Mittwoch, 18. März 2015

Journalismus-Lektüre IV: Jonglieren mit dem Konzept der Wahrheit

"Wahrheit wagen" ist der Titel des Textes von Stefan Ulrich - abgedruckt auf der Meinungs-Seite der Süddeutschen Zeitung (S. 4, 14./15.3.2015, Nr. 61) unter dem Stichwort: Lüge und Politik.

Wahrheit wagen ist eine sehr ambitionierte Aufforderung. Denn Wahrheit ist ein sehr schwieriges Konzept. Was ist Wahrheit? Wahrheit ist das Produkt einer Anstrengung. Wenn in einer Gerichtsverhandlung die Wahrheit und nichts als die Wahrheit gefordert wird, heißt das: vom eigenen Schutzbedürfnis und vom eigenen Interesse abzusehen zugunsten der Beschreibung präziser, möglichst nicht persönlich gefärbter Erinnerungen. Da wir stets persönlich wahrnehmen im Kontext unserer Lebens-Bedeutungen und damit stets auswählen, ist das schwierig. Wahrheiten sind errungen - persönliche wie wissenschaftliche. Sie werden erarbeitet in einem Prozess der Entdeckung und Überprüfung.

Was soll die Aufforderung Wahrheit wagen? Stefan Ulrich versteht unter Wahrheit: die Abwesenheit der Lüge. Das ist nicht falsch, aber arg einfach. Schließlich gibt es auch die Wahrheit der Lüge: wer lügt, sagt implizit, dass er sich schützt, indem er seine Interessen, Absichten, Sehnsüchte, Fantasien und Wünsche zu verbergen versucht. Gelogen haben, so lautet Stefan Ulrichs angenehm (für bundesdeutsche Verhältnisse) kurze Liste, George Walker Bush, Wladimir Putin und die Politikerinnen und Politiker, die die finanziellen Probleme der E.U. ungenau erläutert haben. So wäre, führt er aus, in der Öffentlichkeit ein "Generalverdacht" entstanden: "Unternehmern wird pauschal vorgeworfen, ihnen gehe es nur um hemmungslose Selbstbereicherung. Politikern der traditionellen Parteien wird unterstellt, sie wirkten als Büttel des Kapitals oder der Amerikaner dabei mit, Europas Bürger zu betrügen. Die klassischen Medien werden als 'Lügenpresse' abqualifiziert, um ihre Argumente ignorieren zu können". Wir leben, stellt er fest, in einem "Klima des Argwohns".

Was ist zu tun? Stefan Ulrich: "Als Erstes gilt es dabei, die Lüge von der grundsätzlich verlogenen Politik und der 'Lügenpresse' entlarven". Die alte, deutsche, anti-demokratische Redewendung von der Politik, die den Charakter verderben würde, ist das Klischee eines Ressentiments, das nicht mehr entlarvt werden muss. Stefan Ulrichs Generalverdacht hat einen ganz langen Bart. Die Lügenpresse auch - sie muss man heute, anders als in der Zeit der großen Umarmung in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, als den affektiv aufgeladenen Vorwurf derer übersetzen, die sich nicht vertreten fühlen und sich nicht wieder finden in dem, was gesagt oder geschrieben wird. Das muss auch nicht entlarvt, sondern verstanden werden. Zweitens, sagt Stefan Ulrich, "muss der Mut zur ungeschminkten Wahrheit wachsen". Die ungeschminkte Wahrheit ist ein Pleonasmus: Wahrheit ist stets ungeschminkt; Halb-Wahrheiten sind keine Wahrheiten. Hat Stefan Ulrich ein Problem mit der Wahrheit?

Die Treuherzigkeit des Autors ist das Problem. So schlicht lässt sich das Problem der Wahrheit in einer demokratisch verfassten Gesellschaft und in einer demokratischen Öffentlichkeit nicht ausbreiten. Wie erreicht die öffentliche Diskussion die, die sich ausgeschlossen fühlen und die ihrerseits ausgeschlossen werden, wenn sie mit einer zugegebenermaßen unglücklichen Formel operieren? Genügt deren Exklusion? Ist das nicht die Taktik der Tabuisierung, die seit dem Beginn der Bundesrepublik gepflegt wird? Und was ist, um den Journalisten Stefan Ulrich direkt in Sachen Wahrheit wagen zu befragen, mit dem methodischen (handwerklichen) Problem des Journalisten, der ein mehr oder weniger (wie wir) ausgeschlossener und gleichzeitig mehr oder weniger adressierter Beobachter politischer (öffentlicher und nicht-öffentlicher)  Prozesse ist?  Oder der, wenn er gewissermaßen in einer Form kalkulierten Vertrauens in die sonst abgesperrten bundespolitischen Zirkel und Gremien und Gespräche hineingebeten wird und sich (für künftige Arbeit) abhängig zu machen droht von den Verpflichtungen und Loyalitäten der so entstandenen Beziehungen?  Müssten die journalistischen Beziehungs-Formen zu denen, die beobachtet und hinsichtlich ihrer Absichten, Konzepte und Strategien interpretiert werden, nicht der Leserschaft mitgeteilt werden? Was ist mit der Abhängigkeit vom und mit dem Anpassungsdruck im journalistischen Geschäft? Die Fragen klingen vielleicht naiv - wer gibt schon wirklich genau Auskunft über die eigene berufliche Praxis - , aber sie hängen mit der Frage nach der Wahrheit zusammen.  Journalisten lügen, sagt Stefan Ulrich, wenn sie "Vermutungen als Tatsachen ausgeben". Das ist ein überraschend Konzeptions-loses Missverständnis: Vermutungen, als Vermutungen ausgesprochen, können nicht als Tatsachen behauptet werden. Stefan Ulrich meint: Behauptungen, die sich als Beschreibungen geben, aber Narrative der (behaupteten) Erklärung in den Kreislauf der Öffentlichkeit setzen. Es ist die Lust an der Behauptung  - vermute ich - , die zum Problem der Wahrheit des Journalismus gehört. Vermutungen sind unsere Bedeutungs-Entwürfe. Ohne Vermutungen kämen wir nicht voran. Im Wissenschafts-Betrieb werden sie als Hypothesen getestet. Für die öffentliche Diskussion sind journalistische Vermutungen die Testballons und (vielleicht) Anregungen für Aufregungen. Es ist gut, sie steigen zu lassen. Der methodische Zweifel sollte in den Texten allerdings seinen ausreichenden Platz haben.

Überarbeitung: 19.3.2015.

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