Freitag, 28. Februar 2014

Neues zur Heiligen Kuh VIII

Seite Eins der SZ von heute, dem 28.2.2014: "Ideen, die nicht zünden. Für Elektroautos fehlen noch immer leistungsfähige Akkus". Das technische Problem der Leistungsfähigkeit und Herstellung von Batterien interessiert mich jetzt nicht so sehr. Sondern die vertraute Fantasie von der Möglichkeit, den notwendigen Verzicht aufzuschieben.

Anfang der 70er Jahre wurde die Begrenztheit der Ölvorräte diskutiert. Der behutsame Umgang wurde empfohlen - der Verzicht auf das expansive Wachstum nahe gelegt. Die Bundesregierung führte vier Sonntage ein, an denen (bis auf Ausnahmen) das Autofahren nicht gestattet war. Welche Lösung wurde gefunden? Die Atomkraft. Sie verdrängte das damalige Interesse an der Sonnenenergie. Ein Kritiker der Atomenergie (deren Beherrschbarkeit und Kosten) brachte deren industrielle Ausbeutung auf das Bild eines Flugzeugs, das gestartet wird, ohne über eine Landebahn zu verfügen. Die Atomkraft  gestattete, den Verzicht aufzuschieben und über notwendige Einschränkungen nicht weiter nachzudenken.

Das Elektroauto lebt von der gleichen Fantasie, den Verzicht und die Einschränkung aufschieben zu können - das Argument vom sauberen Auto halte ich für eine Illusion. Wieder ist der Betrieb unvorbereitet: weder steht die Energie für die Millionen Autos, die gebaut werden müssten, um die alten zu ersetzen, zur Verfügung, noch gibt es angemessene, in Millionen-facher Verbreitung realisierbare Speichermedien. Heute schon müssen wir gut aufpassen, dass unsere elektronischen Geräte einen ausreichenden Ladezustand aufweisen. Wieder werden Milliarden ver-investiert, muss man befürchten, die vor allem dazu dienen, unser schlechtes Gewissen zu beruhigen, weil wir unsere Lebensformen weiter pflegen möchten wie bisher.

Donnerstag, 27. Februar 2014

Neues von der Heiligen Kuh VII

Es gibt natürlich auch gute Nachrichten. Gestern, am 26.2.2014, berichtete die SZ auf ihrer Seite Panorama (S. 8): "Weniger Tote im Straßenverkehr. Statistiker melden Rekordtief, doch Autobahnen werden gefährlicher": 2013 verunglückten 3340 Menschen tödlich  - 260 weniger als 2012. Im schlimmsten Jahr der Verkehrstoten, 1970, wurden knapp 20.000 Tote registriert - der Anlass für die Bundesregierung, ihre Verkehrspolitik zu forcieren: mit vermehrten Appellen, einem Tempolimit auf Landstraßen (mächtig umstritten) und der Einführung des (gesetzlich verordneten) Anlegens von Sicherheitsgurten (noch mächtiger umstritten). Am Ende dieses Jahrzehnts hatten wir die Empfehlung einer Geschwindigkeit auf Autobahnen von 130 km/h. Von ihr erfährt man heute nur etwas, wenn man aus dem Ausland kommend unsere Landesgrenzen überfährt und per Schild informiert wird über die Geschwindigkeitsregelungen auf unseren Straßen. Mit unseren Geschwindigkeits-unbegrenzten Autobahnen stehen wir einzig da und sind attraktiv für ausländische Besitzer bundesdeutscher Fabrikate, die gern ihre Pferde bei uns mal richtig galoppieren lassen wollen. Bislang lauteten die Gegenargumente gegen eine Geschwindigkeitsbegrenzung: 1. die schadet dem Verkauf bundesdeutscher Fahrzeuge (ist ungewiss, weil noch nicht ausprobiert); 2. die Autobahnen sind unsere sichersten Straßen (stimmt offenbar nicht mehr).

