Montag, 13. Dezember 2021

Neues von der Heiligen Kuh (93) - sie wird gerade vehement verteidigt in Briefen an die Redaktion der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"

Am 3.11.2021 veröffentlichte Edo Reents in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seinen Tempo-Limit- freundlichen Text Mein Maserati fährt 310 - sein Plädoyer für eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen und gegen das hochmotorisierte Ausfahren potenter Limousinen. Das lesen deren Besitzer natürlich nicht gern. Schließlich geht es um existenzielle Grundprobleme: Selbstbild, Selbstpräsentation und Machtbedürfnis. Das ist seit den 70er einigermaßen gut erforscht. Man kann nur nicht drüber sprechen. Es geht um sehr intime Kontexte. Inwieweit sie verantwortlich sind für das, was so nett Unfallgeschehen auf unseren Straßen heißt - besonders auf den Autobahnen - , wissen wir nicht genau, aber wir können es schätzen. Was wir von qualitativen Studien genau wissen ist: die Geschwindigkeitsdifferenzen auf den Autobahnen sind das Problem. Der  Fluss des Fahrens wird unruhig. Geschwindigkeitsdifferenzen erweisen sich in den Interaktionen des Fahrens als Machtdifferenzen: das Autofahren wird zu einer Dauer-Kränkung der Unterlegenen; wer sich aus dem Mithalten herauszuhalten versucht, kriegt irgendwann den Hintermann oder die Hinterfrau zu spüren: durch den Herrsch-Gestus des dichten Auffahrens (weg da!) der wenigen (meine Erfahrung) Piloten oder Pilotinnen, die zügig heranbolzen und im Rückspiegel drängend auftauchen. Diese interaktive Dimension des Autobahnfahrens zu erforschen - ihr Ausmaß und ihr Einfluß -, ist schwierig und aufwändig. Man müsste sie genau kennen. In allen Diskussionsbeiträgen - ausführliche Leserbriefe, denen die Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen beträchtlichen Platz einräumt - , werden die Interaktionen des Fahrens auf den Autobahnen ausgeblendet. So ist in jeder Mitteilung an die Redaktion jeder Pilot und jede Pilotin im hochgerüsteten Fahrzeug - ein Engel. Es sind übrigens meistens Männer, die sich rechtfertigen.

 

          (Überarbeitung: 19.9.2023)

 

 

 

 

 

 

Neues von der Heiligen Kuh (92) - sie darf (etwas) frei herumlaufen

Mercedes-Benz meldet einen Fortschritt: ihre Technik des Computer-gesteuerten Fahrens hat das amtlich besiegelte Entwicklungsniveau Drei - in journalistischem Deutsch level 3 - erhalten. Fahrzeuge mit diesem Entwicklungsniveau dürfen bis 60 km/h auf der Autobahn ohne Eingriffe des Fahrers oder der Fahrerin bewegt werden. Das nenne ich Fortschritt. So bekommen wir ein drastisches Tempolimit und einen gemächlichen Verkehrsfluss. Ob die Fahrerin und der Fahrer sich zurücklehnen und ihren täglichen Vergnügen dabei nachkommen können, ist fraglich: sie müssen handlungsbereit bleiben (wenn's für die Technik brenzlig wird) und somit ständig aufmerksam sein, ob die Technik der blitzschnellen Rechnungen vernünftige Handlungen generiert. Ich habe noch nicht am Steuer eines solchen Mobils gesessen - ich stelle mir vor: ich komme aus dem Schwitzen nicht raus. Die Abhängigkeit von der Technik ist schrecklich. Jetzt wäre ich Beifahrer und Fahrer oder Fahrer und Beifahrer....permanente Konfusion am  Steuer.

Wir haben ein Mercedes-Benz T-Modell von 2015,  das alarmiert einen hier & da. Manchmal alarmiert mich die Technik - und ich kann nix Gefährliches entdecken, dann muss ich viel Selbst-regulative Arbeit aufbringen, um mich zu beruhigen, dass ich sorglos weiter fahren kann. Das ist Fortschritt. Nur weil Apple & Google, deren Ingenieure offenbar unterbeschäftigt waren, vor Jahren ankündigten, sie wollten Autos bauen.   

Der Moderator der "Tagesthemen" und der neue Vizekanzler am 8.12.2021: Verpflichtet und nicht gekitzelt

Ingo Zamparoni von den Tagesthemen der A.R.D., ist hier & da der Protagonist des überforschen Gesprächsauftakts. Das hängt - vermute ich - mit seinem redaktionellen Auftrag und mit seinem journalistischen Konzept zusammen, das auf ein Geständnis aus ist und mit der Technik des konfrontativen Überfalls arbeitet nach dem Motto: Angriff ist die beste Verunsicherung. Dessen Rollenverständnis würde ich beschreiben als eine Art journalistischer Inquisitor mit unsauberen Mitteln. 

Am 8.12.2021, dem Tag der Inauguration unserer neuen Regierung, legte Ingo Zamparoni gegenüber Robert Habeck, unserem neuen Vizekanzler, mit dieser ersten Frage los: "Wie fühlt es sich das denn an, Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland zu sein?" Lässiger Tonfall: kumpelig, abfällig, von oben herab. Ingo Zamparoni kitzelte Robert Habecks vermutete Eitelkeit und drängte ihn zu einer persönlichen, intimen Selbst-Auskunft. Eine Anmaßung und eine Frechheit. Ingo wirft sich in die Brust - ausgestattet mit der Macht des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.

Wie antwortete Robert Habeck? Er sagte: "Es war schon ein besonderer Tag, der einen über die formalen Akte" ( Sprechen der Eidesformel und der Erhalt der Ernennungsurkunde)  "in die Pflicht genommen hat. Die formalen Akte - sie binden einen ein in die Verantwortung. Und so fühlt es sich an: durch Verantwortung gebunden".

Ingo Zamperoni suchte für einen Moment  - Robert Habeck hatte ihm nicht den Gefallen  getan, auf der Ebene der intimen Selbst-Auskunft zu anworten - seine Sprech-Ebene wiederzufinden, er  stockte: "Das heißt, so richtig....höre ich noch nicht richtig heraus, was überwiegt: die Freude oder haben Sie gewisse Sorgen davor, vor diesen großen Aufgaben, die vor Ihnen alle liegen - zu scheitern?"  

Scheitern ist eine dramatische Wort-Wahl von Ingo Zamparoni. Er setzte nach. Er drehte die Schraube des Zwangs zur Selbst-Auskunft weiter. Er fragte Robert Habeck zu seinen Befürchtungen (und zu denen seiner Kolleginnen und Kollegen) des Überlebens als Politiker. Starker Tobak, würde ich sagen.Wie antwortete Robert Habeck? Er korrigierte Ingo Zamparoni: "Das sind die falschen Vokabeln - Freude wie Sorgen. Es gibt das Bewusstsein, in einer besonderen Position zu sein - und das ist etwas Besonderes und was einen konzentriert arbeiten lässt, aber natürlich treten wir in das Amt ein zu einer Zeit, die von Krisen geschüttelt ist...mit dem Bewusstsein, vor gigantischen Aufgaben zu stehen, gehen alle, glaube ich, in ihre Ämter".

Ingo Zamparoni: "Wohl wahr. Aber in einer Dokumentation in dieser Woche haben Sie davon gesprochen, dass es Ärger geben wird, viel Ärger sogar. Mit welchen Partnern wird's denn mehr davon geben - mit der S.P.D. oder mit der F.D.P.?" Ingo Zamperonis Rückzug aufs sichere Gefilde des politischen Klatsches. Robert Habeck: "Ich glaube, dass der Streit zwischen den Parteien überhaupt nicht mehr von Bedeutung sein wird, jedenfalls dann, wenn wir unseren Job richtig verstehen...."

Es ist die Frage, ob Ingo Zamparoni seinen Job richtig versteht. Verpflichtet und nicht gekitzelt, war Robert Habecks souveräne Antwort. 

     


Mittwoch, 8. Dezember 2021

Die neue Regierung. Eine neue Regierung? Ja, eine neue Regierung!

Kriege ich das richtig mit? Gibt es ein landesweites Aufatmen? Abzulesen an den vielen Initiativen, die Leute weißwo zu impfen? Unkompliziert, ohne Kotau, ohne Bitten und Flehen und vom Tippen der Ziffern aufs Handy steifen Finger? Auf einmal wird es einfach - wie anderswo auch. Meine ersten beiden Impfungen waren unkompliziert - kein langes Gedöns. Die dritte des Buuuhhhstern fand am Sonntag in den Räumen eines des Impfen fähigen Arztes statt. Das setzt natürlich voraus, das man jemanden kennt, der einen kennt, der einem den Zugang erleichtert. Wenn die Praxis so verschlungen ist, wie ich es im Fernsehen gesehen habe, wäre ich noch längst nicht geimpft.

Die Impfpraxis ist das Problem. Es ist das bekannte Problem: erst müssen die Leute zur Unterwerfung gezwungen werden - lange Schlangen in den Telefonleitungen (wenn man denn weiß, wo man am besten anruft) und vor den Orten des Impfens sind das beste Mittel der disziplinierenden Demütigung - , dann dürfen sie rein oder ran. Wer das nicht erträgt, ist selber schuld. Die Mäkler sind das Problem, die das Haar in der Suppe suchen, wenn es nicht nach ihrem Realitätsverständnis gegenseitiger Macht - & Rachsucht geht; die die öffentlichen Ambivalenzen verstärken statt geduldig auflösen und dabei andere zu Unwilligen erklären, denen die ganze chose zu unbequem und zu demütigend ist und die die Dauer-Kränkung dieses Bettelns & Flehens & Ausgesperrtwerdens leid sind. 

Habe ich das richtig gehört gestern morgen im  Hörfunk (WDR 5)? Da waren die Mäkler sprachlos. Auf einmal funktionierte das Impfen, hieß es. Auf einmal hatten sich die Koalitionäre geeinigt. Ganz sachlich. Sie boten der mäkelnden Zunft keine Flanke. Und die Champions des Mäkelns verstanden nicht,  dass ambitionierte Leute sich der dringlichen Sache wegen verständigen können und die alte weinerliche Passivität - Es ist ernst. Nehmen Sie es ernst! - der tief gefurchten Mundwinkel hinter sich lassen und endlich loslegen wollen.

