Sonntag, 31. Juli 2016

Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter) XXXII: Play it cool!

Gestern, dachte ich, als ich die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in der Hand hielt, ein Blatt der redaktionellen Aufgeregtheit aufzuschlagen (31.7.2016). Schon die erste Seite mit ihrer Stimmungs-mächtigen Schlagzeile Jugendliche spielen Amokläufe nach. Du meine Güte, dachte ich mit Schrecken: im Internet tummeln sich die potentiellen Mörder - war mein erster Einfall.

Mein zweiter Einfall: das kennst du - das je nach Gemütslage mehr oder weniger genussvolle Nachschmecken des fremden Leids, das Sich-Aufrichten und Sich-Beruhigen am fremden Leid. Schadenfreude ist die schönste Freude sagt unsere Alltagsweisheit bösartig-klug, aber präzise; im Englischen und Französischen gibt es übrigens das Wort Schadenfreude nicht. Das Vergnügen am Mord aus sicherer Entfernung zu pflegen, wird uns jeden Tag offeriert. Allerdings ist das Vergnügen am Mord ein schwieriges Vergnügen: der Blick in den Abgrund und das Elend des Tabubruchs. Weil es Tag für Tag im Wohnzimmer gepflegt wird, fällt es beim Nägelkauen oder Chips-Knabbern nicht auf. Manchmal, wenn es in den Tagesthemen einem entgegen zu kommen scheint, wird es ziemlich getrübt - dann dominieren der Schrecken, das Entsetzen, das Leid in einer Verfassung der Sorge und Aufgeregtheit. Freuds Konzept des Liebes- und des Todestriebs - verspottet und umstritten - ist noch immer relevant. Bislang ist es noch nicht widerlegt. Die Impulse des Liebens müssen die Impulse des Zerstörens binden können - sonst wird es ungemütlich. Es ist, so Freud, ein Wettlauf. Er ist noch nicht zugunsten der Lust an der Zerstörung entschieden. Jugendliche testen exzessiv ihre widersprüchlichen Impulse. Wenn wir uns gut erinnern, wissen wir: als Jugendliche spielten wir mit Vergnügen aggressive Spiele. Was würde man heute dazu sagen, dass wir früher regelmäßig rauften und uns prügelten, uns gegenseitig erschossen und uns vernichtende Vokabeln zusteckten? Früher blieb das robuste aggressive Vergnügen unter uns; kein Erwachsener erfuhr davon. Heute wird es gesteigert, indem es in einem imaginierten Forum von (wie auch immer ) Bekannten und von (fantasierten) Unbekannten geteilt und getestet wird; man kann annehmen, dass die vermuteten Jugendlichen auch eine erwachsene, sie orientierende Antwort auf ihr robustes Vergnügen erwarten. Man müsste sie sprechen können.

Mein dritter Einfall: was die Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zu meinem Frühstück auftischte, hat einen langen Bart. In den 50er Jahren kam die Frage zur verrohenden Wirkung von Kino-Gewalt in der Forschungs-Fragestellung auf: machen aggressive Kinofilme aggressiv? Ja und nein. Es hängt von den Suchbewegungen des Rezipienten oder der Rezipientin ab: wer sucht, der findet, und welchen Einfluss das, was er findet, auf ihn oder sie hat - hängt wieder um von den Suchbewegungen und den Realisierungswünschen ab. Der Weg zum Mord ist lang - Mord hat eine lange Vorgeschichte.

Mein vierter Einfall: zur später in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung aufgeworfenen Frage Kann man Terroristen erkennen? Nein, man kann es nicht. Die möglichen (Handlungs-bereiten) Täter müssten über ihre Impulse, Fantasien, Affekte Auskunft geben. Anders geht es nicht. Deshalb ist die erste und beste Prävention: der Kontakt der Eltern  zu ihren Kindern - sie sollten in etwa wissen, was ihre Kinder bewegt und wie ihre Interessen aussehen; sie sollten also in einem offenen Gesprächskontakt mit ihren Kindern stehen - wobei es die Kunst der Eltern ist, die Intimität ihrer Kinder zu bewahren und dennoch mit ihnen einen regelmäßigen relevanten Austausch zu pflegen.