Wie das? Die Zahl der Toten stieg auf 387 ( um 8.1 Prozent). "Allein als Folge von Auffahrunfällen", so die Meldung, "habe es 28 Tote mehr gegeben. Noch seien die Unfallursachen aber  nicht im Detail bekannt". Es ist die Frage, ob wir sie im Detail erfahren. Es gibt eine paradoxe Entwicklung: einerseits haben sich die Umgangsformen (etwas) gebessert - Beleg: die Lichthupe wird so gut wie nie mehr benutzt (meine Erfahrung); allerdings sind das Heranschießen und das dichte Auffahren weiterhin  geläufige Umgangsformen. Andererseits schlagen viele Autofahrer eine gemächliche Gangart ein - was (vermutlich) ein Hinweis auf ein sich veränderndes Verhältnis zum Autofahren ist - bei einem weiterhin bestehenden Interesse anderer Autofahrer an hochgerüsteten Fahrzeugen und am Wunsch der interaktiven Macht-Entfaltung. Deshalb meine erste Hypothese: die Geschwindigkeits-Differenzen steigen und damit die dramatischen Konflikt-Situationen. Meine zweite, abgeleitete, weitreichende (und deshalb schwer zu überprüfende) Hypothese: das Autofahren dient weiterhin als das Feld für das Austragen gesellschaftlicher, psychosozialer Umbrüche.

Dazu scheint die  andere Nachricht zu passen - heute, am 27.2.2014 (Weiberfastnacht) in der SZ auf Seite 1: "Kluft zwischen Arm und Reich. Besonders in Deutschland sind Vermögen ungleich verteilt". Hängen beide Nachrichten zusammen? Sicherlich. Aber auf komplexe Weise. Man wird sicherlich nicht sagen können: In Deutschland sind die Automarken ungleich verteilt. Aber offenbar gibt es im Straßenverkehr ein ungünstiges, dysfunktionales Macht-Gefälle. Das müsste man im Detail untersuchen, wer wie in welchem Ausmaß die Umgangsformen dominiert - wie es in den 70er Jahren versucht wurde.

Was kann man noch tun, wenn man auf die Forschung nicht warten will? Ein Tempo-Limit einführen. Ein Limit ist ein Segen: man kann wieder ruhig fahren und muss nicht zusammenzucken vor knallhellen Kühler-Gesichtern im Rückspiegel.
Jetzt könnte man sogar die Mitglieder des ADAC dazu befragen.

Samstag, 22. Februar 2014

There's Always A Price Tag

James Hadley Chase (1906 - 1985), der britische Autor robuster Kriminalromane, hat eine seiner Arbeiten unter dem Titel There's Always A Price Tag (Man muss für alles zahlen) veröffentlicht. In vielen seiner Narrativen verstrickt sich der Protagonist - meistens einer sehr attraktiven Frau wegen - im  dissozialen Sog eines Verbrechens, für das er dann - buchstäblich - bezahlt. There's Always A Price Tag ist eine einfache, aber schwer zu realisierende Formel des Realitätssinns. Man kann sie auch übersetzen mit: was (immer) man getan hat, muss man verantworten. Das war zum Beispiel auch die Moral mancher handfester Western der 50er Jahre. Aber so nobel wurde die individuelle Moral wahrscheinlich selten ausgelegt. Wir sahen es nach 1945; jetzt sehen wir es wieder. Heute berichtet die SZ auf ihrer Seite 3 in einer großen Reportage über Ulrich Hoeneß, dessen "Fall ... noch größer als gedacht" sei - der nicht versteuerte, auf einem Schweizer Konto deponierte Millionenbetrag erweist sich größer als bislang (öffentlich) diskutiert. "In der Nacht des 16. Januar 2013" wurde am Tegernsee gerechnet und beratschlagt. "Es herrscht Panik, so wird es später einer der Beteiligten  beschreiben", berichten die Journalisten Hans Leyendecker und Georg Mascolo. Panik. Die Selbstanzeige fällt strafrechtlich unzureichend aus.

