Dienstag, 26. Juli 2016

Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter) XXIX: Augen zu und durch die Hecke

"Den meisten Deutschen ist es egal", schreibt Jasper von Altenbockum in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.7.2016, S. 1), "ob es sich bei den Attentaten in Ansbach, München, Reutlingen oder Würzburg um 'richtigen' islamistischen Terror, um kopierten oder aber gar nicht um solchen Terror, sondern 'nur' um einen Amoklauf handelte".

Den meisten Deutschen: woher weiß Jasper von Altenbockum das? Der Mord ist der gravierendste Tabubruch (neben dem Inzest). Ein Mord hat eine spezifische individuelle wie kollektive Sozialisationsgeschichte. Wie kommt jemand dazu, einen oder mehrere Morde zu begehen? Die Antwort betrifft die Grundlagen einer demokratisch verfassten Geselllschaft und einer demokratisch engagierten Öffentlichkeit. Unser Grundgesetz hat die Würde des Menschen festgeschrieben - also auch die Würde des Menschen, der einen oder mehrere Morde begangen hat. Ist der Mensch, der einen oder mehrere Morde begangen hat, ein Monster oder hat er sich monströs entwickelt? Wahrscheinlich - diese Antwort ist umstritten - hat er sich monströs mit einem entsetzlichen, schwer zugänglichen Leiden entwickelt. Die "Fabrikation des Menschen" hat Pierre Legendre den Prozess der Sozialisation genannt. Natürlich - davon gehe ich aus - wollen wir wissen, wie unser und fremdes Leben sich entwickelt hat und wer wir sind. Das Interesse daran ist uralt. Die Antworten sind äußerst schwierig und vorläufig.

Das kann man natürlich sein lassen oder abkürzen. Das irreparable Leid ist riesig. Das beobachtete Leid beunruhigt, irritiert und alarmiert. Schnelle Antworten und schneller Trost werden - das geben uns manche Protagonisten der öffentlichen Diskussion zu verstehen - erwartet. Unsere Bundeskanzlerin sagte (am 23.7.2016), dass "der Staat und seine Sicherheitsbehörde alles daransetzen, um die Sicherheit und die Freiheit aller Menschen in Deutschland zu schützen". Aller Menschen in Deutschland. Ein paar Sätze zuvor sagte sie: "Immer sind es Orte, an denen jeder von uns hätte sein können". Ein (erstaunlicher) Satz des Missverständnisses zur Eintrittswahrscheinlichkeit seltener Ereignisse. Was wollte sie sagen? Einfach trösten: Wir sind also nicht sicher. Das ist eine Binsenwahrheit. Neben dem rührseligen Trost gibt es die schnellen Etikettierungen: jetzt sind es die Blitzradikalisierungen, die Identifikation mit den Vorbildern, die Nachahmung, die stationäre psychiatrische Behandlung, die Depression und die narzisstische Persönlichkeitsstörung - die als Erklärungen ausreichen sollen. Das tun sie nicht. Sie sind grobe Beschreibungen oder Klassifizierungen. Sie erklären nicht den langen, komplexen Prozess, wie der Mord für einen Menschen Handlungs-leitend wird. Solange wir einen Täter nicht ausreichend befragen können, so lange wissen wir nicht, was ihn wie bewegte. Wir kennen nicht den Prozess der Entwicklung der mörderischen Fantasie zur mörderischen Praxis. Wir wissen nicht, an wen er seine mörderische Praxis adressierte. Wir kennen nicht die sprachlose Sprache seiner mörderischen Praxis. Das Nicht-Wissen, ich wiederhole mich, ist schwer auszuhalten. Den Vorzug des Nicht-Wissens zu propagieren oder zu unterstellen, ist - ja, was ist es? Verachtung? Ekel? Angst?  Schwer zu sagen. Zumindest empfiehlt es sich nicht für das Blatt für kluge Köpfe (s. meine Blogs vom 27.3.2015, 31.3.2015  und 4.12.2015).


(Überarbeitung: 3.7.2016) 



   

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