 55 Jahren genug ist. Wahrscheinlich gilt das auch für andere, ebenfalls permanent existenziell bedrohliche Berufe. Dass wir ein paar Jahre - wenn es gut läuft - statistisch älter werden, heißt doch nicht, dass wir uns länger quälen können und uns länger ausbeuten lassen müssen. Wenn eine Berufsgruppe sagt, wann genug genug ist, muss man es respektieren. Die Leute haben den Vorrang, nicht die Firma. Ein Streik kommt immer zur Unzeit. Die Folgen eines Streiks zu ertragen, ist der Preis demokratisch geregelter Lebensbedingungen.  

Donnerstag, 19. März 2015

Big Neuro II

Das Human Brain Project - von der E.U. mit einer guten Milliarde Euro ausgestattet -  stockt. Es sollte, schreibt Philipp Hummel in der Süddeutsche Zeitung (10.3.2015, S. 16, Nr. 57), "mit Supercomputern, Datenbanken und Software-Werkzeugen zu bahnbrechenden Erkenntnissen gelangen. Das Ziel: eine Simulation des menschlichen Gehirns im Computer, von den molekularbiologischen Bausteinen bis hin zum menschlichen Verhalten". Zudem sollten degenerative (neurologische) Krankheiten mehr verstanden werden. So weit ist die Forschung nicht gekommen. Das ist nicht überraschend. Wie will man das menschliche Gehirn in einem Computer simulieren? Der Computer ist eine Verständnis-Metapher; wenn man sie wörtlich nimmt, führt sie in Sackgassen (s. meinen Blog vom 13.10.2014).

Jetzt soll es unter neuer Leitung weiter bewegt werden. Wolfgang Marquandt, mit der Koordination der Bewegung beauftragt, wurde dazu interviewt. Seine Antwort: "Man sollte nicht mehr den Eindruck erwecken, dass man mit den Ergebnissen des HBP (Human Brain Project) Krankheiten heilen oder Verhaltensweisen vorherbestimmen können wird. In erster Linie handelt es sich um ein IT-Infrastruktur-Projekt, das die Möglichkeiten für die Neurowissenschaften der Zukunft schaffen soll".
Bravo! Erst nachdenken, dann versprechen.

Vertrautes von der Heiligen Kuh XII

Der Volkswagen-Konzern hat im vergangenen Jahr einen Umsatz in der Höhe von 200 Milliarden Euro gemacht. Das ist ein stattlicher Rekord. Das sind um die zehn Millionen Fahrzeuge. Ein Drittel davon wird in Chinas Republik exportiert oder dort bereits erzeugt. Das sind buchstäblich Schwindel-erregende Zahlen: von der Abhängigkeit dieser Aktiengesellschaft. Zwei Marken trugen besonders zum Rekord bei: Audi und Porsche. 2014 "hat Porsche", ist in der Frankfurter Allgemeine Zeitung zu lesen (14.3.2015, S. 29, Nr. 62), "knapp 190 000 Autos verkauft. Dieser Zuwachs von 17 Prozent hängt erheblich mit der Einführung des Macan als zusätzlicher Baureihe zusammen. Mit dieser Absatzgröße hat Porsche schon beinahe die für 2018 geplante Zielmarke von 200 000 Autos erreicht".

Wer soll das bezahlen?, möchte man wieder singen. Und wo sollen die Autos fahren?, muss man fragen. Autos sind - da muss ich mich anschließen - Vehikel zum Fantasieren. Wahrscheinlich ist die Autoindustrie - seit gut 40 Jahren bin ich ein aufmerksamer (forschender) Beobachter - der Ort, wo am meisten (wie selbstverständlich) fantasiert wird. Die Frage ist: wie lange wollen wir uns dieses Fantasieren leisten? Die Leitung von Porsche hat diese Antwort: sie werden Elektroautos bauen, und zwar die sportlichsten Elektroautos der Welt, wie Matthias Müller, der Chef des Sportwagen-Herstellers, zitiert wird. Der Mann fantasiert offenbar weiter. Wie mag er schlafen? "Ein rein elektrisches Auto braucht Porsche auch", so die F.A.Z., "um die gesetzlichen CO2-Vorgaben zu erreichen". Ein elektrisches Auto, mit anderen Worten, drückt den Durchschnitt der Auspuffgase aller produzierten Wagen. Corriger la fortune nennen die Franzosen diese Strategie. Aber die Produktionssteigerung hat andere Auswirkungen: "Das starke Wachstum erfordere zudem erhebliche Investitionen in Produktionskapazitäten, Anlagen, Werkzeugen, Bürogebäude und Grundstücke, betonte Müller" - ist in der Zeitung zu lesen. Was ist mit den Leuten, die eingestellt werden müssen? Was ist mit den Leuten, wenn ihnen gekündigt werden muss? Eine schlichte Idee - Wachstum - schafft Fakten: Abhängigkeiten und Unbeweglichkeiten. Wird den Verantwortlichen nicht schwindelig? Wird unserer Regierung nicht schwindelig?