"Wessen Schuld ist das?", fragen die SZ-Autoren. "Die der Berater oder die von Hoeneß, der zur Eile antrieb? Würde dies eine Haftstrafe ohne Bewährung rechtfertigen? Für einen Mann, der im Gegensatz zu vielen anderen Steuersündern seit bald einem Jahr heftigen Anfeindungen ausgesetzt ist?", fragen sie weiter. Man sieht: die Autoren wollen niemanden verprellen. Erbarmen mit Hoeneß: es war ein Verfahrensfehler. Oder verstehe ich den Subtext falsch? Was wäre, wenn Ulrich Hoeneß sagt: ich übernehme die Verantwortung für meine Straftat?

Was ist mit Sebastian Edathy? Gibt es auch Mitleid mit ihm? Wann und wo und wie sollte  er sich verantworten angesichts unklarer strafrechtlich relevanter Schuld?    

Montag, 17. Februar 2014

Das Ringen um Rechtsstaatlichkeit

Eine demokratisch verfasste Gesellschaft lebt von der so genannten Gewaltenteilung. Das lernen wir alle in der Schule. Vom Kino wissen wir - das haben uns vor allem U.S.-Filme beigebracht: es gibt ständig Übergriffe; um die funktionierende Balance der Gewaltenteilung muss ständig gerungen werden. In den 70er Jahren, in den Kontexten des demokratischen Aufruhrs angesichts der korrupten Regierung, die sich durch den Einbruch im Watergate-Gebäude zu erkennen gab, entstanden Filme wie Alan J. Pakulas All the President's Men und Sidney Pollacks Three Days of the Condor. Sie sollten jetzt gesendet werden - als Anschauungsbeispiele für den Kampf um Rechtsstaatlichkeit. Sie hat zu tun mit der Überzeugung von Funktionen, Pflichten und Grenzen eines Amtes, die nicht überschritten werden dürfen. Das ist Ideal und Handlungsanweisung in einem. Werden sie überschritten, muss das Ausmaß der Grenzverletzung geprüft werden.

Fünf Amtsinhaber haben (bislang; meines Wissens) die Grenzen ihres Amtes verletzt: der (ehemalige) Landwirtschaftsminister, der Parteivorsitzende, der Außenminister, der Fraktionsführer der SPD und der Göttinger Polizeipräsident; wahrscheinlich fanden weit mehr Grenz-Verletzungen statt. Politiker der Union und der SPD argumentieren mit der Staatsraison - es wäre eine Katastrophe gewesen, wenn der  Bundestagsabgeordnete, gegen den die Hannoveraner Staatsanwaltschaft zu ermitteln begonnen hat, als Regierungsmitglied hätte zurücktreten müssen - , aber gemeint ist die Parteienraison, der die Annahme zugrunde liegt, man könnte uns nicht zutrauen, ausreichend zu unterscheiden. Diese Prämisse ist ein Skandal. Wählen ist gestattet; aber vom Ringen um die Re-Balancierung demokratischer Formen und demokratischer Grenzziehungen sollen wir ausgeschlossen werden. Es herrscht die Angst vor der demokratischen Auseinandersetzung der Klärung der Grenzverletzungen. Was Viele mit der jetzigen Koalition befürchteten, ist eingetreten: deren Kontrolle kann die kleine Opposition nicht leisten. Den Vorsitz des internen Kontrollausschusses, der am Mittwoch tagt, hat ein Politiker der CDU inne.       

Sonntag, 16. Februar 2014

Nicht ganz so Neues von der Heiligen Kuh VI

Jetzt (unsere Tochter machte mich drauf aufmerksam, die von ihrem Freund drauf aufmerksam gemacht wurde) gibt es einen Kurzfilm von Tobias Haase (der inzwischen ausgezeichnet wurde) - über den die SZ online im September vergangenen Jahres (17.9.2013) berichtete und den man auf You Tube sehen kann: gestochenscharf, in Grautönen, fährt ein Mercedes E in ein Dorf aus dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert ein; die Leute drehen sich um, viel heimliche Aufregung, ein 8- , 9-jähriger Junge rennt vors Auto und wird überfahren, während die Mutter entsetzt Adolf! schreit... Wir sind in Braunau am Inn (Ende des 19. Jahrhunderts), und der Junge hieß Adolf Hitler. Einblendung: der Collision Prevention Assist sieht Gefahren, bevor sie entstehen....