Also: Leinen los! Ab geht die Post. Mal sehen, wie die Winde wehen.

Freitag, 19. November 2021

Hart, aber großkotzig

 Die A.R.D. -Sendung Hart, aber fair vom vergangenen Montag (15.11.2021) hatte den Titel: Ist unsere Politik beim Impfen zu feige?

Unsere gewählten politischen Repräsentanten seien beim Management der gegenwärtigen Pandemie nicht mutig, sagt die Redaktion der Sendung Hart, aber fair. Wo sind sie nicht mutig? Bei der Installation einer Impfpflicht. Das explizite, mehrfach öffentlich gegebene, noble Versprechen der Bundesregierung lautet seit geraumer Zeit:  keine Impfpflicht einzuführen. Ist sie feige, wenn sie ihr ausdrückliches Versprechen nicht bricht? Die andere Frage ist, ob es klug war, ein Versprechen zu geben zu einer Zeit, als der Verlauf des pandemischen Prozesses nicht übersehen werden konnte; ein Versprechen sollte man geben, wenn man sicher oder überzeugt ist, es einlösen zu können. Versprechen sollte man nicht zur Beruhigung geben; was man nicht weiß, muss man zugeben; es empfiehlt sich, Stellungnahmen offen zu formulieren.    

Davon abgesehen: öffentliche (politische) Versprechen lassen sich wie andere ritualisiert gegebene Versprechen auch nicht einfach brechen. Unsere Verfassung enthält eine Reihe von Versprechen. Sie zu modifizieren, bedarf eines parlamenarischen Prozesses des Aushandelns; Revisionen sind nur unter bestimmten Bedingungen möglich; manche Verfassungs-Versprechen sind von Revisionen ausgeschlossen. Die jugendliche Vokabel der Feigheit hat hier nichts zu suchen. Sie einzuführen, ist großkotzig -  die Ethik der Verpflichtung eines Versprechens wird übergangen, der Artikel zwei unseres Grundgesetzes (Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden) ist offenbar Nebensache. Die naßforsche Großzügigkeit passt zu dem ungenügenden Realitätsgeschäft eines großen Teils unserer öffentlichen Diskussion, dem es nicht gelang, unsere führenden politischen Repräsentanten ausreichend mit den Einschätzungen und dem Rat der Wissenschaftler zu konfrontieren; stattdessen folgte sie dem Prozess der Verleugung und der Verschiebung, der Beschwichtigung und der Empörung, indem die neuen Feinde der Pandemie ausgemacht und angeprangert wurden: diejenigen, die ihre zügige Impfbereitschaft vermissen ließen und die endlich gezwungen werden sollen. 

So folgte auch diese Sendung der öffentlich legitimierten, konfusen und ungeduldigen Unbarmherzigkeit. Der Knüppel ist ein schlechtes Argument. Das Interesse für die zögernde Impfbereitschaft wurde nicht aufgebracht. Mittel, wie für das Impfen schwer erreichbaren Leute zu erreichen sind, wurden nicht erörtert. Die Stadt Köln hatte es mit einem Impf-Bus im Stadtviertel Chorweiler vorgemacht - das (erfolgreiche) Experiment musste aufgegeben werden, als die Vakzine aufgebraucht waren und Nachschub offenbar nicht zur Verfügung stand. Wieso? Müsste nicht geklärt werden, weshalb die Wege, die Leute fürs Impfen zu gewinnen und zu erreichen, nicht entschlossen & großzügig erprobt werden? Soll das nicht sein? Stattdessen schwang der aufgebrachte Moderator das verbale Bügeleisen. Die Tür zur Verständigung blieb geschlossen. Die unausgesprochene Frage der Sendung - was hemmt unsere Regierungen? - blieb unbeantwortet. Am Ende herrschten bei Hart, aber fair die hilflose Sprachlosigkeit und das Dunkel der Hoffnungslosigkeit. Gute Nacht, Johanna!  Mal sehen, wie wir uns vorwärts tasten.

 

(Überarbeitung: 26.11.2021)  

 

Mittwoch, 10. November 2021

Alle Jahrzehnte wieder - streiten wir uns über die Atomenergie: Kleine Brötchen oder große Brötchen?

Der von unserer (im Moment noch) geschäftsführenden Kanzlerin Hals über Kopf durchgesetzte Wahlkampf-Coup im Frühjahr 2011 - genannt Energiewende - war ein planloses Panik-Manöver im Dienste der nationalen Beruhigung und Beschwichtigung: zum Machterhalt . Ein halbes Jahr zuvor hatte sie den Betrieb der Atommeiler verlängert. Erstaunlich war und ist, dass Angela Merkels Manöver die öffentliche Diskussion passierte. Es paßte zur Stimmung der (aktuell) weit verbreiteten Ablehnung der atomaren Energiegewinnung bei uns.

Das war vor 50 Jahren etwas anders. 

Die Ablehnung der atomaren Energiegewinnung auf Grund ihrer enormen Gefährlichkeit war Anfang der 70er Jahre groß, aber nicht groß genug, um das Experiment mit den Atommeilern zu verhindern. Jemand verglich es damals mit dem Versuch, ein Flugzeug zu starten, ohne über ausreichende Landebahnen zu verfügen. Die Zeit war anders. Damals war die Verfügung über die Ressource Erdöl ungewiss. Damals war die Frage: backen wir künftig kleine oder große Brötchen?

Die westlichen, Wachstums-getriebenen Gesellschaften entschieden sich für das Versprechen großer Brötchen. Wer wollte dagegen etwas haben? Jedenfalls nicht die Mehrheit der westlichen Bevölkerungen. Atomenergie lebte vom Versprechen eines irdischen Paradieses, mit dem man sich hinwegfantasieren konnte von den mörderischen Orgien der Vernichtung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Heute breitet sich die Ernüchterung aus. Das irdische Paradies ist nicht gekommen. Die großen Brötchen der Ausbeutung und der Vernichtung unserer Lebensgrundlagen schmecken nicht mehr richtig. Die Erderwärmung und die Pandemie, realisieren wir (vielleicht) allmählich, sind der reale Preis der großen Brötchen. Aber sie locken weiter. Jetzt stehen wir wieder vor der Frage: geht es auch kleiner? Mit bescheidenen Mitteln, die wir noch in der Hand haben? Die Atomenergie steht für die großen Brötchen - Wohlstand für alle heißt die politische Lüge. Die Frage, wie wir die weltweite Armut reparieren, bleibt unbeantwortet. Wir werden, wollen wir unsere Lebensverhältnisse global reparieren, um sie nicht herum kommen. Verteilung steht an. Die Erderwärmung wird dabei mit (herunter)geregelt.




Unbarmherzige öffentliche Schadenfreude: die Grünen kriegen's in den Koalitionsverhandlungen nicht hin...sie haben sich verhoben...(Journalismus-Lektüre 101. Beobachtung der Beobachter)

"Im Fahrwasser der Machtpolitik", überschreiben Helene Bubrowski und Rüdiger Soldt ihren Text vom Eindruck einer grünen Unzufriedenheit: "Unter Grünen wird die Kritik an den Koalitionspartnern lauter" (F.A.Z. vom 9.11.2021, S. 2). Es war klar, dass es schwer werden würde. Jetzt feixen manche journalistische Beobachter - Annalena Baerbock hatte in einem Brief an die Umweltverbände um öffentliche Hilfe gebeten und sich dabei, wie wir umgangsprachlich genau sagen, eine Blöße gegeben.  Der Brief, so Helene Bubrowski und Rüdiger Soldt, machte einen schlechten Eindruck. "Doch die Grünen wirken dabei etwas hilflos; sie bekräftigen so das Narrativ, sich gegen die beiden anderen Parteien nicht durchsetzen zu können", schreiben Helene Bubrowski und Rüdiger Soldt.

Das Narrativ,  ein hübsches Passpartout-Wort für viele Kontexte, ist auch das Verdeck-Wort für die öffentliche, medial beförderte Einstimmung auf ein ambivalentes, voyeuristisches Klatsch-Interesse, das mit dem Scheitern der Verhandlungen flirtet. Da hört der Spaß auf. Es geht nicht um eine fröhlich vermittelte Erzählung im Kleid journalistischer Besorgnis, sondern um die Verabredung einer existenziellen, uns alle betreffenden, dringlichen Politik. Fürs Klatschen haben wir keine Zeit.

Donnerstag, 28. Oktober 2021

Lead (not Love) is in the Air

1. Der FC Bayern München verliert gegen Borussia Mönchengladbach mit Null zu Fünf. Ich sah nur die zweite Halbzeit. Die Münchener Spieler wurden von den Mönchengladbacher Spielern überrannt; sie waren zu langsam, zu schwerfällig, zu wenig entschlossen. Sie spielten, als hätten sie Bleiwesten getragen.

2.  Die Welle der Delta-Pandemie rollt heran. Schwerfällig und kurzsichtig reagieren die Regierungen der Republik: Impfzentren werden geschlossen, die Impfungen sind nicht mehr kostenlos, das Ende der endemischen Orientierung wird deklariert, in NRW können die Schülerinnen & Schüler ihre Masken absetzen, der Impfschutz nimmt möglicherweise ab. Die Lage wird (wieder) prekär: Die Inzidenzen steigen, die Zahl der mit Covid-Erkrankten belegten Krankenhausbetten nimmt zu  - aber es ist in der öffentlichen Diskussion seltsam still. Als ob die Gefahr der Pandemie nur wenig interessiert.

3. Die neue Koalition der Bundesregierung formiert sich vergleichsweise geräuschlos - noch. Das Haar in  der Suppe wird nicht gefunden. Konflikt-Möglichkeiten werden abgeklopft. Die öffentliche Diskussion wirkt sauertöpfisch - bis auf die Freude der neuen jungen Bundestagsabgeordneten.