Politischer Winterschlussverkauf

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat das Institut TNS Infratest beauftragt. Womit? Ist mir unklar. Wahrscheinlich - ich entnehme das dem Aufmacher der Süddeutschen Zeitung (7./8.3.2015) auf der ersten Seite "Reizklima in Berlin" - mit der Frage: Wie stehen wir da? Welche Chancen haben wir? Die gängigen Fragen eines Waren-Produzenten, der seine Markt-Chancen abzuschätzen versucht.


Die Süddeutschen Zeitung wollte ihrer Leserschaft offenbar eine Neuigkeit bieten - die Ergebnisse der
Studie liegen uns vor, schreiben sie. Lassen wir das (verständliche) publizistische Geschäftsinteresse beiseite: was hat die Studie herausgefunden? Ein "Imageproblem". Was lernen die Partei-Mitglieder daraus? Die Süddeutschen Zeitung zitiert aus der Präsentation der Studie - wer immer sie erläutert hat (wahrscheinlich Repräsentanten der Partei) - :

"Die SPD muss wieder zu sich selbst finden, aus dem Herzen heraus und nicht wegen schlechter Umfragewerte Politik machen. Sie muss vor allem wieder erkennbar werden, auch wenn dies bedeutet, dass sie - wo nötig - Konflikte mit der Union eingehen muss".

Das ist nun nicht neu. Oskar Lafontaines unübertroffener Satz einer sozialdemokratischen Verheißung hätte nur erinnert werden müssen: Das Herz schlägt links. Die Partei hätte sich einen (vermutlich) sechsstelligen Euro-Betrag ersparen können. Davon abgesehen: ist es nicht erschreckend, wie politische Ideen sich in einem tautologischen Kreis bewegen, in dem ein Befragungsinstitut konstatiert, was ist, und die Verbesserung des Status Quo empfiehlt: die Politur des Images? Mit Richard Milhous Nixons Präsidentenschaft  begann, beschrieb Jonathan Schell in seinem Buch The Time of Illusion, das politische Polieren der inszenierten Fassade. Es führte nicht weiter. Es läuft auf das Leiden am  Einschaltquoten-Syndrom hinaus: die politische oder kreative Fantasie läuft leer. Wir leben von guten Ideen. Polieren hilft nicht langfristig. Ab und zu braucht man etwas Neues. Neu war 1969: Willy Brandts mehr Demokratie wagen. Erfinder werden benötigt.

Mittwoch, 18. März 2015

Journalismus-Lektüre V: geht es zu hoch her?

"Woher kommen dieser Hass, die Verachtung, die Verrohung", fragt Jasper von Altenbockum in der Frankfurter Allgemeine (vom 14.3.2015, S. 1, Nr. 62). Verrohung ist der Titel seines Textes. "Es vergeht kaum eine Woche", beginnt der Text, "in der sich die deutsche Gesellschaft nicht im Spiegel betrachten müsste - sie könnte sich kaum wiedererkennen". Die deutsche Gesellschaft kann sich im Spiegel nicht wieder erkennen, wohl die bundesdeutsche Gesellschaft, die seit dem Mai 1949 existiert. Jasper von Altenbockums erster Satz nennt das Problem: in der jungen demokratisch verfassten, bundesdeutschen Gesellschaft ist es nicht einfach zu leben. In der alten demokratisch verfassten, nordamerikanischen Gesellschaft beginnen die Bürgerinnen und Bürger zu realisieren, wie sehr der alte Rassismus noch immer virulent ist und den Alltag belastet. God's own country, die Vereinigten Staaten von Amerika, sind noch nicht für Alle God's own country.