Fünftens. Meine Erleichterung bei der Sonntags-Lektüre kam, als ich im Feuilleton (S. 37 - 38) das Gespräch mit Gerhart Baum, Burkhard Hirsch, Julia Encke und Anne Ameri-Siemens (von der  Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung) las über das Theaterstück von Ferdinand von Schirach Terror. Gerhart Baum: "Die Bundesrepublik hat sogar völkerrechtlich anerkannt, dass der Abschuss eines Passagierflugzeugs ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist, und sich verpflichtet, Terroristen nicht als Soldaten in einem Krieg zu behandeln, sondern als Verbrecher. Ich wehre mich leidenschaftlich gegen die ständigen Versuche, zu insinuieren, es handele sich in Wirklichkeit um einen kriegsähnlichen Zustand, in dem wir uns befinden".

Sechstens. Gelassene Töne dringen schlecht durch.  Heute lese ich auf der ersten Seite der  Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.8.2016) den Text von Jörg Bremer: "Nicht mutlos werden!"Jörg Bremer lobte Papst Franziskus für dessen Wort: "Das ist Krieg". Jörg Bremer: "Nicht nur der Papst benutzt dieses harte Wort, sondern auch Frankreichs Präsident Hollande. Und am vergangenen Donnerstag nahm auch Bundeskanzlerin Merkel das Wort 'Krieg' in den Mund". Wie war das mit Gerhart Baum? Wird er gehört?


(Überarbeitung: 1.8.2016) 

Freitag, 29. Juli 2016

Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter) XXXI: Schludern

Heute, am 29.7.2016, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf Seite Eins: der Text von Klaus-Dieter Frankenberger "Clinton gegen den Populisten". Der Populist hat natürlich einen Namen: Donald Trump. Es ist ja nicht so wie bei dem Herrn Voldemort, dessen Namen man nicht aussprechen soll. In der Mitte des Texts. Klaus-Dieter Frankenberger schreibt:

"Offenkundig kommt der Trumpismus besonders bei weißen Wählern ohne College-Ausbildung sehr gut an. Das sind soziologisch und mentalitäts-politisch die Milieus, die im Vereinigten Königsreich der Brexit-Kampagne zum Erfolg verhalfen". Was einfach aussieht, muss nicht zutreffen. Die Unterschicht! Die Unterschicht! Die Bildungs-fernen Schichten! Die Bildungs-fernen Schichten! Wenn es so einfach einfach wäre. Gestern konnte man in der F.A.Z.  lesen: "Die Republikaner sind erste Wahl. Amerikanische Mitarbeiter deutscher Konzerne spenden über Kommitees vor allem für die Konservativen" (28.7.2016, S. 16). Wie das? Was sagt Klaus-Dieter Frankenberger dazu? Wer sind diese amerikanischen Mitarbeiter?   

Worte zum Einlullen V: "Verhöhnen"

Gestern in der Bundespressekonferenz sagte unsere Bundeskanzlerin:

"Dass die zwei Männer, die für die Taten von Ansbach und Würzburg verantwortlich sind, verhöhnt das Land, das sie aufgenommen hat. Es verhöhnt die ehrenamtlichen Helfer, es verhöhnt die Flüchtlinge..."

Verhöhnen. Das Verbum, bei dem ich stutzte. Es führt eine Klage: über schlechte Gäste, die eine Gastfreundschaft nicht schätzen. Die Gastgeberin beklagt sich. Leider vertut man sich schon einmal mit seinen Gästen, die sich schlecht benehmen und einem das Fest verderben. Wir kennen die Klage von tief enttäuschten Eltern, die ihrem Kind vorhalten: wir haben alles für dich getan - und jetzt das .... Die Klage ist verständlich, trifft aber möglicherweise nicht die ganze Wahrheit.

Darf die Bundeskanzlerin klagen? Natürlich. Aber sie mischte gestern einen vertrauten familiären, persönlichen Kontext der Enttäuschung und Hilflosigkeit in die Kontexte ihrer Aussagen. Ist das angemessen? Sicher nicht für den politischen, psychosozialen Kontext des Mords oder wie im Fall von Ansbach und Würzburg des versuchten Mords.     