4. Die Frage unserer Energie-Versorgung wird schwunglos, unpräzis diskutiert. Wo stehen wir? Was haben wir erreicht? Was müssen wir erreichen? Eine Antwort wirkt reichlich abstrakt und ungefähr: wir brauchen zwei Prozent unserer Landesfläche für die Windräder. Die neue Regierung will sie zur Verfügung stellen. Wie zügig? Wann? Und dann kommt durch den Nebeneingang der öffentlichen Diskussion die nukleare Energie-Versorgung aufs Tapet - mittels französischen Imports und prononcierter Leserbriefe in der Frankfurter Zeitung. Wie das? Ist sie nun out (Energie-Wende! Energie-Wende!) oder in? Unsere noch geschäftsführende Kanzlerin und ihre Mannschaft schweigen. Als ob sie den Nebenausgang suchen.

5. Angela Merkel lässt sich auf ihren Auslandsreisen angesichts des Endes ihrer Amtsführung für ihre letzten Auftritte feiern. Und hier bei uns? Der Bundespräsident hat sein sehr gut schon verteilt. Das war's? Die kritische Bilanz steht an als eine Form der Trennung. Soll sie bleiben? Lieber eine immobile Kanzlerin als eine beherzte Veränderung?

Blei als Stimmungslage ist schlecht: die brütende Immobilität der Sprachlosigkeit. Unerklärlich, sagte gestern Abend der Münchener Sportdirektor zur Pokal-Niederlage des FC Bayern, unerklärlich. Natürlich hatte er eine Idee, eine Vermutung. Er mogelte sich mit seinem Verschweigen durch. So kommt man nicht weiter. Die mutlose, verdruckste Sprachlosigkeit hier & dort ist kein gutes Zeichen. Die Gegenwart lähmt. Von der Zukunft ganz zu schweigen. 


(Überarbeitung: 29.10.2021)

 


Freitag, 8. Oktober 2021

Das bedrückte Schweigen und das verdruckste Abrechnen: Armin Laschet statt Angela Merkel

 Wenn man seinen Ärger nicht richtig adressieren kann, kriegt ihn der nächste Beste ab: Armin statt Angela. Die Leute von der Union brüten, hadern, raufen sich die Haare, reden drauf los daneben und wissen nicht, wen sie beißen können, sollen, müssen. Ein Bild des politischen Jammers. Dass sie unter einem Kater leiden, haben die Leute von der Union noch nicht realisiert; so haben sie auch die Art ihres Katers noch nicht identifiziert. Sie hatten sich in der Illusion, eine Politik mit einer Zukunft zu betreiben, eingerichtet und verleugnet, dass die mit der Kanzlerin verabredete & abgestimmte Politik sich mit der Beruhigung der Gegenwart erschöpfte und die Zukunft nur als Versprechen eines Erfolgs existierte. Angela Merkel tat nur das Notwendigste: die Beschwichtigung der Ängste und der Aufregungen der Gegenwart; die Zukunft kam in ihrer Politik nicht vor. Als Umweltministerin unter dem Kanzler Kohl begonnen, gestand sie Mitte 2021, die Bedrohung der Erderwärmung nicht ausreichend in den Blick genommen zu haben. Wie verträgt sich das mit dem zu erwartenden, nicht nachlassenden forschenden Interesse einer Wissenschaftlerin?

Wie ist sie mit dieser Diskrepanz durchgekommen? Die Leute von der Union müssten sie zu ihrer eigenen Klärung & Orientierung beantworten. Und die Leute, die an der kritischen Öffentlichkeit beteiligt sind, müssten sie ebenfalls beantworten. Angela Merkel konnte Angela Merkel sein, weil man sie Angela Merkel lassen ließ. Ein kostspieliger öffentlicher Tanz. Armin Laschet muss es büßen. Wir  müssen es ausbaden.


 


 

Donnerstag, 30. September 2021

Der Coup ist gelungen: Die Tanz-Partner lächeln in die Öffentlichkeit und schweigen

Zuerst ein Foto. Oder ein selfie, wie man heute sagt. Wolfgang Wissing, Annalena Baerbock, Christian Lindner  und Robert Habeck lächeln uns an: Wir haben uns verabredet. Die erste Botschaft der Vier, die sich zusammen gefunden haben und ansonsten keine Auskunft geben. Ein glänzender Einfall - wem auch immer der eingefallen ist. Annalena Baerbock genoss es offenbar, beredt die Tür zur Öffentlichkeit geschlossen zu halten. Ingo Zamperoni jaulte auf: wir müssen draußen bleiben! In seiner schrecklich schrillen Stakkato-Manier bedrängte er Ria Schröder von der F.D.P. nach dem Motto: Nun sagen Sie doch endlich, wo das Haar in der Suppe ist! Sie sagte es nicht; sie blieb freundlich und hielt den A.R.D.-Mann lächelnd auf Distanz. Zum Tanzen kam er nicht in Frage. Ein neuer Ton dieser (vergleichsweise) jungen, neuen Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Dagegen wirkte der Mann (* 1974)  aus Hamburg ganz schön alt.

Mittwoch, 29. September 2021

Die Weisheit der Wählerschaft vom 26.9.2021: Aufforderung zum Tanz

Endlich. Die politischen Satzschleifen der guten Vorsätze werden nicht mehr geflochten. Endlich.

Die beiden großen Parteien sind eng beieinander; zum ersten Mal benötigen sie für ihre Koalitionen im Bundestag jeweils zwei Parteien, die sich zudem (noch) nicht grün sind. Für ihre Verhandlungen gibt es nur ein Vorwärts, kein Zurück.  Die Zeit der Damenwahl  ist vorbei. Auf dem Parkett wird gerangelt, geschubst, gestritten und getreten.  Die Herren müssen sich anstrengen und blaue Flecken ertragen. Ein anderer, federnder Tanzschritt muss her. Wir werden wir sehen, welchen Tanz sie zustande bringen. Die jungen Leute wollen  sehen, was sie können.

Donnerstag, 23. September 2021

Wer nicht hören will, muss fühlen: der seltsame (rachsüchtige) Triumph politischer Hilflosigkeit

Diesen Satz habe ich schon lange nicht mehr gehört. Er war die Paradenummer des Repertoires sadistischer elterlicher Praktiken. Du bleibst solange sitzen, bis du deinen Teller leer gegessen hast. Er ist die Paradenummer hilfloser Eltern, die ihren Ärger dem Kind auszahlen - die pseudo-pädagogische Rationalisierung des Vergeltens: wie du mir so ich dir.  Diese Interaktionslogik hat in Beziehungen nichts zu suchen. Auch nicht in politischen. Wenn man die Impfpraxis der individuellen Entscheidung versichert, kann die individuelle Entscheidung, sich gegen das Corona-Virus nicht impfen zulassen, nicht sanktioniert werden  durch das Aussetzen der Gehaltsfortzahlungen im Fall der Quarantäne einer oder eines Noch-Nicht-Geimpften. Den Bruch des Versprechens mit dem Konzept der Fairness zu bemänteln ist ein forsches oder freches Missverständnis eines wendigen Gesundheitsministers.

Wer mit dem Impfen zögert, hat verstehbare Gründe. Man muss sich dafür interessieren. Eine Frau, deren Mann in der Nachfolge einer Corona-Impfung verstarb, hat verständlicherweise Angst, sich impfen zu lassen.  Die jetzt dröhnend (vor Selbstgerechtigkeit) propagierte Regelung der Aussetzung der Gehaltsfortzahlungen ist vor allem ein Beleg für das politisch hilflose, nicht durchdachte, altmodische (rachsüchtige) Konzept, Leute  zu vergraulen & auszuschließen anstatt einzuladen & zu gewinnen  mit einer großzügigen Haltung, die darauf setzt, dass die meisten sich nach & nach impfen lassen werden und die Zahl der Noch-Nicht-Geimpften weiter und ausreichend schrumpft. 

Die Entscheidung, die komfortablen Orte des einfachen Impfens aus Kostengründen Ende September zu schließen, gehört zu dieser Interventions-Logik; zudem eine Milchmädchenrechnung, wie man sagt. Kein Signal der Einladung und Befriedung. Die politische Herrschaft verteilt weiter ihre Kränkungen. Sie lernt schlecht dazu.

 

(Überarbeitung: 1.10.2021)


Mittwoch, 15. September 2021

"40 Prozent der Wähler noch unentschieden"

 "Zwei von fünf Deutschen, die an der Bundestagswahl teilnehmen wollen", lese ich heute (15.9.2021) auf der ersten Seite der Frankfurte Allgemeine, "haben sich noch nicht entschieden, wem sie ihre Stimme geben wollen. Nach einer repräsentativen Umfrage des Insituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der F.A.Z. ist die Zahl der unentschiedenen Wähler damit höher denn je so kurz vor dem Wahltermin".

Junge, Junge. Was sagt uns das? Immer diese Vorwürfe. Wir haben die Unentschiedenen beim Impfstoff, jetzt haben wir die Unentschiedenen bei der Bundestagswahl. Das ist doch nur gut.  Die Wahl-Entscheidung fällt offenbar schwer: man hält sie sich offen. Die Auskunft über die Wahl-Entscheidung fällt schwer: vielleicht sind die Unterschiede undeutlich. Die Leute geben nicht mehr so gern am Telefon Auskunft über ihre Wahl-Entscheidung: sie ist ihre Sache. Sie wollen sich nicht drängen lassen. Sie haben keine Lust, Auskunft zu geben. Sie speisen die Interviewerin oder den Interviewer mit einer ungefähren Antwort ab. Die Leute nehmen ihre Wahl-Entscheidung ernst: sie lassen sich Zeit und wägen ab. 

Mit anderen Worten: die Leute sind vorsichtig und lassen sich am Telefon nicht festlegen. Das ist natürlich schrecklich für die Strategen der Parteien, die jetzt tüfteln müssen, was sie ihren Auftraggebern raten können, und schrecklich für die schreibende, berichtende, dröhnende Zunft, die weiterhin bis zum 26.9. rätseln und ihr Vergnügen am Polit-Klatsch dosieren muss. "Herr Laschet, was werden Sie machen, wie wollen Sie den Trend umkehren?"

Am besten ist dem Rheinländer aus Aachen zu raten: Abwarten & Tee trinken. Nach dem 26.9.2021 wird's schrecklich. An ruhigen Schlaf ist nicht mehr zu denken. Außerdem, letzter Gedanke, Meinungsforschung ist, wie man sehen kann, Auftragsforschung. Was sagt uns das? 