Jasper von Altenbockum gibt diese Beschreibung einer Stimmungslage in der Bundesrepublik Deutschland:
"Die Angst geht wieder um in den Deutschland - vor dem Euro, vor dem Krieg, vor der Technik, vor der großen weiten Welt, vor der Zukunft; noch mehr aber, noch eingefleischter, noch irrationaler, vor der Politik. Ihr wird alles unterstellt, was nur möglich ist. Dabei merken die Meckerer, die Besserwisser, die Verhinderer nicht, dass jedes Mal, wenn sie wieder einmal eine 'korrupte Politikerkaste' verprügeln oder gegen eine 'gleichgeschaltete Lügenpresse' mit all ihrem Hass hetzen, sie der Demokratie damit leise servus sagen. Die hat etwas Besseres verdient".

Nein, damit wird die Demokratie nicht verabschiedet: sie wird begrüßt. Streiten kann man sich nur dort, wo dafür Platz ist und wo ein Rahmen markiert ist. Heftiger Streit ist ein gutes Zeichen. Er ist schrecklich, und man möchte den Kopf einziehen. Leider sind wir nicht in einem Seminar, in dem eine Redeliste geführt wird. Öffentliche Diskussionen, die nicht mehr diskutieren, sondern zulangen, haben wilde Züge. Unser demokratischer Rahmen hält das aus. Heftiger Streit ist das Beste, was uns passieren kann.


Journalismus-Lektüre IV: Jonglieren mit dem Konzept der Wahrheit

"Wahrheit wagen" ist der Titel des Textes von Stefan Ulrich - abgedruckt auf der Meinungs-Seite der Süddeutschen Zeitung (S. 4, 14./15.3.2015, Nr. 61) unter dem Stichwort: Lüge und Politik.

Wahrheit wagen ist eine sehr ambitionierte Aufforderung. Denn Wahrheit ist ein sehr schwieriges Konzept. Was ist Wahrheit? Wahrheit ist das Produkt einer Anstrengung. Wenn in einer Gerichtsverhandlung die Wahrheit und nichts als die Wahrheit gefordert wird, heißt das: vom eigenen Schutzbedürfnis und vom eigenen Interesse abzusehen zugunsten der Beschreibung präziser, möglichst nicht persönlich gefärbter Erinnerungen. Da wir stets persönlich wahrnehmen im Kontext unserer Lebens-Bedeutungen und damit stets auswählen, ist das schwierig. Wahrheiten sind errungen - persönliche wie wissenschaftliche. Sie werden erarbeitet in einem Prozess der Entdeckung und Überprüfung.

Was soll die Aufforderung Wahrheit wagen? Stefan Ulrich versteht unter Wahrheit: die Abwesenheit der Lüge. Das ist nicht falsch, aber arg einfach. Schließlich gibt es auch die Wahrheit der Lüge: wer lügt, sagt implizit, dass er sich schützt, indem er seine Interessen, Absichten, Sehnsüchte, Fantasien und Wünsche zu verbergen versucht. Gelogen haben, so lautet Stefan Ulrichs angenehm (für bundesdeutsche Verhältnisse) kurze Liste, George Walker Bush, Wladimir Putin und die Politikerinnen und Politiker, die die finanziellen Probleme der E.U. ungenau erläutert haben. So wäre, führt er aus, in der Öffentlichkeit ein "Generalverdacht" entstanden: "Unternehmern wird pauschal vorgeworfen, ihnen gehe es nur um hemmungslose Selbstbereicherung. Politikern der traditionellen Parteien wird unterstellt, sie wirkten als Büttel des Kapitals oder der Amerikaner dabei mit, Europas Bürger zu betrügen. Die klassischen Medien werden als 'Lügenpresse' abqualifiziert, um ihre Argumente ignorieren zu können". Wir leben, stellt er fest, in einem "Klima des Argwohns".

Was ist zu tun? Stefan Ulrich: "Als Erstes gilt es dabei, die Lüge von der grundsätzlich verlogenen Politik und der 'Lügenpresse' entlarven". Die alte, deutsche, anti-demokratische Redewendung von der Politik, die den Charakter verderben würde, ist das Klischee eines Ressentiments, das nicht mehr entlarvt werden muss. Stefan Ulrichs Generalverdacht hat einen ganz langen Bart. Die Lügenpresse auch - sie muss man heute, anders als in der Zeit der großen Umarmung in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, als den affektiv aufgeladenen Vorwurf derer übersetzen, die sich nicht vertreten fühlen und sich nicht wieder finden in dem, was gesagt oder geschrieben wird. Das muss auch nicht entlarvt, sondern verstanden werden. Zweitens, sagt Stefan Ulrich, "muss der Mut zur ungeschminkten Wahrheit wachsen". Die ungeschminkte Wahrheit ist ein Pleonasmus: Wahrheit ist stets ungeschminkt; Halb-Wahrheiten sind keine Wahrheiten. Hat Stefan Ulrich ein Problem mit der Wahrheit?

