Donnerstag, 28. Februar 2019

Treuherzige Ängstlichkeit (Journalismus-Lektüre - Beobachtung der Beobachter) (87)

Die deutschen Diesel-"Gelbwesten" las ich heute Morgen (28.2.2019, S.1) in der Frankfurter Allgemeine Zeitung. Rüdiger Soldt hat so seinen Kommentar mit dem Subtext der ängstlichen Besorgnis überschrieben: französische Verhältnisse auch bei uns?

Rüdiger Soldt verrührt die Kontexte.

"Nach dem Migrationsthema könnten auch die Fahrverbote und die Diskussion über die Zukunft des Dieselmotors ein Spaltungspotential entfalten".

Ein Satz des Schummelns: der falsch verknüpften Kausalitäten. Es begann mit dem kriminellen Betrug der leitenden, selbstherrlichen und korrupten VW-Leute, die als beste Lösung der Gesetzestreue eine vermeintlich schlaue Software erfanden. Darauf folgten das Betrugseingeständnis, die gebrochenen Versprechen (Aufklärung!) und die Verschanzung der VW-Leute, die sich weigerten, eine schnelle angemessene Entschädigung zu leisten, aber die Kosten hierzulande  auf ihre Kunden abzuwälzen suchten, woraufhin deren geflickschusterte Fahrzeuge mit Dieselantrieb nicht mehr in unseren Straßenverkehr zu passen drohten. Unsere Regierung bat auf Knien um Abhilfe. Die leitenden Herren wandten und rauften sich die Haare. Sie spielten auf Zeit. Die Kosten! Die Kosten! So verspielten sie die Chance,  die neuen Leistungen des Dieselantriebs unter Beweis zu stellen mit großzügigen Reparaturen. Stattdessen Kleinkrämerei, Milchmädchenrechnungen, Bluff und weiterer Betrug. Da sollen die Leute nicht ärgerlich werden? Folgte auf die Manöver des (öffentlichen) Betrügens und Hinhaltens die gerichtliche Klärung.

Zweitens.  Der automobile Individualverkehr kommt an sein Ende. Es geht um andere Lebensformen und Lebenswünsche. Da sollen die Leute nicht sehr besorgt werden? Wie wollen wir weiterleben auf einem Planeten, dessen Lebensbedingungen für uns schrumpfen? (s. meine Blogs Tempolimit, Panische Gereiztheit und guter Dokumentarfilm vom 30.1., 21.2. und 28.2.2019).  

Wie macht man einen guten Dokumentarfilm schlecht? (Lektüre des Journalismus - Beobachtung der Beobachter) (86)

Indem Dominic Egizzis Ausgebremst - der Überlebenskampf der Autobauer zum alten Eisen erklärt wird. ARTE hat den Dokumentarfilm am 26.2.2019 ausgestrahlt; bis Ende März kann er in der Mediathek des Senders abgerufen werden. Martin Gropp hat ihn in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (vom 26.2.2019, S. 13, Nr. 48) mit den Schlagzeilen vorgestellt: Szenen aus dem Altreifen-Lager. Abgefahren: Eine Arte-Dokumentation zum Zustand der Autobranche will zu viel und wirkt dabei recht gestrig. In einem Wort, Martin Gropp übersetzt: muß man nicht einschalten.

Muss man doch. Dominic Egizzi beschreibt präzis die Not der Illusion der Autoindustrie: ihre leitenden Herren - man sieht nur Auto-Männer - treten auf der Stelle, ohne Einsicht,  dass wir andere, aufeinander abgestimmte Formen der Mobilität - in denen das Automobil zurücktritt -  brauchen. Ihre Millionen und Abermillionen geplante Vierräder-Kutschen, mit Verbrennungs- oder Elektromotor, mit oder ohne Piloten, verstopfen unsere Lebenswelten, beuten unseren Planten nur aus und vergeuden enorme Mittel.

Ausgebremst: Martin Gropp ist eingestimmt auf die Verleugnung des Stillstandes. Gestrig ist er. Im Frankfurter Printmedium verbreitet, ist das eine schlechte, weil beunruhigende Nachricht: die treuherzige Ignoranz ist salonfähig. Dominic Egizzis Arbeit ist sehr zu empfehlen. Zum Glück gibt es die Mediathek.