Dienstag, 26. Juli 2016

Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter) XXX: Klischee-Produktion

Zwei Beispiele (beim Frühstücken) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gefunden (27.7.2016):

1. Trivialisierung psychiatrischer Diagnosen.
"Wie krank war Ali Daid S.?", fragt Karin Truscheit in ihrem Text "Nicht nur depressiv" (S. 7).
Eine depressive Erkrankung, fasst sie ihre psychiatrische Erkundigung (bei einem psychiatrischen Fachmann) zusammen, komme für die Mord-Handlungen eher nicht in Frage: die Handlungsbereitschaft sei stark reduziert. Die narzisstische Störung erscheint da plausibel: als das Bild (ich fasse zusammen) einer exzessiv egozentrischen Persönlichkeit. So wird diese Diagnose zu einem Schreckensbild und fügt sich in den Kontext: dass psychiatrische Diagnosen Gefahr laufen, negative Konnotationen (Verachtung, Abwertung, Ekel) zu transportieren und sich darauf einzustimmen, aber das gravierende Leid dieser Erkrankung ausblenden. Zudem tragen psychiatrische Diagnosen zur Erklärung mörderischer Gewalttätigkeit nicht bei; sie sind Symptom-Auflistungen, bestenfalls einigermaßen präzise Beschreibungen, die mit angemessenen Rekonstruktionen der lebensgeschichtlichen Kontexte zum Verständnis gebracht werden müssen.  Das ist in der psychiatrischen Praxis mühsam, weil sehr zeitaufwändig. Anders als Karin Truscheit behauptet, codiert das Klassifikationssystem des von der WHO herausgegebenen ICD 10 (International Classification of Diseases) sehr wohl die narzisstische Persönlichkeitsstörung: unter der Nummer F 60.8 für  sonstige spezifische Persönlichkeitsstörungen. Die Kategorie des Sonstigen wird ungern in der psychiatrischen Praxis verwandt, weshalb (hier und da: je nach der Politik klinischer Praxis) davon abgeraten wird, sie zu benutzen - sie existiert aber und kann in dem Diagnosen-Büchlein im Register nachgeschlagen werden.

2. Behauptete Kausalität.
"Wie nah stand Mohammed D., der Täter von Ansbach, dem 'Islamischen Staat?", fragt Eckart Lohse in seinem Text "Eine Heiratsurkunde aus Syrien und Material für noch eine Bombe" (S. 2). Eckart Lohse trägt die Ermittlungen ordentlich zusammen. Das Verwaltungsgericht Ansbach hatte der Ablehnung des Asylantrags zugestimmt, die Anordnung der Abschiebung ausgesetzt. Mohammed D. wurde aufgefordert, sich im März zu melden. Am 13. 7. wurde ihm seine Abschiebung mitgeteilt. Eckart Lohse schreibt: "Er hätte einen Monat Zeit gehabt, Widerspruch einzulegen. Das tat er nicht. Stattdessen baute er eine Bombe". Stattdessen: war das so? Woher weiß er das? Er weiß es nicht. Aber mit der behaupteten Kausalität lässt sich der Text gut beenden und ein Verständnis einschmuggeln.

  

Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter) XXIX: Augen zu und durch die Hecke

"Den meisten Deutschen ist es egal", schreibt Jasper von Altenbockum in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.7.2016, S. 1), "ob es sich bei den Attentaten in Ansbach, München, Reutlingen oder Würzburg um 'richtigen' islamistischen Terror, um kopierten oder aber gar nicht um solchen Terror, sondern 'nur' um einen Amoklauf handelte".

Den meisten Deutschen: woher weiß Jasper von Altenbockum das? Der Mord ist der gravierendste Tabubruch (neben dem Inzest). Ein Mord hat eine spezifische individuelle wie kollektive Sozialisationsgeschichte. Wie kommt jemand dazu, einen oder mehrere Morde zu begehen? Die Antwort betrifft die Grundlagen einer demokratisch verfassten Geselllschaft und einer demokratisch engagierten Öffentlichkeit. Unser Grundgesetz hat die Würde des Menschen festgeschrieben - also auch die Würde des Menschen, der einen oder mehrere Morde begangen hat. Ist der Mensch, der einen oder mehrere Morde begangen hat, ein Monster oder hat er sich monströs entwickelt? Wahrscheinlich - diese Antwort ist umstritten - hat er sich monströs mit einem entsetzlichen, schwer zugänglichen Leiden entwickelt. Die "Fabrikation des Menschen" hat Pierre Legendre den Prozess der Sozialisation genannt. Natürlich - davon gehe ich aus - wollen wir wissen, wie unser und fremdes Leben sich entwickelt hat und wer wir sind. Das Interesse daran ist uralt. Die Antworten sind äußerst schwierig und vorläufig.