Die Treuherzigkeit des Autors ist das Problem. So schlicht lässt sich das Problem der Wahrheit in einer demokratisch verfassten Gesellschaft und in einer demokratischen Öffentlichkeit nicht ausbreiten. Wie erreicht die öffentliche Diskussion die, die sich ausgeschlossen fühlen und die ihrerseits ausgeschlossen werden, wenn sie mit einer zugegebenermaßen unglücklichen Formel operieren? Genügt deren Exklusion? Ist das nicht die Taktik der Tabuisierung, die seit dem Beginn der Bundesrepublik gepflegt wird? Und was ist, um den Journalisten Stefan Ulrich direkt in Sachen Wahrheit wagen zu befragen, mit dem methodischen (handwerklichen) Problem des Journalisten, der ein mehr oder weniger (wie wir) ausgeschlossener und gleichzeitig mehr oder weniger adressierter Beobachter politischer (öffentlicher und nicht-öffentlicher)  Prozesse ist?  Oder der, wenn er gewissermaßen in einer Form kalkulierten Vertrauens in die sonst abgesperrten bundespolitischen Zirkel und Gremien und Gespräche hineingebeten wird und sich (für künftige Arbeit) abhängig zu machen droht von den Verpflichtungen und Loyalitäten der so entstandenen Beziehungen?  Müssten die journalistischen Beziehungs-Formen zu denen, die beobachtet und hinsichtlich ihrer Absichten, Konzepte und Strategien interpretiert werden, nicht der Leserschaft mitgeteilt werden? Was ist mit der Abhängigkeit vom und mit dem Anpassungsdruck im journalistischen Geschäft? Die Fragen klingen vielleicht naiv - wer gibt schon wirklich genau Auskunft über die eigene berufliche Praxis - , aber sie hängen mit der Frage nach der Wahrheit zusammen.  Journalisten lügen, sagt Stefan Ulrich, wenn sie "Vermutungen als Tatsachen ausgeben". Das ist ein überraschend Konzeptions-loses Missverständnis: Vermutungen, als Vermutungen ausgesprochen, können nicht als Tatsachen behauptet werden. Stefan Ulrich meint: Behauptungen, die sich als Beschreibungen geben, aber Narrative der (behaupteten) Erklärung in den Kreislauf der Öffentlichkeit setzen. Es ist die Lust an der Behauptung  - vermute ich - , die zum Problem der Wahrheit des Journalismus gehört. Vermutungen sind unsere Bedeutungs-Entwürfe. Ohne Vermutungen kämen wir nicht voran. Im Wissenschafts-Betrieb werden sie als Hypothesen getestet. Für die öffentliche Diskussion sind journalistische Vermutungen die Testballons und (vielleicht) Anregungen für Aufregungen. Es ist gut, sie steigen zu lassen. Der methodische Zweifel sollte in den Texten allerdings seinen ausreichenden Platz haben.

Überarbeitung: 19.3.2015.

Sonntag, 15. März 2015

Das Buch! Das Buch?

Die Leipziger Buchmesse läuft. Sie ist, wie ich letztes Jahr fand, eine Leserin- und Leser-freundliche Veranstaltung; wer will, kann sich richtig umtun und beispielsweise die Wege der Produktion eines Buches studieren. Deshalb finde ich das Lob von Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (13.3.2015, S. 4) angemessen - er spricht, so der Titel seines Textes, (gekonnt) von: "Seitenweise Glück". Er referiert eine Bemerkung oder einen Befund (es ist nicht auszumachen) des Wissenschaftshistorikers Michael Hagner, der für die "größte Bedrohung" des Lesens die heutige "Ungeduld" hält. Ungeduld. Sie wird - als eine Art Zeitdiagnose - nicht weiter erläutert. Dennoch hakt sie sich fest und geht mir nicht mehr aus dem Kopf: sehr lästig.

