Freitag, 7. Februar 2014

Zur Müdigkeit der Psychoanalyse

Heute bespricht im Feuilleton-Teil der SZ (7.2.2014, S. 14, Nr. 31) Meike Fessmann den neuen Roman von Navid Kermanni: Große Liebe. Navid Kermani erzählt von einer offenbar heftigen adoleszenten Verliebtheit. Ihr letzter Satz:
 "Vielleicht liefert die Religion, neben der etwas müde gewordenen Psychoanalyse und dem Utilitarismus der Evolutionstheorie, das einzige Modell, in dem die Liebe so weit verklärt werden kann, dass sie die Liebenden in  einer einzigen Bewegung umgreift".

Meike Fessmanns Wort von der etwas müde gewordenen Psychoanalyse ist mir nachgegangen. Sie deutet einen Verlust an. Welchen? Ein einziger Satz ist natürlich eine schmale empirische Basis für eine Antwort. Dennoch: offenbar vermisst sie einen intellektuellen Schwung -  die mitreißende Deutung, den mitreißenden Text. Ihr Eindruck der Müdigkeit deutet an, dass die psychoanalytisch orientierten Autorinnen und Autoren verstummt wirken. Vielleicht. Ich beobachte, dass psychoanalytische Konzepte übersehen oder nicht erinnert werden. Vor zwei Tagen (s. meinen Blog "Der Koch kocht in der Küche) machte die SZ mit einer Untersuchung auf, die die Umschriften des Gedächtnisses in der Gehirnregion des Hippocampus lokalisierte; das war gewissermaßen eine späte Bestätigung des Konzepts der Nachträglichkeit von Sigmund Freud und der Beschreibung der Umarbeitung der Erinnerung von Friedrich Nietzsche. Heute haben wir die regelmäßig vermeldete Verdopplung psychoanalytischer Konzepte durch so genannte neurowissenschaftliche Befunde, die als Entdeckungen gefeiert, aber als Wiederholungen bekannter Konzepte kaum wahrgenommen werden. Wir erfahren täglich, wie Nachricht auf Nachricht gehäuft wird, die die Wahrnehmung des immensen globalen Leids verstärken und die Furcht vor der Komplexität unserer Welt in Gang halten, aber das Verständnis nicht fördern. In dieser Kakophonie vermischter Texte und vermischter Affekte mit Verständnis-Versuchen durchzudringen, ist enorm schwierig.

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