Das kann man natürlich sein lassen oder abkürzen. Das irreparable Leid ist riesig. Das beobachtete Leid beunruhigt, irritiert und alarmiert. Schnelle Antworten und schneller Trost werden - das geben uns manche Protagonisten der öffentlichen Diskussion zu verstehen - erwartet. Unsere Bundeskanzlerin sagte (am 23.7.2016), dass "der Staat und seine Sicherheitsbehörde alles daransetzen, um die Sicherheit und die Freiheit aller Menschen in Deutschland zu schützen". Aller Menschen in Deutschland. Ein paar Sätze zuvor sagte sie: "Immer sind es Orte, an denen jeder von uns hätte sein können". Ein (erstaunlicher) Satz des Missverständnisses zur Eintrittswahrscheinlichkeit seltener Ereignisse. Was wollte sie sagen? Einfach trösten: Wir sind also nicht sicher. Das ist eine Binsenwahrheit. Neben dem rührseligen Trost gibt es die schnellen Etikettierungen: jetzt sind es die Blitzradikalisierungen, die Identifikation mit den Vorbildern, die Nachahmung, die stationäre psychiatrische Behandlung, die Depression und die narzisstische Persönlichkeitsstörung - die als Erklärungen ausreichen sollen. Das tun sie nicht. Sie sind grobe Beschreibungen oder Klassifizierungen. Sie erklären nicht den langen, komplexen Prozess, wie der Mord für einen Menschen Handlungs-leitend wird. Solange wir einen Täter nicht ausreichend befragen können, so lange wissen wir nicht, was ihn wie bewegte. Wir kennen nicht den Prozess der Entwicklung der mörderischen Fantasie zur mörderischen Praxis. Wir wissen nicht, an wen er seine mörderische Praxis adressierte. Wir kennen nicht die sprachlose Sprache seiner mörderischen Praxis. Das Nicht-Wissen, ich wiederhole mich, ist schwer auszuhalten. Den Vorzug des Nicht-Wissens zu propagieren oder zu unterstellen, ist - ja, was ist es? Verachtung? Ekel? Angst?  Schwer zu sagen. Zumindest empfiehlt es sich nicht für das Blatt für kluge Köpfe (s. meine Blogs vom 27.3.2015, 31.3.2015  und 4.12.2015).


(Überarbeitung: 3.7.2016) 



   

Freitag, 22. Juli 2016

Zeit-Worte I: "Das Beste oder nichts"

Mercedes-Benz wirbt seit einiger Zeit mit dieser Formel: Das Beste oder nichts. Junge, Junge - da kann einem schwindelig werden. Dieser Hersteller wirft sich mächtig in die Brust - und spielt mit der Aufforderung zur Verachtung des Nicht-Besten. Protzen : auf Hochglanz. Früher gab es für die Mercedes-Limousinen das Klischee: eingebaute Vorfahrt. Interessant: in einer Zeit der gewünschten und angestrengten Inklusion wird die Exklusion gefeiert. Herrschaft auf Rädern. Die alten und die jungen Herren sind unter sich. Das Nichts ist nichts wert. Undemokratische Werbung, möchte ich sagen; sie trägt nicht zur Zufriedenheit bei. (s. meinen Blog vom 16.11.2014)

(Überarbeitung: 28.7.2016)

Neues zur Heiligen Kuh XXXI: schon wieder hat sie sich daneben benommen

Die Kartell-Behörde hat einige Hersteller von Lastkraftwagen zu Strafzahlungen angehalten. Sie haben ihre Preise abgestimmt. Mercedes-Benz muss eine Milliarde zahlen. Wie wurde die chose bekannt? Volkswagen gab den Hinweis. Damit fiel der Konzern unter die Kronzeugenregelung und wurde von der Zahlung der anderenfalls fälligen Strafe von 1.4 Milliarden Euro dispensiert. Was sagt uns das? Volkswagen muss sparen. Dafür haben sie sich getraut, sich hier und da unbeliebt zu machen.

Wie so oft: ist das Schweigen der öffentlichen Diskussion erstaunlich. Mein Referenz-Blatt ist die Zeitung für die klugen Köpfe. Die Redaktion, die das Sagen hat, bewahrt Stillschweigen - so stelle ich mir das vor: die besten Kunden sind die Werbeabteilungen der Autoindustrie. 