Die Rede von der Ungeduld ist dreist: bedient wird das Klischee - abgeleitet aus anderen kursierenden Klischees: das Internet und seine digitalen Ableger verderben, machen unruhig und unaufmerksam, lenken ab, beuten uns aus und bedeuten unseren kulturellen wie sozialen und psychischen Untergang. Das Buch und das Lesen galten schon immer als bedroht - die Gruppe der Autoren und Autorinnen, die mit den Augen rollten und rollen und sich die Haare rauften und raufen, ist riesig. Was wissen wir von den Prozessen des Lesens? Entscheidend sei, sagte Ludwig Marcuse, was einen nicht langweilt. Wissen wir das? Vielleicht sind die vermeintlich Ungeduldigen die, die sich mit einer strapaziösen Lektüre nicht quälen wollen? Noch einmal Ludwig Marcuse: Jeder sollte frei sein, sagte er, sich von einem Meister ins Herz treffen zu lassen. Mit anderen Worten: Autorinnen und Autoren, die eine jahrzehntelange Lektüre aushalten, sind rar und schwer zu finden. Auf diesem Weg kann man viele Bücher, deren erste Sätze fad sind und einen nicht einnehmen, schnell beiseite legen. Wer will, findet seine Autorin und seinen Autor. Leider sind unsere Lebenszeit und damit unsere Lesezeit begrenzt. Sich nicht langweilen zu wollen, ist eine gute Such-Strategie.

Überarbeitung: 20.3.2015.

Freitag, 13. März 2015

Familien-Kitsch

Heute, am 13.3.2015, der Aufmacher der Süddeutschen Zeitung (S.1):
"Riesenkrach zwischen Berlin und Athen". Der Titel hält nicht die höfliche Form ein und beginnt mit: Berlin. Die Titel-Erläuterung: " Griechenlands Botschafter beschwert sich beim Auswärtigen Amt, weil Finanzminister Schäuble den Kollegen Varoufakis 'naiv' genannt habe. De Mazière kritisiert Drohung mit Flüchtlingsstrom".

Der Krach ist eine Vokabel zur Beschreibung einer Beziehungskrise. Beziehungen, das muss man eigentlich nicht wiederholen, bewegen sich in einem persönlichen Kontext. Der Krach hat in einem politischen Kontext nichts zu suchen; bestenfalls ist er Kurzschrift für schwierige Verhandlungen. Zwar verhandeln Personen, aber sie repräsentieren ein Amt und handeln im Rahmen eines Amtes. Es hat natürlich eine Logik, wenn ein Mitglied der Redaktion der Süddeutschen Zeitung auf eine  Metapher der Familienstube zurückgreift: die konzeptionellen Differenzen müssen nicht erläutert und diskutiert werden - der bundesdeutsche Minister hat Recht, der griechische Minister Unrecht. Das ist erstaunlich, weil das bundesdeutsche finanzpolitische Konzept der schwarzen Null äußert umstritten ist - national wie (besonders) international. Stattdessen wird die Geschichte vom strengen, aber guten Vater erzählt, der gut wirtschaftet, das Geld zusammenhält und möglichst wenig ausgibt. Lässt man den familiären Kitsch beiseite, ist dieses Konzept mehr als fragwürdig. Unsere stattlichen Exportüberschüsse sind wahrscheinlich zu einem stattlichen Teil mit bundesdeutschen Krediten vorfinanziert - von  Gläubigern (Staat, Industrien, Investoren), die sich jetzt Sorgen machen müssen, ihre Forderungen zurückzubekommen. Wie beim Tanzen gehören zum Schuldenmachen Zwei: der eine, der gibt, und der andere, der nimmt. Wer gibt, hat eine Verantwortung, darauf zu achten, ob der, der nimmt, auch zurückzahlen kann. Mit anderen Worten: über die Rolle der bundesdeutschen Akteure wird nicht gesprochen. Erstaunlich ist, was sich schon seit einiger Zeit beobachten lässt: wie sehr die Süddeutsche Zeitung die Finanz-Politik der jetzigen Regierung durchgehen lässt und sich treuherzig mit familiären Geschichten begnügt. Für das Jahres-Abonnement dieser Zeitung (gute sechshundert Euro) kann man fast dreizehn Jahre die LE MONDE diplomatique halten, wo man in der neuesten Ausgabe den sehr lesenswerten und sehr lesbarenText von Heiner Ganßmann lesen kann:
"Lauter schwarze Nullen. Deutschlands fatale Rolle in der europäischen Schuldenkrise" (März 2015, S. 3 -4).

Nachtrag am 14.3.2015. Wieso ist unser Finanzminister im Zentrum der Verhandlungen - und nicht die
Repräsentanten der Europäischen Kommission? Müsste nicht ein Repräsentant der Gemeinschaft verhandeln - für die Gemeinschaft? Und nicht nur für die Bundesrepublik und deren Gläubiger-Interessen. Was als ein in Berlin lokalisierter Konflikt kursiert, illustriert die enorme Schwierigkeit der EU, als eine Gemeinschaft zu handeln.