Dienstag, 14. September 2021

"Der fühlende Wähler"

Vom fühlenden Wähler war die Rede in Oliver Georgis Text in der Sonntagszeitung der Frankfurter Allgemeinen (12.9.2021, S.8). Gemeint ist die Wählerschaft, die ihren Gefühlen folgt:

"Wofür steht Olaf Scholz? Was unterscheidet ihn von Annlena Baerbock? Und was zeichnet Armin Laschet aus? Viele Wähler dürften auf diese Fragen keine sach-politische Antwort haben. Aber eine gefühlte".

Was ist eine gefühlte Antwort?

Weiß keiner. In so genannten Meinungsumfragen - ein luftiges Wort - wird schon mal nach dem (geschätzten) Grad der Sympathie gefragt. Wer ist sympathischer? Armin oder Olaf? Und wie sieht es mit Annalena aus? Sympathie: was ist das? Weiß auch keiner. Wir sind bei den (nicht bewussten) komplexen interaktiven Prozessen, in denen wir uns buchstäblich blitzartig versichern, mit wem wir es bei unserem Gegenüber zu tun haben. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Es ist natürlich komplizierter. Wir sind bei unserem Gegenüber so sicher, weil er oder sie uns bekannt/vertraut vorkommt, weil wir sie oder ihn abgeglichen haben (ohne es zu wissen) mit den (unendlich) vielen Leuten, mit denen wir zu tun hatten, die uns begegnet sind, und von denen wir gehört oder gelesen haben.

"Schon früher bildeten sich die Wähler ihre Meinung über Politiker oft aus dem Bauch heraus und nicht nur nach deren Programmatik. Doch Emotionalisierung und Personalisierung der Politik haben längst so zugenommen, dass sie die Sachfragen und politischen Lösungsansätze mitunter völlig zu überlagern scheinen".

Ja, mei. Hier überzieht einer mit der Gewissheit seiner Verachtung. Natürlich haben wir alle einen mehr oder minder komplexen und begründeten Vorrat an sach-politischen Antworten. Oliver Georgi: Längst so zugenommen, dass sie die Sachfragen und politischen Lösungsansätze mitunter völlig zu überlagern scheinen. Oh je. Noch eine Krise. Überlagern! War das nicht schon immer so? Wie war das mit Adenauers Keine Experimente? Wie war das mit Willy Brandt alias Frahm, dem außerhalb einer legalisierten Ehe geborenen Sohn (4. Bundestagswahlkampf)? War der CDU-Schmutz nicht größer? Schon immer wurde mit den Vorurteilen gespielt. Mit der öffentlichen Häme. Schon immer folgten wir unseren Vorurteilen, die allerdings eine komplizierte Geschichte haben - und die zu überprüfen und zu korrigieren eine Lebensaufgabe ist. Stuss wird uns ständig serviert. Man muss gut aufpassen und ist dauernd überfordert. Das soll so sein. Es geht um Herrschaft. Nur ja keine Antwort schuldig bleiben: das lernen wir von klein auf. Was ich nicht weiß, wird weg-gelärmt. Nebenbei oder etwas mehr als nebenbei geht es auch um die Sache der Demokratie. Wer weiß das schon genau. Was sind denn politische Lösungsansätze? Wer lacht da? Es ist doch immer ein Gewurschtel, ein Aufschieben, ein Vertagen, ein Herummogeln um die Wahrheit. Morgen ist auch noch ein Tag.  Stimmt. So gesehen, haben wir noch viel Zeit. Wer die Arbeit kennt und sich nicht drückt, der ist ist verrückt. Stimmt auch. Ein Leben reicht nicht für unsere Lebensaufgaben. Was soll man machen?  Früher hieß der Satz der ausweichenden Unwahrheit dazu: Da bin ich überfragt.  Das sagt heute keiner mehr. Wer heute gefragt wird, antwortet. Die Antwort ist das Unglück der Frage,  sagt Walter Boehlich. Unbeantwortete Fragen sind offenbar schwer zu ertragen. Lieber Antworten als Schweigen.

Emotionalisierung und Personalisierung der Politik, schreibt Oliver Georgi,  Was ist das? Der Aufschrei nach Echtheit - nach Wahrheit. Sagt das der Journalist  Oliver Georgi? Nein. Sieht er, an welchem Betrug er mitstrickt? An seinem Text ist das nicht zu erkennen. Der beschwert sich brav über die Neugier des fühlenden Wählers.  Vielleicht sagt er's abends beim Bier. Nehmen wir ein anderes Beispiel. Die Politikerin gibt in einer Pressekonferenz Auskunft. Alle wissen: ihr Auskunftstext ist nicht ihr Text. Wer hat alles  an dem Text der Auskunft mitgearbeitet? Welche Interessen sind eingegangen? Wer ist der Adressat? Aber die Politikerin wird hofiert und befragt, als wäre sie die Autorin des Textes. In meinem Leben wäre das Betrug. In der politischen Öffentlichkeit nicht.  Der TV-Journalist spricht ins Mikrophon vor einer Kamera. Wir sehen nicht den Teleprompter, von dem er abliest. Wir wissen nicht, wie der Text entstanden ist. Wir wissen nicht, was seine Redaktion ihm geraten hat zu sagen. Wie wissen nicht, wie sie ihn instruiert hat zu fragen. Wir wissen nicht, welche Interessen die Leute von der Redaktion verfolgen. Die Show schiebt sich dazwischen. Das elektronische Medium lebt vom Versprechen der Echtheit. Live! Live ist inszeniert, abgesprochen und geplant. Können wir das erkennen? Wenn die Titelmusik der Tagesthemen abläuft, die Kamera auf die Moderatorin zufährt, die sich mit den Kollegen noch kurz abstimmt, dann ihr Pult beobachtet für ihren Einsatz, schließlich  hochschaut und mit ihrer Begrüßung einsetzt - läuft die Inszenierung ab. Sehen wir die Inszenierung? Die Falschheit der Zuwendung? Ein bißchen, wenn man drauf achtet. Wer hilft uns beim Orientieren? Unser Empfinden für Echtheit und Unechtheit. Leider laufen wir häufig mit unserem affektiven Tasten ins Leere. Der fühlende Wähler ist in seiner Wahrnehmung eingeschränkt. 

Es gibt einen tiefen Wunsch die Wahrheit zu erfahren. Selten bekommen wir ihn erfüllt. Stattdessen kriegen wir die schale Show serviert - neuerdings mit dem kleinen Buchstaben l garniert. Schmeckt's? 

Donnerstag, 9. September 2021

Wo sind wir? Die Leute von der Redaktion der "Tagesthemen" sind irritiert

Am 7.9.2021 begann Caren Miosga von der A.R.D. so ihre Moderation der Tagesthemen:

"Das war mal 'was im Bundestag. Das war wahrscheinlich die letzte Sitzung dieser Wahlperiode....."  

Halt! Muss es nicht heißen: Legislaturperiode? Was hat das Parlament mit dem Zeitraum, so unser DUDEN über die Wahlperiode, für den ein Gremium, eine Körperschaft, eine Person in ein Amt gewählt wird, zu tun? Es geht nach der letzten Sitzung in die Sommerpause, wie es so schön heißt, und dann ist die Wählerschaft dran. Erst dann beginnt die Wahlperiode.

Hatte Caren Miosga sich versprochen? Schwer zu sagen. Jedenfalls ist sie gut eingestimmt auf unsere Bundeskanzlerin, deren präzisester Satz (meiner Einschätzung nach) lautet: Es ist immer Wahlkampf. Das ist der Kern ihres politischen Grund(miss)verständnisses: politisches Handeln hat ständig den Machterhalt im Blick und orientiert sich am affektiven Pegelstand der öffentlichen Aufregung. Caren Miosga, kann man sagen, war am Dienstag, dem 7. September, die brave, mit ihrer Kanzlerin identifizierte Moderatorin. Ihre Verwechslung passt zu Angela Merkels Handeln, die an diesem siebten September  am Rednerpult die Katze aus dem Sack ließ und vor dem (offenbar) befürchteten Wahlsieg der Sozialdemokraten und den daraus folgenden Koalitionen  warnte und den Kandidaten der Union anpries. Sie meinte, sie würde eine Wahrheit aussprechen. War das in Ordnung? Wohl kaum. Ihr Amtseid als Bundeskanzlerin, im parlamentarischen Kontext relevant, verpflichtet sie darauf, das bundesdeutsche Volk im Blick zu halten. 

Caren Miosga war damit einverstanden. Endlich war Leben in der Bude. Angela Merkel war in der Defensive. Nach den demoskopischen Umfragen sahen die Chancen für ihre  Partei schlecht aus - wobei wir am 26. September sehen werden, wie groß der Veränderungswunsch tatsächlich ist. Bei Umfragen gibt man sich manchmal gern progressiver, als man zugibt. Abgerechnet wird zum Schluss. Bleibt die Frage, ob der letzte Auftritt der Bundeskanzlerin tatsächlich zur deutlichen Ernüchterung der bisherigen Idealisierung ihrer Amtsführung beiträgt  und zu einer Veränderung der politischen Machtverhältnisse führt. Ich kann es mir nicht vorstellen. Bislang war Angela Merkel mit ihrer gekonnt inszenierten politischen Treuherzigkeit erfolgreich . Sogar Caren Miosga, neulich für ihre beste Moderation mit dem Deutschen Fernsehpreis  prämiiert, ist auf sie hereingefallen. 

 

 

Die Impfkampagne stockt. Die Impfkampagne, die Impfkampagne....

Ein blödes Wort. Wer brachte es in Umlauf? Eine Kampagne hat etwas Kriegerisches, Gewalttätiges. In der Kampagne steckt etymologisch das Feld (im Französischen campagne), auf dem ein Feldzug ausgetragen wird. Kein Wunder, dass Manche mit ihrem Oberarm wegzucken. Die Impfkampagne ist der Beleg für eine unglückliche, nicht gut bedachte, unsystematische Kommunikation, die in der Not der Pandemie den Experimentcharakter und damit die Ambivalenz des Impfens in einer Formel verdichtet, die eine latente Zögerlichkeit ausspricht - wie Eltern, die sich ihrem Kind gegenüber durchringen, auf einer Forderung in einem Tonfall zu bestehen, der anklingen lässt, dass die Eltern nicht ganz einverstanden sind mit ihrem Handeln. 