Unsere aufgeregte Regierung

Wer was gegen die türkische Regierung unternahm, wissen wir nicht. Was der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zu realisieren und etablieren beabsichtigt, wissen wir auch nicht. Seine ersten Äußerungen sollte man der Dramatik des Aufruhrs zu gut halten: um sie nicht als Absichten festzuschreiben und um sie korrigierbar zu halten.  Nun sind die Säuberung, die Gnade Allahs und die Todesstrafe im öffentlichen Umlauf. Der Durchgriff der staatlichen Institute wirkt rigoros. Aber der Pulverdampf ist noch nicht verflogen. Bevor die Empörung weiter hinausgedröhnt wird, sollte man etwas abwarten und auf die türkischen Korrektur-Bewegungen hoffen. Der Ausnahmezustand besteht in Frankreich seit einigen Monaten. Ich kann mich nicht an einen bundesdeutschen Politiker oder eine bundesdeutsche Politikerin erinnern, der oder die von der französischen Regierung verlangt hätte, diese Notmaßnahme zurück zu nehmen. Der türkischen Regierung gab unser Außenminister auf den Weg, die Notmaßnahme so schnell wie möglich zurückzunehmen.

Was sagte Frank-Walter Steinmeier in seiner aufgeblasenen Rede der Selbstverständlichkeiten? "Bei allen Maßnahmen, die der Aufklärung des Putschversuchs dienen, müssen Rechtsstaatlichkeit, Augenmaß und Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben". Na, klar doch. Warum muss ein bundesdeutscher Politiker so schnell sich einmischen? Warum muss die bundesdeutsche Regierung sich so schnell einmischen mit der Selbstverständlichkeit der Regeln der Union?  Unserer Öffentlichkeit wegen, die klare Worte mit Kante erwartet? Was sagt die Brüsseler Kommission? Die ist doch zuerst dran. Was sagen die anderen Regierungen?

So sieht die priveligierte Partnerschaft mit der Türkei aus: schnell eins auf die Finger... damit nur keiner denkt, die bundesdeutsche Regierung wüsste nicht, was zu tun ist.

(Überarbeitung: 26.7.2016)

Die Wirklichkeit des Wir-schaffen-das

So schaffen wir das Schaffen nicht. Heute titelt die Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.7.2016, S. 1): "Würzburger Attentäter wurde nicht überprüft". Schon die Wortwahl des Attentäters ist der Hinweis auf den aufgeregten Kopf, der keinen klaren Gedanken fassen kann: der Attentäter unternimmt einen mörderischen Anschlag aus ideologischen oder religiösen Motiven. Das ist bei dem jungen Mann, dessen Identitätsangaben ungeprüft von ihm übernommen und für wahr gehalten wurden, unklar. Wir wissen nicht, was ihn bewegte - wie es in ihm aussah. Ohne etwas Substantielles über Herkunft, Sozialisation, Lebensgeschichte, aktuelle Verfassung zu wissen, wird er etikettiert und kursiert als Attentäter in der öffentlichen Diskussion. Der Attentäter dient der Beruhigung (wir wähnen, seine Beweggründe zu kennen) und schürt die Beunruhigung (wen haben wir hereingelassen?).
Wir-schaffen-das ist eine hochkomplexe Aufgabe. Verbales Aufmuntern genügt nicht. Freundlichkeit und Wohlwollen genügen auch nicht - sie sind selbstverständlich. Wir brauchen Kenntnis-reiche Betreuung und Kenntnis-reiche Forschung. Und viel Geduld. 

Wer verdient, was er verdient?

Schwieriges Problem. Daran musste ich denken, als ich gestern las:

"Wer liest schon gern sein Gehalt in der Zeitung? Dass Sparkassenvorstände sich gegen eine Veröffentlichung ihrer Bezüge wehren, ist menschlich verständlich" ( Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.7.2016, S. 15).

Bei so viel Mitgefühl kommen mir die Tränen. Die armen Sparkassenvorstände, die so viel verdienen (von einer knappen Million abwärts) und so ein schlechtes Gewissen haben...haben sie sicherlich nicht. Es wäre doch interessant, wie ein Vorstand sein Gehalt erläutert.

Neben diesem Text von Hanno Mußler ist der Text von Kerstin Schwenn platziert. Das Rentenniveau soll angehoben werden - sieht ein Plan des deutschen Gewerkschaftsbundes vor. Das wiederum, so die Autorin, wäre vorschnell:

"Viele Faktoren - etwa die Belastung durch den Zuzug der Flüchtlinge - können schneller, als der Gewerkschaft lieb ist, den Abschwung bewirken und Arbeitsplätze gefährden. Die Politik darf in den Rentenüberbietungswetttbewerb nicht einsteigen".