Eine gute Minute ist diese rabenschwarze, freche, souveräne Arbeit von Tobias Haase lang, der bundesdeutsche Gegenwart und deutsche Vergangenheit durcheinanderwirbelt - Mercedes' riesiger Fan (für die mächtigen Cabriolets)  kommt unter die Räder, die pompöse Werbung wird auf den Kopf gestellt, die Geschichte der nationalen Autobedeutung, die im Volks.... lebendig bleibt, angedeutet, unsere Anstrengung der Vergangenheitsbewältigung ironisiert, die Dämonisierung des Chefs des deutschen Staats zerstäubt. Wahrscheinlich muss man ein junger Mann sein, um das hinzubekommen: Chapeau bas!

Dienstag, 11. Februar 2014

Fremdheit

Wir haben das Fremdenzimmer - das allerdings nur noch selten plakatiert wird. Die Schweizer haben die Fremdarbeiter und benutzen das Wort regelmäßig. Damit sind meinem Verständnis nach zuerst die Italiener gemeint, die in der Schweizer Dienstleistungsindustrie arbeiten und kommen und gehen. Was machen wir mit dem Fremden? Die Frage ist einfach, die Antwort kompliziert. Im Sachs-Villatte von 1905, dem großen Deutsch-Französisch-Wörterbuch, wurde für unser Fremdenzimmer das Wort chambre d'ami angegeben. Im Englischen kenne ich keine Übersetzung für das Fremde im Fremdenzimmer. Die Integration des Fremden als des Anderen (im weitesten Sinne) ist eine enorme seelische Leistung; überfordert der, die oder das Andere, wird es ausgestoßen als das eigene Fremdgewordene oder Fremdgemachte. Die Gegenwart mit ihren Aufgaben der Differenzierung (Trennung) und Integration ist schwer erträglich. Das Versprechen und die Fantasie vom globalen Dorf sind - vermutlich -  am besten in der sicheren Entfernung von der Couch (mit warmen und trockenen Füßen) aus zu ertragen. Vielleicht gelingt es uns, diesen Protest unserer Nachbarn gegen die (moderne) Gegenwart zu verstehen und damit aufzunehmen - und nicht zu quittieren mit einem symmetrischen Wie-du-mir-so-ich-dir.

Montag, 10. Februar 2014

Neues von der Heiligen Kuh V

Sie wird momentan weniger Fantasie-reich genährt. Der ADAC - was man schon immer ahnte, aber nie auszusprechen wagte - erweist sich als der beflissene Verehrer der westdeutschen Autoindustrie: er hat zu viele Blumen verteilt - und sich dabei zu sehr rangeschmissen. Jetzt sollen die welken Blumen zurückgegeben werden. Bleibt die Frage, was die Verehrten von der Anstrengung ihrer Verehrer wussten. Zumindest wird es bei gutem Essen reichlich Schulterklopfen gegeben haben. Zweitens: Kriegen wir jetzt ein Tempolimit auf Autobahnen?