Man braucht sich nicht zu wundern. Der Ungeduld angesichts der von der Pandemie erforderten   Einschränkungen und der Ungeduld angesichts der Unkenntnis eines sich selbst korrigierenden wissenschaftlichen Vorgehens wurde (in meiner Beobachtung) in der öffentlichen Diskussion ständig nachgeben und damit bestätigt. Die Virologen kamen an den Pranger, die Modellierer wurden verhöhnt, das politische und journalistische Personal nahm mit einer  Nonchalance (hier & da, soweit mir zugänglich) das auf, was ihm entgegenkam .... während sich die besonnenen Fachleute die Haare rauften....immerhin wurde Christian Drosten für sein Engagement am N.D.R.-Podcast ausgezeichnet...ist dessen Redaktionsteam leer ausgegangen?

Vor den Sommerferien sagte Christian Drosten (jedenfalls habe ich ihn noch im Ohr) voraus, dass demnächst alle  Ungeimpften sich mit der Delta-Mutante anstecken werden. So ist es mit der Zuverlässigkeit einer (mechanischen) Schweizer Uhr gekommen. Warum wurde Drostens Prognose nicht ausreichend aufgenommen? Weil öffentliche Diskussionsformen unzureichend forschend begleitet & reflektiert werden. Vorwürfe sind schnell erhoben, Etiketten schnell verteilt; Nachdenklichkeit findet schlecht Platz.

 

Freitag, 3. September 2021

"Don't depend on markets to fix our mess"

Der Satz stammt von Kim Stanley Robinson aus der Financial Times. Bill McKibben hat ihn gefunden. Er zitiert ihn in seinem letzten Blog auf der website der Zeitschrift The New Yorker  (vom 2.9.2021). Der Markt gehört zum Vokabular des Verschleppens. Klimaschutz, Emissionshandel & Klimaneutralität sind unsere kursierenden Neologismen - die süßen Lutschbonbons der öffentlichen Diskussion. 

Das Beispiel Emissionshandel: wie kann man mit Emissionen handeln? Jemand pustet sie in die Atmosphäre und entrichtet für eine grobe Schätzung einen Preis; die Idee ist, dass der Preis einen zwingt, das Auspusten zu reduzieren. Ein Feigenblatt. Ausgepustet wird. Der Dreck ist in der Welt. Die Rede vom Emissionshandel unterschlägt die Erörterung der Zeit, die der Handel braucht, um wirksam zu werden, und die Erörterung des Ausmasses der Reduktion. Die Klimaneutralität ist, neben der gelegentlichen Verwechslung mit dem Emissionshandel, ein unscharfer Begriff; seine Erfinder verstehen darunter eine Art nachsteuernder, komplexer Balance: Gesellschaften stoßen nicht mehr Kohlendioxyd aus, als die natürlichen Prozesse aufnehmen können; dieses Verhältnis muss ständig austariert und reguliert werden. Wie soll das gehen? Wer will das wie  kontrollieren und herstellen? Ausgepustet wird weiterhin. Nationale wie internationale Institutionen müssen hinterherlaufen. Aber weder haben wir die Zeit noch können wir die Geduld aufbringen, einem solchen zähen, ungeklärten Prozess einer allmählichen Transformation zuzusehen.

Bill McKibben schreibt in seinem Blog: "It feels to me, with each passing week, the pace of climate change destruction increases". Wir können die rasende Zerstörung sehen; sie hat uns auf drastische Weise erreicht; inwischen müssen wir auch mit den Folgen zu leben versuchen. Der öffentlich kommunizierte Trost  dazu ist gut gemeint. Aber hilft er? Was tun die, die großherzig trösten? Sie denken an den Wahlkampf. Wie sehr, lässt sich nicht sagen. Sie sagen nicht die Wahrheit. Die, die mit dem Vokabular der Neologismen sich und ihr Publikum einlullen, betreiben das Gerede des Aufschiebens im Dienste ihres Geschäfts. Weiter so! Wir haben es nicht eilig.  Wir haben die Macht und das Geld. Am 26. September 2021 wird über die Zukunft des kursierenden Zynismus entschieden. Wir werden sehen, was wie ernst gemeint ist.

   

 

Freitag, 13. August 2021

Zweifeln ist nicht gestattet

Es gibt Gründe, sich nicht impfen zu lassen: die Angst vor bedrohlichen, unbekannten Impf-Reaktionen; der Widerwille, sich einer fremden Autorität zu unterwerfen und sich zu fügen; die Kränkung, abhängig zu sein oder sich abhängig zu machen. Kennen wir doch alle. Die Einnahme eines Medikaments oder der Eingriff durch eine Impfung ist ein Experiment: Ausgang ungewiss. Meistens geht es gut aus; manchmal nicht. Meistens hilft das Medikament oder der Eingriff; machmal geht es schief. Das wissen wir alle. Über gescheiterte Behandlungen wird nicht systematisch Buch geführt. Wie auch? Ein Arzt beispielsweise medikamentiert häufig  nach Versuch & Irrtum. Warum werden die paar (Impf-)Zweifler & Zweiflerinnen (wir kennen ihre Zahl nicht) in der öffentlichen Diskussion kujoniert (statt großzügig mit den Kosten des Testens zu sein) und zum Schweigen verdonnert? Weil Zweifel stören, verunsichern, irritieren, ernüchtern. Was nichts anderes bedeutet als: weil wir Schiss haben und nicht aufgestört werden möchten. Weil wir ahnen: uns blühen andere Zeiten. Weil wir ahnen: so geht es nicht weiter. Weil wir nicht wissen, wie es weiter gehen wird. Weil wir nicht wissen, wie wir die Kurve kriegen. Weil wir wissen: im gegenwärtigen Tempo unserer Lebensformen geht es nicht weiter. Wie dann? Diese Frage öffentlich zu diskutieren, ist - meine Vermutung - tabuisiert. Wir haben es eilig. Wir möchten die natürlichen Prozesse überholen. Ein Beispiel: die Herdenimmunität. Was ist, was bei seiner Replikationsgeschwindigkeit wahrscheinlich ist,  wenn das Virus schneller mutiert, als unsere Vakzine reichen? Ein zweites Beispiel: die Erderwärmung. Was ist, wenn der Norden bald so heiß sein wird, wie es der Süden schon ist? Svenja  Schulze, unsere Ministerin für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit sagte neulich: Unser Planet ist in Lebensgefahr. Wir wissen, was sie sagen will: wir sind in Lebensgefahr. Das ist nun nicht neu. Was Svenja Schulze nicht sagte: die Veränderungen, die uns künftig aufgezwungen werden, sind schrecklich; auf keinen Fall können wir jetzt darüber sprechen. Aber wann?

Donnerstag, 8. Juli 2021

"Impf-Müdigkeit" und "Impf-Schwänzen": ??!! Zum Karussell der öffentlichen Vorwürfe

Die Impfpraxis ist eingerichtet, wird aber nicht in dem Ausmaß aufgesucht wie erhofft, erwartet und geplant; zudem werden die vereinbarten Termine fürs Impfen hier & da (das Ausmaß ist unbekannt, wird aber beklagt, verspottet und scharf kritisiert) nicht wahrgenommen. Die in der Öffentlichkeit zur Verständigung über dieses unklare, vermeintlich unverständliche Verhalten kursierenden Beschreibungen lauten: Impf-Müdigkeit und Impf-Schwänzen. Das sind Vokabeln des Vorwurfs und des Spotts, die den Subtext kommunizieren: die Leute sind lahm, faul und aufsässig. Man kann den Vorwurf & den Spott zurückadressieren: an die Akteure der öffentlichen Diskussion, die sich  einmal keine Mühe geben, die Leute, die nicht wie erwartet in die Impf-Praxis strömen, zu verstehen, und die andererseits ihr eigenes, nicht zugestandenes Unverständnis wegbluffen

Ein Beispiel ist die paradigmatische Empfehlung tiefen Unverständnisses: Es ist ernst. Nehmen Sie es ernst. Wie nimmt man etwas ernst, das man nicht sehen kann? Was kann man machen? Kämpfen lautet die andere tiefgründige Empfehlung. Wie soll man kämpfen, wenn der/die/das Gegner mikroskopisch klein ist? Andererseits wird vom Virus gesprochen, als wäre es ein Riesen-Subjekt: allgegenwärtig, allmächtig und enorm schlagkräftig. Wo kommt es her? Wie weit ist es verbreitet? Wie verbreitet es sich? Und wie kann es sich verändern? Wieso in  diesem oder jenem Tempo? 

Fragen über Fragen. Wer schaut durch? Ganz wenige Fachleute. Von denen wiederum einige  sich trauen, sich in den öffentlichen Diskussionen zu bewegen und die Komplexitäten ihres Faches zu erläutern und zu übersetzen. Das aber ist eine enorme Arbeit - die jeder kennt, der versucht, Kompliziertes einfach zu sagen. Das Einfache ist eben nicht einfach. Was einfach klingt oder aussieht, ist das Produkt einer enormen Anstrengung. Der NDR Podcast mit  Sandra Cisek und Christian Drosten ist ein Beispiel für die Anstrengung des Übersetzens. Inzwischen ist er (doch) so kompliziert geworden, dass ich froh bin, wenn meine Frau, die Ärztin ist, mithört und mir Nachhilfe gibt - die, wie früher in der Schule, (etwas) hilft, aber nicht ausreicht.  Sollte man das Fach studiert haben? Wäre nicht schlecht. Aber so viel kann man nicht studieren. Wir müssen die Arbeitsteilung pflegen.