Rentenüberbietungswetttbewerb: das ist das  Wort der Mahnung - nicht des Mitgefühls. Ungefähr 1400 Euro beträgt bei uns die durchschnittliche Rente - habe ich neulich aufgeschnappt und nicht überprüft (der Betrag erscheint mir ziemlich hoch).  Damit kann sich ein Rentner das Abonnement der Zeitung für die klugen Köpfe nicht leisten.

Montag, 4. Juli 2016

Journalistische Klischee-Fabrikation

Das rührselige Klischee.
"Die mimische Reaktion Angela Merkels", schreibt heute Günter Bannas in seinem Text "Merkels Fron" auf der ersten Seite (F.A.Z., 4. Juli 2016), "auf die Entscheidung drückte zweierlei aus: Zum einen Befürchtung und Sorge... zum anderen war in ihrem Gesicht ein entsetztes 'Nicht auch das noch' zu sehen". Zu viel zu tun, zu viele Konfliktlagen, sagt Günter Bannas (sinngemäß). Sein Fazit: "Das Amt wird zur Fron".  Wird es das? Zu einer, wie der DUDEN definiert, als unerträglichem Zwang empfundenen Arbeit? Wo hat er das her? Erschlossen aus seinem Eindruck von der Mimik der
Bundeskanzlerin.

Das Klischee der Verachtung.
Die Mitglieder des Regierungsbündnisses sprechen mit vielen Stimmen. "Derlei Konflikte", so Günter Bannas, "haben in der Geschichte der Bundesrepublik den Bestand jeder Koalition gefährdet. Sachliches Auftreten hin, Rabaukentum her. Mit der Tonalität fängt es immer an". Sachliches Auftreten: bei Angela Merkel beobachtet; Rabaukentum: bei Sigmar Gabriel beobachtet. Die Gute ins Töpfchen, der Schlechte ins Kröpfchen.

"Die Fron bleibt", ist der letzte Satz im Text von Günter Bannas. Wenn journalistische Arbeit dazu dient, die relevanten existenziellen Kontexte zu sortieren und zu erläutern - dann hat Günter Bannas Kontexte verquirlt zu einer Art Sorge um die Bundeskanzlerin, die mit seltsamen Burschen zu tun hat. Ich wundere mich, wie dieser Text aus dem Album der Annäherungs- und Rettungswünsche auf die erste Seite kam.  


(Überarbeitung: 5.7.2016)

Worte zum Verschleiern IV: das selbstfahrende oder das autonom fahrende Auto

Zum Verbum fahren gehört ein Subjekt, das steuert. Anderenfalls wird kein Satz draus, und das Ding wird nicht bewegt. Die Formeln selbstfahrend  und autonom fahrend unterschlagen: dass für das Rechner-Programm viele Köpfe (Subjekte) notwendig waren und notwendig sind, um den subjektiven Prozess des Autofahrens in ein Fluss-Diagramm zu zerlegen, in dem x-tausende Ja-Nein-Entscheidungen zu einer Fahr-Bewegung verrechnet werden können. Unterschlagen wird: ein Rechner-Programm ersetzt die Fahrerin oder den Fahrer. Ein Rechner-Programm ersetzt deren oder dessen Subjektivität. Anders gesagt: unsere natürlichen Prozesse werden marginalisiert und suspendiert. Der Tagtraum mancher Nicht-Menschenwissenschaftler. Das Wort Menschenwissenschaftler stammt von Nobert Elias.


  

Viel Leben in der Bude

Vergangene Woche lud unser Außenminister die Kollegen der Länder ein, deren fünf Regierungchefs zusammen mit dem bundesdeutschen Regierungschef am 25. März1957 die Verträge zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft unterzeichneten. Frank-Walter Steinmeiers Reaktion auf das Referendum zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Die Einladung zum Rückblick und Ausblick? Schwer zu sagen. Manche Unionspolitiker waren mit der Einladung nicht einverstanden. Verständlich: so verhält man sich nicht in einer Gemeinschaft aus achtundzwanzig  Mitgliedern. Jetzt wird unser Finanzminister zitiert, der vor ein paar Tagen einen "intergouvernementalen Ansatz anstelle der Gemeinschaftsmethode" (was immer das ist, sagt die F.A.Z. in ihrem Text nicht; 4.7.2016, S.1) vorschlug:

"Wenn die Kommission nicht mittut, dann nehmen wir die Sache selbst in die Hand und lösen die Probleme eben zwischen den Regierungen".