Sonntag, 9. Februar 2014

Nebel-Narrative

Im vergangenen Jahr hatten wir das Narrativ des Freundschaftsverrats. Das geht nicht, konstatierte damals die Bundeskanzlerin, die damit, meine Vermutung, der Veröffentlichung des SPIEGEL mit einer Inszenierung der Empörung glaubte zuvor kommen zu müssen (s. meinen Blog vom 12.11.2013). Auf den Verrat folgten die Reparatur-Versuche der Freundschaft: die politisch begründeten Beziehungs-Klärungs-Versuche, unterfüttert von einer Empörung über die (angeblich) unerwarteten Aktivitäten der U.S.-Geheimdienste. Gleichzeitig konnten wir in unseren Fernseh-Rederunden Differenzierungsversuche zwischen der Beziehungsrealität der Freundschaft und der Partnerschaft beobachten: U.S.-Politiker und U.S.-Politikerinnen bewegen sich in Beziehungen der Partnerschaft, nicht der Freundschaft. Freundschaft: das war schon die vom ersten Bundeskanzler gepflegte Erzählung vom freundschaftlich besetzten Land und dessen wachsender Souveränität, worüber unsere Regierungen unklare Auskunft gaben und geben. Dann kam die Bundestagswahl und mit ihr das Mutti-Narrativ - eine Erfindung der öffentlichen Diskussion, in der über die vermeintlich unerschütterliche Popularität der Kanzlerin gerätselt wurde; in meiner Wahrnehmung zum ersten Mal ausgesprochen in der SZ, die dem Psychoanalytiker Tilmann Moser das Forum einräumte, das Mutti-Narrativ als dessen Lesart ihrer kommunizierten Politik im vertrauten familiären Verständnis auszubreiten und das Verratsnarrativ fortzusetzen (s. meinen Blog vom 27.8.2013). Der Wahlsieg der Union war dann - in dieser Lesart - der Ausdruck einer Mutter-Sehnsucht. Jetzt haben wir das Klatsch-Narrativ. Jeder kennt das Muster und die Falle: Heinz fragt Paul, ob er gehört hätte, was Gerd gestern über ihn sagte. Paul, wenn er klug ist, wird sich für diese Frage bedanken und Heinz fragen, was er ihm damit sagen wolle; womit Heinz nicht mehr als der wolhlwollende Bote durchgeht, sondern als ein intriganter Täter dasteht. Reagiert er unklug und uncool, wird Paul sich nach Gerds Aussage erkundigen. Womit Paul die Regel des Takts verletzt, auf nur an ihn direkt (und nicht über Bande) adressierte Kommunikationen zu reagieren, und sich in der Spirale des Klatsch-Narrativs verwickelt. Jetzt hat die U.S.-Amerikanerin Victoria Nuland, für die politischen Beziehungen zu Europa zuständig, in einem Telefonat mit ihrem Kollegen Geoff Pyatt (Botschafter in Kiew) robust auf Europa geschimpft. Offenbar hat der russische Geheimdienst ihren Fluch an die Öffentlichkeit zur Verfügung weiter gegeben. Niemand hat sich bislang (meines Wissens) für diese Art politischen Klatschs empört (und Victoria Neuland in Schutz genommen), sondern über den an die bundesdeutsche Öffentlichkeit nicht adressierten, nicht so freundlich gemeinten Fluch. Schon wieder ist das Narrativ des Freundschaftsbeziehungs-Verrats in Gang gekommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel, im Kontext des Klatsch-Narrativs, hält das für absolut inakzeptabel, Kurt Kister, Chef-Redakteur der SZ für spätpubertäre Kraftmeierei (8./9.2.2014, S. 4, Nr. 32), der "oft Überzeugungen zugrunde liegen" würde (welche meint er wohl?); Klaus-Dieter Frankenberger empfiehlt (FAZ, 8.2.2014, Nr. 33, S. 1) zumindest, den Empörungspegel runterzufahren.

Was besagt dieser Strauß an Polit-Narrativen?
1. Politik-Kontexte werden in den öffentlichen Foren als Erzählungen vertrauter familiärer, intimer Fantasien kommuniziert. Die Fantasien sind unterfüttert mit den Sehnsüchten und Wünschen nach Verschmelzung und möglichst geringer Differenzierung (Freunde sind einem nah, vertraut und betonen die Gemeinsamkeiten, kaum die Differenzen): wir befinden uns in unseren vier Wänden, in denen wir unsere alltäglichen, persönlichen, nicht riskanten (fremden) Beziehungen pflegen. Solche Fantasien haben mit den demokratischen Prozessen der Auseinandersetzung und des Aushandelns von Differenzen und fremden Interessen bei sehr unterschiedlichen Beziehungen wenig zu tun; denn bei ihnen geht gerade es um den Umgang mit Fremdheit, Konflikten und Kompromissen. Diese hier aufgelisteten Polit-Narrative deuten das Niveau unserer demokratischen Kultur an.
2. Natürlich kann man von den kommunizierten Narrativen, die so viel Aufmerksamkeit der öffentlichen Diskussion beanspruchen, nicht auf die Beziehungsrealität schließen, in der bundesdeutsche politische Prozesse in den nicht-öffentlichen Räumen stattfinden. Aber sie dienen der Verständigung über politische Prozesse; wobei sie einen kommunikativen Nebel erzeugen, der die Politik unserer Verfassungsorgane verdeckt. Bevorzugt werden Fantasie-geladene Metapher wie beispielsweise Schirm oder Wende; die dazu gehörige Politik wird unzureichend erklärt. Angela Merkel erzählt - vermutlich mit Bedacht und beraten von ihren Beratern -  die familiaristischen Geschichten weiter. Was machen übrigens unsere Geheimdienste?  Sie scheinen sich buchstäblich hinter dem breiten Rücken ihrer U.S.-Kollegen zu verstecken; während ich das Bild der U.S.-Behörde vor Augen habe, weiß ich gar nicht, wie unsere Behörde aussieht.