Die Pandemie lehrt auch: wir sind auf redliche Fachleute, die die Grenzen ihres Faches markieren, angewiesen. Wir sind wieder  mit unserer Unkenntnis - (mehr oder weniger) in der Schule: zurück in den Zeiten der ärgerlichen Ohnmacht über das eigene Unverständnis wie der (wütende) sprichwörtliche Ochs vorm Berg, der nix oder zu wenig begreift. Aber die Pandemie lehrt auch : wir sind auf gute Vermittler, die auch Fachleute sind, angewiesen. Das (häufige: so weit ich das mitbekommen habe) journalistische oder politische Geklapper  mit den populären Klischees, schiefen Bildern und den unverantwortlichen Trost-Formeln vom Ende des Tunnels (der Pandemie) oder der Wiederkehr zur Normalität hilft nicht, sondern verwirrt nur, verunsichert, macht ärgerlich, wütend und bockig. Die Freunde des öffentlichen Klapperns sollten sich an Ludwig Wittgenstein orientieren, von dem die Empfehlung stammt: wovon man keine Ahnung hat, sollte man nicht sprechen. Redlichkeit tut gut.  


(Überarbeitung: 1.10.2021)


 

Donnerstag, 1. Juli 2021

Der Hitze-Dom, der Regen, der Fußball und das Delta

An der U.S.-amerikanischen Wesküste steigen die Temperaturen bis in den Norden auf tropische Höhen. Ein Alptraum, dem man nicht entkommen kann.  Derweilen trommelt die  Arizona Alliance for Golf, ihren Sport zu schützen. Der Regen kommt bei uns in Sturzbächen nieder. Die Europameisterschaft wird in gut besuchten Stadien ausgetragen. Das Delta-Virus beginnt,  die Infektionszahlen zu dominieren. Es ist wie beim Fahren im Nebel mit der Frage: Verzögern oder Weiterfahren wie bisher? Es dauert meistens eine Weile, bis man sich zum Abbremsen entschieden hat. In Wirklichkeit ist es ein Kampf um die Einsicht in die Realität des Nebels...es kann doch nicht sein, dass...es geht schon gut. Nein, es geht nicht gut. In Bill McKibbens neuestem Blog in der Zeitschrift  The New Yorker heißt es: die Natur ist schneller als wir - wir hinken hinterher. Fußball zu gucken ist einfach zu schön, um wegzugucken. Ich gucke auch und reihe mich ein in die Reihe der selbstvergessenen Bekloppten, die nicht glauben können, was vor ihren Augen passiert. Von dieser Ambivalenz leben die Propagandisten der Sport-Geschäfte: sie fühlen sich bestätigt und sicher. Wie lange noch? Wenn wir nüchtern sind und uns umschauen: noch eine ganze Weile. Offenbar sind wir zu lange zuviel dressiert worden. Wer traut sich, der Vernunft (dem Verzicht) den Vorzug zu geben?

 

Mittwoch, 30. Juni 2021

Was ist "psychisch auffällig"?

Doppelt genäht hält besser, sagen wir. Doppelt gesagt, ist nicht unbedingt besser. Ein weißer Schimmel ist ein Pleonasmus. Psychisch auffällig auch. Auffällig ist einfach: jemand fällt auf, weil er zum Beispiel laut (dröhend u.a.) lacht. Das Adjektiv psychisch wird neuerdings (häufig) hinzugefügt, wenn jemand fremdes Verhalten als unverständlich, lästig, aufdringlich, aufgebracht, gereizt, bedrohlich, erschreckend (usf.) erlebt. Psychisch ist kommunikative Kurzschrift für die eigene Schwerfälligkeit (Ignoranz; was immer), dem Unverständlichen einen Namen zu geben - mit anderen Worten: ein Verhalten halbwegs ordentlich zu beschreiben. Jedes Verhalten ist seelisch bedingt - weiß doch jeder. Sollte man annehmen. Wer das Adjektiv psychisch in der Redefigur (psychisch auffällig) benutzt, sitzt der unseligen Differenz von Körper und Seele und damit den unseligen Lokalisierungs- und Entsorgungsversuchen auf: Das Psychische - wo sitzt es? wie kann man es greifen? wie kann man es beseitigen?

Montag, 28. Juni 2021

Kraftsport auf der A 61 (NRW)

Sonntag, der 27.6.2021, gegen 11.45 Uhr.  Auf der linken Autobahnspur (Richtung Mönchengladbach/Venlo)  fährt ein Tesla (großes Modell) an mir mit guten (geschätzten) 160km/h vobei. Knapp dahinter im unzulässigen Abstand: ein Porsche Panamera   und ein Porsche 911 Cabrio.  Es sieht nach einer ungleichen Rauferei unter Jugendlichen aus. Zwei gegen einen. Strom gegen Sprit. Wer hat mehr in der Batterie oder im Tank? Die Antwort bekomme ich nicht mit. Was konnte ich sehen? Der Protagonist des Symbols der Veränderung - vermutlich steuerte ein Mann den Tesla - kommt in Schwierigkeiten. Ein Vorgeschmack auf das, was kommt.

 

Fußball ist das wahre Leben: Joachim Löw und Leroy Sané

Joachim Löw, der Bundestrainer der Nationalmannschaft, war in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 26.6.2021 (S. 35) zu lesen, verhunzt regelmäßig/unregelmäßig (der Autor Michael Horeni macht dazu keine Angabe) den Namen des Spielers Leroy Sané. Statt dessen Namen richtig als Sah-neee auszusprechen, unterschlägt er den französischen Akzent und adressiert ihn mit Sah-ne. Eigenname und Schreibweise gehören zu unserem Identitätsgefühl. Abweichungen irritieren. Den Nachnamen zu entstellen, besagt eine Faustregel - Gerd Gigerenzer würde sagen: Alltagsheuristik - , dient der Kränkungsabsicht und verletzt unsere verbriefte Würde. Weshalb man sie ungern durchgehen lässt. Mit einer regelmäßigen Entstellung des Nachnamens verabreicht man eine feine, aber treffsichere Dauerkränkung.

Was treibt Joachim Löw dazu? Schwer zu sagen, weshalb der Nationaltrainer sie offenbar kommunizieren muss. Trainer müssen ihre Spieler mögen. Sonst läuft nix. Wer sagt das dem Bundestrainer und regt ihn zum Aufgeben der Dauerkränkung an? Respekt ist die (selbstverständliche) Verhaltensanweisung der U.E.F.A. Leicht propagiert, schwer getan.  Aber seltsam, dass diese in anderen Kontexten sofort sanktionierte Redefigur samt ihrem Redner durchgeht. Seltsam, seltsam.

Montag, 21. Juni 2021

Janet Malcom ist tot (1934 - 2021)

Janet Malcom war eine scharfsinnige, glänzende Autorin.  David Remnick, Chefredakteur der Zeitschrift The New Yorker - wo sie ihre Arbeiten häufig veröffentlichte, bevor sie als Bücher herauskamen - , hat auf der website des New Yorker neulich an sie erinnert. Ihr erstes Buch, das ich von ihr las, war Fragen an einen Psychoanalytiker. Zur Situation eines unmöglichen Berufs (bei Klett-Cotta 1983 erschienen); zuletzt (2018) las ich von ihr  The Journalist and the Murderer  ( bei Alfred A. Knopf 1990 erschienen).  The Journalist and the Murderer handelt vom Grundproblem des Journalisten oder der Journalistin: vom Beziehungsgeschäft mit dem oder der Auskunftgebenden.

Sie beginnt ihr Buch mit zwei Sätzen, die berühmt geworden sind:

"Every journalist who ist not too stupid or too full of himself to notice what is going on knows that what he does is morally indefensible. He is a kind of confidence man, preying on people's vanity, ignorance or loneliness, gaining their trust and betraying them without remorse".

Heute Morgen am Sommeranfang, dem 21.6.2021, war ich gespannt, wie Patrick Bahners in seinem Nachruf (F.A.Z. vom 21.6.2021, S. 14) auf die Wahrheitssucherin Janet Malcom im Falle seiner Profession eingeht. Ihren ersten Satz übersetzt er: "Jeder Journalist, der nicht zu dumm oder zu eingebildet ist, um zu merken, was passiert, weiß, dass das, was er tut, moralisch nicht verteidigt werden kann". Was tut der Journalist? Das sagt Janet Malcom in ihrem zweiten Satz. Den hat Patrick Bahners weggelassen.

Hier ist er übersetzt:

"Er ist eine Art Vertreter der Redlichkeit, der die Eitelkeit, die Ignoranz oder die Einsamkeit der Leute ausbeutet, ihr Vertrauen gewinnt und ohne schlechtes Gewissen verrät".

Ihr Buch The Journalist and the Murderer  ist bislang bei uns nicht erschienen (s. meinen Blog Der SPIEGEL-Gau und der F.A.Z.-Alltag - zur methodischen Anfälligkeit des Journalismus für Korruption vom 10.1.2019). Jammerschade.

 

(Überarbeitung: 23.6.2021)

 

Mittwoch, 16. Juni 2021

Die Normalität und die Masken

 Von Anfang an waren die Bewegungs- und Lebenseinschränkungen als Interventionen zur Kontrolle der Pandemie und zur Reduktion der Infektionen begründet worden mit dem mehr oder weniger eingeschmuggelten Versprechen der Rückkehr zur alten Normalität. Olaf Scholz führte einen gewissen Realismus ein und sprach (immerhin) angesichts der eingeschränkten Lebensrealität von der neuen Normalität. Wohin man hörte: die  Normalität blieb in den öffentlichen Texten eine Art tröstendes Leitmotiv (alles wird wieder gut). So tröstet man sich in schlechten (ausweglosen) Zeiten. Ob denn die pandemische Lebenslage zur Derealisation beiträgt?   

Wo sind wir? Im Irgendwo eines Zustandes des lähmenden, schwer erträglichen Wartens & (medial tüchtig verstärkten) Klagens.  Unsere Politikerinnen und Politiker haben ihm leider nachgegeben, immer wieder beflissen anzukündigen: sicherlich bis zu den Sommerferien/Schulbeginn/Weihnachten/Ostern/Pfingsten/Sommerferien ....sind wir soweit, dass...