Mittwoch, 27. Februar 2019

Stuss im Quadrat - über die angebliche "Macht der Einbildung"

Einbildung ist auch eine Bildung, sagten wir früher. Jetzt posaunt Martin Andree seine, wie er wähnt, Entdeckung des Jahrhunderts heraus: Ein Placebo ist die beste Medizin. Der Text erschien in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (vom 17.2.2019). Martin Andree ist der Autor des Buches Placebo-Effekte. Vor Begeisterung schlägt er Purzelbäume des Spotts - hier eine Kostprobe:

"Wenn man die Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Placebo-Forschung ernst nehmen würde, müsste man beispielsweise sofort das Curriculum der medizinischen Ausbildung grundlegend verändern. Wenn durchschnittlich ein Drittel medizinischer Behandlungseffekte auf Placebo-Effekten beruhen, die ausschließlich durch das Theaterstück der therapeutischen Aufführung, seine Requisiten (Stethoskop, weiße Kittel, Ampullen, Kanülen et cetera) und Rituale hervorgerufen werden, dann müsste man eigentlich zum Wohle der Patienten diese Ärzte zu viel besseren Schauspielern ausbilden".

Manchmal werden Autoren von ihren Sätzen besoffen. Martin Andree sitzt der alten Idee einer Objektivität auf, die ihren Wahrheitsanspruch aus vermeintlich neutralen Meßergebnissen (sind sie natürlich nicht: das Instrument des Messens beeinflusst ebenso) ableitet. Seit über zweitausend Jahren wird über die Realität der Subjektivität nachgedacht. Seit dem ausgehenden 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts wird für die Wahrnehmung der seelischen (interaktiven) Realität laut getrommelt - Martin Andree hat's überhört. Die Placebo-Effekt genannte Wirksamkeit gehört in die individuelle Realität der inneren, lebensgeschichtlich gewachsenen Welt von Beziehungen und in die Realität der therapeutischen Beziehung. Sie ist die Grundlage der Qualität der Begegnung und entscheidet mit. Martin Andree hat sie noch nicht entdeckt. Er redet einfach daher und hinkt ganz schön hinterher.


Donnerstag, 21. Februar 2019

Eine Hypothese zur bundesdeutschen (panischen) Gereiztheit angesichts von: Klimawandel/Energiewende/Grenzwerten/Fahrverboten/Dieselbetrug/Elektromobilität/ fahrerlosen Autos/Flugtaxis

Der Airbus 380 wird in ein paar Jahren - von 2021 ist die Rede, aber wer weiß? - nicht mehr gebaut. Geplatzte Riesenträume nannte Christian Schubert seinen kurzen Kommentar-Text, Ende eines Irrtums seinen langen Text (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.2.2019, S. 1 und S. 3). Jetzt ist es leicht, die Leute von Airbus zu verachten oder zu verspotten, weil man sich besonders schlau dünkt - hinterher weiß man manches besser. Vielleicht, vielleicht. Denn das Hinterher haben wir noch längst nicht hinter uns: wir sind mitten drin. Vielleicht wird das Riesenflugzeug doch noch gebraucht - dann, wenn Flugreisen rationiert und nur gestartet werden, wenn die Flugzeuge auch ausgebucht sind...

Worin bestand denn der Irrtum? In der Überschätzung des Konzepts Wachstum -  als irgendwann in den 90er Jahren (wann, weiß ich nicht) mit der Planung dieser Milliarden-Investition begonnen wurde? Damals gab es sicherliche plausible Begründungen. Das Konzept Wachstum ist aber, wenn wir uns umsehen und umhören,  nicht widerlegt. Es gilt weiterhin als tragfähig. Die Airbus-Leute haben sich bloß geirrt, heißt in der F.A.Z.

Dass das Konzept Wachstum ein ausgelatschtes Paradigma darstellt, weiß doch jeder. Oder nicht? 1977 veröffentlichte Fred Hirsch, damals Professor für Internationale Studien an der Universität Warwick, seine Arbeit Social Limits to Growth. Wachstum  ist nicht nur ein ökonomisches Konzept  - im Augenblick mit der düstereren Aussicht einer Steigerungsprognose von einem Prozent - , sondern auch ein Versprechen der Grenzenlosigkeit: wenn es läuft, läuft es grandios. Wachstum, so gesehen, lebt von der Fantasie weit reichender Lebensmöglichkeiten und animiert zum Verleugnen und zum Ausblenden der Frage: wo wollen wir mit den Ausgeburten unserer maßlosen Produktivität hin?