Freitag, 7. Februar 2014

Zur Müdigkeit der Psychoanalyse

Heute bespricht im Feuilleton-Teil der SZ (7.2.2014, S. 14, Nr. 31) Meike Fessmann den neuen Roman von Navid Kermanni: Große Liebe. Navid Kermani erzählt von einer offenbar heftigen adoleszenten Verliebtheit. Ihr letzter Satz:
 "Vielleicht liefert die Religion, neben der etwas müde gewordenen Psychoanalyse und dem Utilitarismus der Evolutionstheorie, das einzige Modell, in dem die Liebe so weit verklärt werden kann, dass sie die Liebenden in  einer einzigen Bewegung umgreift".

Meike Fessmanns Wort von der etwas müde gewordenen Psychoanalyse ist mir nachgegangen. Sie deutet einen Verlust an. Welchen? Ein einziger Satz ist natürlich eine schmale empirische Basis für eine Antwort. Dennoch: offenbar vermisst sie einen intellektuellen Schwung -  die mitreißende Deutung, den mitreißenden Text. Ihr Eindruck der Müdigkeit deutet an, dass die psychoanalytisch orientierten Autorinnen und Autoren verstummt wirken. Vielleicht. Ich beobachte, dass psychoanalytische Konzepte übersehen oder nicht erinnert werden. Vor zwei Tagen (s. meinen Blog "Der Koch kocht in der Küche) machte die SZ mit einer Untersuchung auf, die die Umschriften des Gedächtnisses in der Gehirnregion des Hippocampus lokalisierte; das war gewissermaßen eine späte Bestätigung des Konzepts der Nachträglichkeit von Sigmund Freud und der Beschreibung der Umarbeitung der Erinnerung von Friedrich Nietzsche. Heute haben wir die regelmäßig vermeldete Verdopplung psychoanalytischer Konzepte durch so genannte neurowissenschaftliche Befunde, die als Entdeckungen gefeiert, aber als Wiederholungen bekannter Konzepte kaum wahrgenommen werden. Wir erfahren täglich, wie Nachricht auf Nachricht gehäuft wird, die die Wahrnehmung des immensen globalen Leids verstärken und die Furcht vor der Komplexität unserer Welt in Gang halten, aber das Verständnis nicht fördern. In dieser Kakophonie vermischter Texte und vermischter Affekte mit Verständnis-Versuchen durchzudringen, ist enorm schwierig.

Mittwoch, 5. Februar 2014

"Gelegenheit macht Diebe"

Wolfgang Franzen, den die SZ heute (5.2.2014, S. 9, Nr. 29) mit einem Interview als "Steuerpsychologe von der Forschungsstelle für empirische Sozialökonomie" vorstellt, antwortet auf die Frage, weshalb vom wem Steuer-Betrug begangen wird:

"Gelegenheit macht Diebe. Selbstständige etwa haben andere Möglichkeiten als Angestellte. Und Reiche lassen sich beraten, wo sie ihr Geld parken können. Andererseits gilt aber auch für Menschen, die aktuell keine Gelegenheit zur Hinterziehung haben: Wenn sie könnten, würden sie es tun".