Wenn man einen Verlauf nicht kennt, kann man ihn nicht vorher sagen. Eltern sind schlecht beraten, ihre mächtig drängenden Kinder auf der Urlaubsfahrt (Wie lange noch?) mit dem Versprechen zu vertrösten: bald. Eltern sollten gegenhalten. Das ist natürlich lästig und anstrengend. Ob denn unsere Politikerinnen und Politiker sich nicht trauen, uns nicht zu trösten? Ob sie uns für Kinder halten, die glauben & klagen, sich nicht aushalten zu können? Man muss es vermuten. Sollte es zutreffen, haben sie ihr politisches Amt missverstanden. Politik ist ein Realitätsgeschäft. Man muss sich allerdings trauen, sich der Realität zuzuwenden.

Weshalb die Frage: Wie lange müssen wir die Masken tragen? - tückisch ist. Aushalten lernt man nur, indem man sich aushält. Es geht nicht einfach. Was kann man sagen? Vorschlag:  Ja, solange sie  noch nötig sind.  - Wann sind sie nicht mehr nötig?  - Wenn die Infektionen niedrig genug sind. - Wann sind sie niedrig genug? - Die Antworten sind nie genug. Sie sind immer zu wenig. So geht es von vorne los. Wieder auf Anfang: Und die Masken? Wie lange noch? Wie klar war da die Antwort für den Sicherheitsgurt: solange du mit dem Auto fährst. Herrliche Zeiten! Und mit den Masken? Solange du dich anstecken kannst. 

Kann man mehr sagen? Als Laie: Nein. Man kann sich nur wiederholen. Wenn man will, kann man sein Repertoire erweitern mit Hilfe des NDR Pocasts mit Sandra Cisek und Christian Drosten.



 


 

  

Der "Klimaschutz" , die "Grüne Mobilität" und andere Kleinigkeiten

 Die Elektromobilität ist unterwegs. Die Elektromobilität soll dem Klimaschutz dienen. Dieses Wort ist eine Lüge. Wer es benutzt, hat sich einlullen lassen (von den Propagandisten der Beschwichtigung) und verleugnet, dass es nichts zu schützen, sondern höchstens die Erderhitzung zu mildern gilt. (Übrigens gibt es den ironischen, verächtlichen Gebrauch: Klimaschützer. Klimaschützerin habe ich noch nicht gehört.) Wer es benutzt, hat die Dringlichkeit des Handelns nicht verstanden - und verschweigt, was auf uns zukommt. Die gute Nachricht: es wird wärmer und wärmer. Die schlechte Nachricht: die Hitze wird zunehmend schwer auszuhalten; nebenbei zerstört sie unsere Lebensgrundlagen. Wer von unserer politischen Elite hält dagegen? Armin Laschet (u.a.) windet sich (noch). Die tapferen Grünen. Leider werden sie hier & da verprügelt. Die Zeitung aus Frankfurt beteiligt sich hier & da (s. meinen Blog Wohin des journalistischen Weges? vom 7.5.2021) ). Es macht offenbar mehr Vergnügen, die Kandidatin der Grünen in Verlegenheit zu bringen. Kann sie auch Bundeskanzlerin? war Anne Wills wiederholte Frage an Annalena Baerbock in ihrer Sendung am 26.5.2021. Kann denn unsere Kanzlerin Kanzlerin? 

Man müsste die Berufspraxis von Angela Merkel kennen, um zu wissen, was eine Kanzlerin können muss. Angela Merkel ist keine Freundin präzisen Sprechens und klarer Konzepte. Watte und Nebel sind ihre kommunikativen Mittel. Wie war das noch mit ihrem (besten) Satz: Es ist immer Wahlkampf?  Was hat sie sonst noch gemacht?Wie war das noch mit der einen Million Fahrzeuge mit Elektromotor? Mit der Maut? Mit dem Rettungsschirm? Mit dem Brexit und dem Vorwurf der Rosinenpickerei? Mit dem Wir schaffen es! und Wir schaffen es nicht? Mit der Transformation unserer Energie-Versorgung? Der Austausch unserer Fahrzeuge mit einem Elektroantrieb ist eine (von ihr angekündigte und tolerierte) Orgie der Verschwendung und Ausbeutung. Am 14.6.2021 war in Thea Riofrancos Text (im Guardian) zu lesen: The rush to 'go electric' comes with a hidden cost: destructive lithium mining. Die Dreitausend Quadratkilometer große, Chilenische Salzwüste Atacama wird ausgebeutet und ausgetrocknet. Lebensgrundlagen verschwinden, weil der für 2040 geschätzte Lithium-Bedarf der Autoindustrie 42 mal größer als im Jahr 2020 sein wird. Schöne Aussichten. Wir ahnten es längst. Alles bleibt beim Alten. Das eine Übel wird  mit einem neuen kompensiert. Das nennt man übrigens gleichermaßen verlogen: Klimaneutralität. Da wird einem schlecht. Dieses Wort ist dehnbar wie das Deuser-Gymnastikband und umfasst disparate Interventionen. Vor 50 Jahren zur Einführung der Atom-Energie wurde übrigens ähnlich argumentiert: alles prächtig, einfach & sauber

Dabei wäre es wirklich einfach gegangen. Kleine, sparsame Autos wären nur noch produziert worden. Kein Kunststück, aber ein politischer Kraftakt. Kein Billionen-teurer Austausch der Fahrzeuge, keine kostspielige neue Infrastruktur. Stattdessen wären die Radien unserer Bewegungen enger gezogen  und verlagert worden auf öffentliche Verkehrsmittel. Wir hätten uns allerdings anders bewegen/anders fantasieren müssen. Die Transformation der Energie-Erzeugung wäre langsam, in Abstimmung mit der EU, vollzogen worden; die Atom-Energie wäre allmählich im  synchronisierten Ausbau der so genannten Erneuerbaren aufgegeben und die Autoindustrie verpflichtet worden, ihre Gewinne mit kleinen Brötchen zu backen. Aber die Gewinne mussten gleich groß (wenn nicht größer - Klimaschutz schafft richtigen Wohlstand), die Karossen mussten gleich wuchtig sein; es sollte weitergehen wie bisher: das Paradoxon des Klimaschutzes auf vier Rädern. Alles neu macht der Mai. Leider nein. Die Natur folgt der Evolution ihrer Systembedingungen. Die Erderwärmung balanciert sie aus. Nur wir kommen aus dem Gleichgewicht. Wie die anderen Lebewesen das empfinden, erfahren wir nicht.

 

  

  


Freitag, 11. Juni 2021

60 Jahre Panorama des NDR - die eine verpasste Frage am 10.6.2021 in der A.R.D.

Vor den Tagesthemen, am 10.6.2021, um 22.00 Uhr wurden 60 Jahre Panorama in 30 Minuten bilanziert. Das war wenig, aber auch genug. Mit Panorama bürstete die Redaktion des N.D.R. (früher dienstags, heute donnerstags alle drei Wochen) in den 60er Jahren die bundesdeutsche Politik gegen den Strich. Die Moderatoren waren meine Ritter der öffentlichen Diskussion mit  Fanfaren und Paukenschlägen. Das ging beispielsweise so:  "Nun wollen wir uns noch ein wenig mit der Bundesregierung anlegen", kündigte Gert von Paczensky seinen Nachtisch an. Das war doch Klasse. Die Herren der Regierungen schimpften häufig mächtig. Heute knirschen sie eher mit den Zähnen.

Heute ist die (immer umstrittene) Pressefreiheit, der Auftrag unseres öffentlich-rechtlichen Rundfunks, von Hugh Greene nach dem Vorbild der stattlichen British Broadcasting Corporation etabliert, das Thema der Sendung. Heute hatte die Redaktion von Panorama einen glänzenden Einfall. Anja Reschke, die Moderatorin der Sendung, suchte Ludwig Briehl zu Hause auf. Er hatte ihr eine unfreundliche elektronische Post geschrieben und ihr eine "intellektuelle Minimalkonfiguration" bescheinigt, ohne sie zu erläutern. Musste Ludwig Briehl sich vor ihr und laufender Kamera verantworten und seine schlechte Zensur begründen?

Nein, Anja Reschke war nett. Ludwig Briehl, der studierte Hausbesitzer und Rentner, zögerte (schwankte zwischen Ernst und Unernst), dann legte er mit Vergnügen los, ließ seinen Blick im Wohnzummer schweifen und breitete sich aus:

"Wenn wir uns mal das Haus anschauen - was davon hat eine Frau gemacht? Die Mauern, die Fenster? Wenn Sie rausschauen auf die Straße: Gas, Wasser - was davon hat eine Frau gemacht?"

Anja Reschke: "Frauen leisten nicht genug?"

Ludwig Briehl: "Schiffe? Bauen Frauen Schiffe? Windkrafträder: wer baut die auf? Wer stellt die Masten? . Wer hängt die Rotoren dran? Wer macht die Motoren dran? Machen das Frauen?

Anja Reschke: "Und warum machen es die Frauen nicht?

Ludwig Briehl: "Weiß ich nicht. Entscheiden tun die Frauen. Ist doch auch Ihre Entscheidung, hier zu sitzen und nicht die Autos zu reparieren. Da brechen einem halt die Fingernägel ab. Es sind doch die Frauen, die sich aus ganz weiten Teilen des Lebens heraushalten".

Anja Reschke widerspricht nicht. Sie rechtfertigt sich erstaunlich defensiv: "Ich versuche herauszufinden, was Sie aufregt".

Diese Frage ist vergebene Liebesmüh' - Ludwig Briehl kennt die Antwort nicht; sein lebensgeschichtlich gewachsenes und gründlich gepflegtes Vorurteil ist zu seiner Wahrheit geworden. Anja Reschke hätte mutig diese persönliche Frage stellen können:

Und was ist mit Ihrer Mutter? Die hat sie geboren!

 

   

Mittwoch, 9. Juni 2021

Was macht man mit den erfolgreichen Mitgliedern der AhhEffDee bei der Wahlberichterstattung der A.R.D. am 6.6.2021?