Die Bewohnbarkeit unseres Planeten schrumpft und schrumpft - hat neulich Bill McKibben erneut beschrieben (The New Yorker, 26.11.2018, S.  46 - 55: Life on a Shrinking Planet). Schöne Aussichten kann man da nur sagen - vor allem für die jungen Generationen. Es wird knapp.  Die Stadt Basel hat sich jetzt auf eine (gesetzlich nicht bindende) Resolution verständigt, dem Klimawandel höchste Priorität einzuräumen. Was machen wir?

Es wird weiterhin vom Wachstum fantasiert. Was ist mit: Einhalten und Nachdenken? Die Energiewende ist das unser geläufiges Verdeckwort für die enorm komplizerte Transformation unserer Energieversorgung - wir müssten gründlich nachdenken über die notwendige, relevante Korrektur unserer Lebensformen, wozu auch unsere Lebenswünsche und Lebensbewegungen gehören. Energiewende suggeriert die schnelle (korrigierende) Lenkbewegung, keine grundlegende Veränderung. Landauf, landab wird das Verdeckwort repetiert - als eine Formel der Beruhigung. Gleichzeitig wird als Begründung der Klimawandel eingeschoben und an die Klimaziele mittels Grenzwerte erinnert - um sie später fallen zu lassen, wie wir das von den guten Vorsätzen am Jahresbeginn kennen: die routinierte Beruhigung des schlechten Gewissens.  

Energiewende verspricht die kurzfristige, schmerzlose Korrektur und unterstützt das Weiterfantasieren der bundesdeutschen Lebenswünsche und Lebensformen. Die Angelsachsen haben dafür die Redewendung: you can't eat the cake and have it. Aber wir können das oder wir schaffen das - sagt unsere Bundeskanzlerin. Aber wir scheinen den Realitätskontakt zu verlieren. Wer rechnet unsere Lebenswünsche durch und unseren Lebensbedarf aus?  Heute dekliniert Georg Cremer die Komplexität der Kosten für unsere Sozialsysteme durch (F.A.Z. vom 24.2.2019, S. 6: Wohltätiger Staat ja, lästiger Staat nein?) Ist das gern gesehen? Welche Konzepte folgen daraus? Haben unsere Bundeskanzlerin, die ihre promovierte Physikerin-Identität behauptet, und ihre Mannschaft ein Konzept? Vielleicht ist das von Svenja Schulze, unserer Bundesumweltministerin, vorgelegte Bundesklimaschutzgesetz der mögliche Rahmen für ein Konzept - das allerdings umstritten ist innerhalb der Koalition und möglicherweise keine Chance hat, zu einem Gesetz zu werden (F.A.Z. vom 22.2.2019, S. 17). Vernünftig wären beispielsweise Konzepte, die organische Prozesse einsetzen - wie Klaus Wiegandt, der (wie Harald Welzer im Kölner Stadt-Anzeiger vom 23./24.2.2019, S. 4, schreibt) auf die "Trias aus (Regen-)Waldschutz, Renaturierung degenerierter Wälder und großflächiger Wiederaufforstung" setzt mit dem Ziel: "Zeit kaufen, Co2 durch Wälder absorbieren, um den Umbau zu einer postfossilen Weltwirtschaft überhaupt zu ermöglichen". Die Kosten hierfür: 140 Milliarden Dollar pro Jahr.

Das ist viel Geld. Verglichen mit den kursierenden Hauruck-Schnapsideen und den Wende-Manövern hastig betriebener Energie-Wechsel wahrscheinlich gut angelegt. Elektromobilität im weltweiten Zuschnitt, nicht abgestimmt auf ein Konzept anderer Mobilität und anderer Energie-Versorgung, ist eine Schnapsidee. Die fahrerlose Mobilität, die uns wie auf Schienen fahren lässt, und vom baldigen Austausch der individuell gesteuerten Fahrzeuge fantasiert, ist eine Schnapsidee:  angetrieben werden sie von Elektromotoren mit Batterien, von denen wir nicht wissen, wie & wo sie millionenfach produziert werden können und wie sie sich bewähren werden, aufgeladen an Millionen Steckdosen, von denen erst ein paar existieren. Die Maut ist eine Schnapsidee  - und die über unseren Köpfen schwebenden Flugtaxis, die unsere Mobilität beschleunigen sollen, sind eine Schnapsidee.  Was uns diese Schnapsideen kosten, wissen wir nicht.  Unsere Fantasien heben ab und rotieren gewaltig mit zentrifugaler Kraft. Kein Wunder,  dass wir in eine Art panischer Gereiztheit  stecken.

(Überarbeitung: 25.2.2019)