Unverständlich: so verhält man sich nicht in einer großen Gemeinschaft gleichberechtigter Mitglieder. Was beim einen moniert wird, hält einen nicht ab, es auch zu tun. Offenbar fällt es im Augenblick besonders schwer, einen die Gemeinschaft zusammenhaltenden Gedanken zu fassen. Schwer war es schon immer. Der 25. März 1957 liegt bald sechzig Jahre zurück. Damals backte die bundesdeutsche Regierung noch kleine Brötchen.

(Überarbeitung: 5.7.2016)

   

Freitag, 1. Juli 2016

Nachtreten

Nachtreten als eine im Alltag symbolische Handlung ist eine nickelige Geste der stillen Abrechnung und gilt im Fußball als Revanche-Foul. Noch einmal das Elend des Computer-gesteuerten Automobils. "Mensch bleibt Mensch", schreibt dazu Holger Appel im Buch Wirtschaft der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.7.2016, S. 19) ganz richtig. "Der Computer tut stur nur das, was programmiert wurde". Auch richtig. "Das kann er zwar jeden Tag und mit jeder Situation besser, aber vermutlich nie mit absoluter Sicherheit". Ungefähr richtig: der Fortschritt verläuft nicht linear (jeden Tag besser) und absolute Sicherheit gibt es nicht. Jetzt die letzten beide Sätze: "Dass Behörden und Tesla den Vorgang wochenlang verschwiegen haben, sei nur am Rande erwähnt. Hiesige Hersteller würden dafür öffentlich auseinander genommen". Ohje ohje: die U.S.-Behörden und Volkswagen! Wie ungerecht! Wie ungerecht!

Neues zur Heiligen Kuh XXX: sie hat sich verrannt

Der erste tödlich verunglückte Autofahrer ist bei dem nordamerikanischen Feld-Versuch des Fahrer-losen, Rechner-gesteuerten Automobils zu beklagen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird in der heutigen Ausgabe (2.7.2016, S.1) die Meldung mit diesem Satz eingeleitet: "Die Autoindustrie hat bei der Entwicklung selbstfahrender Autos einen schweren Rückschlag erlitten". Den Satz muss man mehrmals lesen. Nicht nur, dass der Autor oder die Autorin sich um die (gesamte) Industrie sorgt und von einem Rückschlag spricht. Das Wort vom selbstfahrenden Auto deutet auf das Elend der Ingenieur-Fantasie und deren vorhersehbares Scheitern - weshalb ich in mehreren Blogs dieses Projekt eine Schnapsidee nannte (2.3.2016, 24.2.2016, 22.9.2015): ein Selbst ist in dem Rechner-gesteuerten Fahrzeug nicht zu entdecken. Entdecken kann man die bescheidene, aber enorm aufgeblähte Idee, abgeleitet aus einer miserablen Theorie, man könnte hochkomplexe interaktive Prozesse in eine Abfolge von (innerhalb eines definierten Segments) störendenen  Reizen und darauf bezogenen Reaktionen ausreichend präzis zerlegen. Autofahren wird mit einem Handlungsentwurf, der sich in einem offenen System (anders als das im Prinzip geschlossene System des Eisenbahnverkehrs) mit anderen Handlungsentwürfen abstimmt, realisiert. Die Struktur dieses Entwurfs lässt sich nicht zerlegen; sie ist die unsichtbare Form und stellt den unsichtbaren Kontext des Autofahrens - sie ist, wie wir das von unseren basalen somato-psychischen Regulationen kennen, nicht zu lokalisieren (allem Neuro-mumbojumbo zum Trotz) und deshalb von einer Maschine nicht zu reproduzieren. 

Bleibt die Frage nach der Sicherheit des Autofahrens und des Vermeidens des immensen Preises an Leid und Verlusten. Möglich und wahrscheinlich, dass das Rechner-gesteuerte Autofahren weniger Leid und Verluste kostet. Aber mit dem dafür notwendigen riesigen, Jahre-langen Feldversuch, in dem die Unfall-Zahlen des einen Autofahrens mit dem anderen Autofahren verglichen werden müssten, kann man nicht experimentieren. Es gibt zwei Wege der Erhöhung der Sicherheit: 1. radikale Tempo-Limits; 2. großzügiger Ausbau der Öffentlichen Verkehrsmittel. Wenn die Autos wie auf Schienen bewegt werden sollen, können wir gleich auf Schienen fahren. Das Geld, das der Automobilindustrie zur Zeit  offeriert wird, ließe sich bequem in diese beiden Projekte investieren. So könnten wir weitere Schnapsideen vermeiden: das Elektroauto, dessen Kosten noch gar nicht abzuschätzen sind, und die Installation der Infrastruktur für die Stromversorgung der Elektroautos. Das Problem sind: die Automobilindustrie, die weiterhin möglichst viele Autos (was immer der Markt hergibt) fraglos herstellen und verkaufen möchte, die IT-Konzerne, die gern expandieren und ihre klugen Leute beschäftigen möchten, und die Verkehrspolitik, die sich von Schnapsideen besäuseln lässt und sich vor allem für die reibungslose Herstellung von Automobilen verantwortlich fühlt.     