Im Englischen heißt es anders: Don't invite crime. Der Täter wartet, seine Straftat zu begehen; darum sei vorsichtig. Die englische Redewendung gilt für Kriminelle oder, anders gesagt, für Leute mit dysfunktionalem Gewissen und einer Neigung zum Realitätsverlust. Denn nicht jeder steigt in einen unverschlossenen Pkw und räumt ihn aus oder braust damit davon.  Dass jeder stehlen würde, sähe er die Möglichkeit, ungeschoren davon zu kommen - ist eine jener seltsamen deutschen Behauptungen moralischer Großzügigkeit, die den Status einer Allaussage hat. Sie ist eine wilde (Theorie-lose) Vermutung und lässt sich nicht überprüfen. Sie stellt eine ethische, intellektuelle, wissenschaftliche Nachlässigkeit dar. Wenn wir alle eine laxe Moral pflegen, müssen wir uns nicht verantworten und Schuld differenzieren. Das ist der Trick der Entschuldung mit dieser Logik: weil jeder wahrscheinlich einmal zu schnell gefahren ist oder falsch geparkt hat, ist er oder sie auch anfällig für gravierende, strafrechtlich relevante Handlungen. Das Problem der Stabilität unserer Zivilisiertheit ist enorm kompliziert, das Problem, wann wir wie in welchen Kontexten handeln, mit der Rede von der Gelegenheit nicht geklärt. Den öffentlichen Aufschrei bewegen viele Kontexte; Steuer-Redlichkeit gehört zu dem gemeinsamen Handeln, das das Gefühl von Gerechtigkeit unserer Gesellschaft bestätigt. Wird es verletzt, ist der Kern unseres Selbstverständnisses betroffen. Um eine ausführliche (heftige) öffentliche Diskussion kommen wir nicht herum.

Another pint of Bitter, please!

Fotos sollen bekanntlich viel sagen; manchmal irritieren sie nur. Heute in der SZ auf Seite 7 (5.2.2014, Nr. 29): "Die unfeine britische Art" ist der Text getitelt und auf Nigel Farage, Politiker der unfeinen UK Independence Party, gemünzt. Illustriert wird der Text mit einem Foto, auf dem im Ledersessel Nigel Farage die Geste des lächelnden Abwehrens macht - neben ihm stehen auf einem der typischen englischen Kneipentischchen ein Bier- und ein Wasserglas. Die Foto-Unterschrift: "Nigel Farage, Chef der Ukip, zischt ein Pint Bier in einem Pub in Buckinghamshire". Vom Zischen kann keine Rede sein: zwei Drittel des Glases sind getrunken, der Rest Bitter sieht ziemlich abgestanden aus; ein Bier-Trinker trinkt anders. Weshalb sagt uns der Bild-Redakteur, Farage zische sein Bier? Ich müsste den Text lesen.  

Der Koch kocht in der Küche

Heute platziert die SZ auf ihrer ersten Seite den Text-Kasten über die Erinnerung (5.2.2014, Nr. 29). Die Überschrift lautet: "Kaum etwas ist so unzuverlässig wie die eigene Erinnerung". Anlass ist eine Untersuchung von Donna Bridge, wie Katrin Blawat schreibt, von der Northwestern University in Chicago; es geht um das Verfälschen unserer Erinnerungen. "Federführend", so Katrin Blawat, sei die Hirnregion Hippocampus. Federführend. Ein hübsches Bild: wir sehen den Sekretär, der mitschreibt. Wie macht der Hippocampus das? Weiß man nicht. Die nordamerikanischen Forscher nehmen an, "er arbeite wie ein Regisseur, der einzelne, unzusammenhängende Sequenzen so zusammenfügt, dass sie eine schlüssige Geschichte ergeben". Ja, abgesehen davon, dass der Cutter die Kino-Erählung (normalerweise) organisiert - Donna Bridge scheint seltsamerweise keine Kinogängerin zu sein -,  wissen wir jetzt noch immer nicht, wie der Hippocampus das macht. Aber wir wissen, wer es macht. Wir sind so klug wie ein Spaziergänger, der ein Haus passiert, in die Küche schaut und den Koch am Herd hantieren sieht: vermutlich bereitet er ein Essen zu.