 

Ein zweites Wort zur Inflation des Hasses

Heute morgen (1.7.2016, S. 13) veröffentlicht der niederländische Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seinen Text "Der Terror hat sehr viel mit dem Islam zu tun. Auch das Attentat in Orlando sollte die Tat eines Einzelgängers sein, der die Religion nur zu seiner Rechtfertigung missbraucht - ein gängiges Erklärungsmuster. Wie glaubthaft ist es?".

Zwei Anmerkungen zum Titel. 1. Natürlich haben die Morde mit der islamischen Religion zu tun. Die Frage ist: wie viel? Das wissen wir nicht. 2. Auch ein Einzelgänger ist nicht allein: seine innere
Welt dürfte mit Leuten bevölkert sein, mit denen er zumindest in fantasierten Beziehungen in Kontakt ist; diese Art von Beziehungen, die für ihn real sind, kennen wir nicht. Malcom Gladwell hat dazu neulich seinen Text "Threshold of Violence" im The New Yorker veröffentlicht (10/19/2015).

Ruud Koopmans schreibt: man "muss zunächst Aussagen und Verhalten des Täters selbst ernst nehmen". Keine Frage. Aber man muss auch das ernst nehmen, was er nicht sagt - womit und mit wem er in seiner inneren Welt noch beschäftigt ist. Osmar Mateen äußerte sich auf Facebook - so zitiert ihn Ruud Koopmans: "Die echten Muslime werden die dreckigen Wege des Westens nie akzeptieren. Ihr tötet unschuldige Frauen und Kinder durch Luftschläge. Spürt nun die Rache des Islamischen Staates". Was sagte er zu seiner inneren Welt, zum Ausmaß und zur Qualität seiner mörderischen Rage? Er gab mit seinem mörderischen Handeln Auskunft über seine immense Rage. Ihre lebensgeschichtlich relevanten Kontexte sind nicht bekannt.

Drei Seiten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zurück: Matthias Hannemann bespricht die umfangreiche, enorm gründliche Arbeit von Asne Seierstad "Einer von uns". Sein Text hat den Titel: "Herr Möchtegern ist jetzt Terrorist". Der Möchtegern  ist die Vokabel seines Miss- und Unverständnisses. Er moniert an Asne Seierstads Arbeit: "...ob man sich den politischen Facetten des Themas, die bei Seierstad natürlich vorkommen, aber nur en passant behandelt werden können, nicht trotzdem noch einmal intensiver annehmen muss". Seierstads Versuche, sich der inneren Welt von Anders Breivik zu nähern, waren ihm offenbar nicht genug. Er führt diesen (vertrauten) Kontext ein: "Die Islamophobie und der Hass auf die weltoffene Demokratie und ihre Repräsentanten nehmen in Zeiten des Populismus, der Flüchtlingsströme und der IS-Anschläge in Europa nicht gerade ab". Was besagt er dieser Satz über die innere Welt von Anders Breivik?

Eine Buch-Besprechung gibt nur indirekt Auskunft über die Beschäftigung des Rezensenten mit einem Text - man muss sie erschließen. Bemerkenswert finde ich, dass er nach der Lektüre des Buches von Asne Seierstad Anders Breivik einen Möchtegern nennen kann. Bemerkenswert finde ich auch, dass er Karl Ove Knausgaards Text "The Inexplicable. The terrible enigmas of Anders Breivik" nicht berücksichtigt (The New Yorker, 5/25/2015, S. 28 - 32). Der Möchtegern ist auch das Wort der Verachtung. Asne Seierstad und Karl Knausgaard haben die Anstrengung des Verständnisversuchs unternommen. Der Hass droht zur Passepartout-Vokabel des Ablegens in die öffentliche Wiedervorlage zu werden.