Am Sonntagabend der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt (6.6.2021) holperte die sogenannte Wahlberichterstattung  der A.R.D. ganz schön über die Runden. Der sonst so geölten Regie der Sendung missglückten die Umschaltungen. Der Ton hallte als mehrfaches Echo durch die Studios. Die Moderatoren versprachen sich und verhunzten die Eigennamen hier & da. Der Eiertanz bei der Befragung der Repräsentanten der AfD, die zweistärkste Partei (hinter der Union), stammte aus dem Repertoire der sieben Jahrzehnte alten bundesdeutschen Akrobatik gleichzeitiger Inklusion und Exklusion. Die Leute von der AfD wurden geschnitten und kamen als Letzte dran - gewissermaßen am Katzentisch des Interviews - und damit dennoch zu Wort. Früher diente der Platz am Katzentisch dazu, unwillkomene (verachtete) Gäste so zu kränken, dass sie verstummten. Diese großbürgerliche Strategie funktionierte schon im vorigen Jahrhundert Anfang der 30er nicht. Dass sie heute noch bemüht wird, deutet an, dass das Projekt der Vergangenheitsbewältigung nicht geglückt ist. Die Erinnerung an die Tischmanieren -  gedämpfter Tonfall und ohne Hass im Herzen - , woran unsere Kanzlerin hin & wieder in ihrer Weisheit als promovierte Physikerin gemahnt, ist zu wenig. 

Ausschließen geht nicht. Das Grundgesetz verbietet die Kränkung der beschämenden Exklusion. Wahlen zählen; sie sind ein institutionalisiertes Recht; ihre Resultate müssen respektiert werden. Wer ins Parlament gewählt wird: gehört dazu. Er oder sie sitzt dort rechtmäßig und kann sich beteiligen. Wie, diskutieren die Mitglieder des Parlaments. Die Mitglieder des Parlaments sollten sich an das Prinzip der Fairness halten. Das Prinzip der höflichen, beharrlichen und unaufgeregten Zivilisiertheit sollte im Umgang gelten; wer wohlwollend und höflich behandelt wird, wird auf die Dauer nicht anders als wohlwollend und höflich reagieren. Kränken hilft nicht. Man muss sich Zeit geben.  Um eine ernsthafte und redliche Auseinandersetzung über die Substanz und Relevanz der konkurrierenden Auffassungen werden die Mitglieder der Parlamente nicht herumkommen. Um eine Form der Kooperation wird man nicht herumkommen. Exklusion ist kein politisches Prinzip und funktioniert nicht. Man muss sehen, was die einzelnen Mitglieder auf der Pfanne haben: was sie können. Man muss sich beim Wort nehmen und gegenseitig das Ausmaß und die Qualität der Realisierung des demokratischen Auftrags nüchtern (ohne Vorhaltungen) prüfen. Die Mitglieder der Alternative für Deutschland behaupten, die einzige Opposition zu sein. Wäre es nicht an der Zeit, diese Behauptung im Parlament endlich systematisch und regelmäßig zu prüfen? 

Freitag, 7. Mai 2021

Wohin des journalistischen Weges? Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter 100)

Man kann es aber auch übertreiben - diesen zähneknirschend herausgepressten Satz, dass jemand sich nicht an die Regeln des ordentlichen Lebens (gut gekämmt, gut geduscht, gut riechend, gut gekleidet) hält, kennen wir; gemeint ist eine Jugendlichkeit, die ihre Jugendlichkeit öffentlich feiert. Jetzt las ich diesen Satz in der Zeitung für die klugen Köpfe (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.4.2021, S.1, Nr. 100); der pikierte Autor ist Reinhard Müller. Übertrieben hat in seinen Augen unser Bundesverfassungsgericht mit dessen Beschluss vom 24.3.2021; die Pressemitteilung dazu vom 29.4.2021 trägt den Titel: "Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz teilweise erfolgreich".

Der Pressetext ist keine leichte Lektüre; man muss sich Zeit nehmen. Schon der Titel mit seinem teilweise erfolgreich macht es einem schwer; denn man muss die Einschränkungen suchen. Was hat das Bundesverfassungsgericht moniert? "Hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion fehlen" (nach 2031), heißt es am Textanfang. Stellen wir uns vor, wir haben einen Wanderweg von sechs Stunden mit Freundinnen und Freunden vor uns; jeder führt eine Wasserflasche mit; wir machen alle zwei Stunden eine Pause; für die erste Pause verabreden wir, einen ordentlichen Schluck zu trinken; für die beiden anderen Pausen verabreden wir  keine Trinkmengen. Halt, sagt das Bundesverfassungsgericht, Sie müssen an die anderen Pausen denken, daran, dass Ihr Erschöpfungsgrad zunimmt und Ihre Kondition nachlässt; das müssen Sie früh genug diskutieren und festlegen.  Wir müssen, in der Sprache des Bundesverfassungsgerichts, hinreichende Maßgaben verabreden, wie es weiter geht. Das ist doch nur klug.

Was schreibt Reinhard Müller?

"Das Klimaschutzgesetz ist insofern mit dem Grundgesetz unvereinbar, als Maßgaben für weitere Treihausgasreduktionn vom Jahr 2031 an fehlen", referiert er den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts.. Nein, der Autor hat zu schnell gelesen: hinreichende Maßgaben steht dort. Hinreichende Maßgaben setzen eine genaue Auseinandersetzung mit den Prozessen der Erderwärmung voraus. Prozentzahlen festzulegen ist zu wenig. Die Erderwärmung ist ein irreversibler Prozess; sie zu bremsen, wird von Jahr zu Jahr schwieriger, von einem bestimmten Punkt an unmöglich. Was macht man also nach 2030? Man kann das Tempo des Prozesses der Erderwärmung überhaupt nicht übertreiben. Mit anderen Worten: Richard Müller empfiehlt das beschwichtigende Gemach, gemach. Nur nicht übertreiben. Dabei drängt die Zeit gewaltig. Darauf besteht unser Bundesverfassungsgericht.

Reinhard Müllers Kommentar ist erstaunlich; offenbar hat er, der promovierte Jurist (Jahrgang 1968), den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts überflogen. Die Erderwärmung hält er für nicht so dringlich und nicht so komplex.  Es ist die Frage, wie er seine Position gewonnen  und welche Konzepte er hat. Offenbar hängt er an unseren vertrauten Lebensformen und ist eingestimmt auf die Verleugnung der enorm dringlichen Transformation unserer Lebensverhältnisse. Es ist das Problem eines gängigen, selbstgewissen Journalismus, der die Herkunft seiner Konzepte nicht angibt; er behauptet Sachverhalte, ohne sie abzuleiten.

Fünf Tage später. Reinhard Müller schreibt seinen Kommentar vom 30.4.2021 mit einem längeren Text fort, dessen Titel Karlsruher Klima-Orakel lautet (F.A.Z. vom 5.5.2021, S. 1, Nr. 103). Reinhard Müller hat nachgelesen, gibt sein Text zu erkennen; er tritt noch einmal nach; im letzten Absatz seines Kommentars bügelt er seinen Spott glatt und findet seinen Heimweg der Trivalitäten:

"Die freiheitliche Demokratie muss Tag für Tag gelebt und verteidigt werden. Dafür wird das Verfassungsgericht gebraucht. Umso wichtiger ist es, dass die Politik Luft zum Atmen hat. Der gobale Anspruch (des Bundesverfassungsgerichts), der auch Bagladesch und Nepal fürsorglich in den Blick nimmt, sollte nicht vergessen lassen, dass auch Klimaschutz vor der eigenen Haustür beginnt - und dort demokratisch verantwortet werden muss". 

In derselben Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (S. N1) im Buch Natur und Wissenschaft  (weit hinten) hat Joachim Müller-Jung Passagen aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts  auf einer Zeitungsseite collagiert - unter dem Titel:  Im Namen der Freiheit. Das Bundesverfassungsgericht hat  Wissenschaftsgeschichte geschrieben - und mehr. Sein Urteil zum zum Klimaschutzgesetz  ist ein Füllhorn klimatologischer Expertise. Vorbei mit Verfassungslyrik. 

Der Gegentext. Joachim Müller-Jungs Journalismus verdient seinen Namen. Joachim Müller-Jung (Jahrgang 1964) ist diplomierter Biologe. Er sieht die Dringlichkeit der Anstrengung  einer riesigen Transformation. Expertise oder Übertreiben. Wir haben ein Beispiel für das Muster unseres Konflikts vor uns.

Dienstag, 4. Mai 2021

Bravo! Ein Hoch auf die Kölner Verwaltung, die den Impf-Bus konzipierte, organisierte und nach Köln-Chorweiler schickte. Chapeau bas!

 In den Tagesthemen sah ich gestern den Impf-Bus, wie er in Köln-Chorweiler stand und wie vor einem der riesigen Hauskomplexe eine lange Schlange von Leuten auf ihre erste Impfung warteten. Wenn die Leute nicht in die Impfzentren kommen, müssen die Impfzentren zu ihnen kommen: so ähnlich (sinngemäß) erläuterte Henriette Reker, die Kölner Oberbürgermeisterin, das Projekt der mobilen Impfstation. Köln-Chorweiler ist seit Jahrzehnten als ein schwieriger Vorort bekannt und berüchtigt für das Konzept, prekäre Lebens- und Wohnverhältnisse in vielgeschossigen Anlagen zu verdichten. In Köln-Chorweiler leiden die Bewohner an einer Erkrankungsrate von über 500; im knapp zwanzig Kilometer entfernten Köln-Klettenberg, einem Vorort der Mittelschicht, liegt die Rate bei 30. Die Differenz besagt genug. Die Kölner Verwaltung - wer immer daran beteilgt war, müsste bekannt gemacht werden für eine Auszeichnung - fand eine kluge und großzügige Lösung, die die Tür weit öffnet und die Kränkung der Unterwerfung unter die Kontrolle einer Macht-bewussten Bürokratie vermeidet. Das ist ein staatlicher Akt realer Inklusion. Die Kölner Verwaltung plant, den Impf-Bus in andere Vororte zu schicken. Das müsste in der ganzen Republik möglich sein.


Nachtrag am 17.6.2021: Die Freude währte. Das Impf-Projekt musste abgebrochen werden: Köln wurden zusätzliche Impfdosen nicht zugestanden. Welcher Verwaltungsprozess wohl dafür verantwortlich war: wäre gut zu wissen.

Mittwoch, 21. April 2021

"Erfolgt ist nichts": Anne Will bilanziert und kriegt keine Antwort (am 18.4.2021): eine Hypothese zur Dynamik der Konfusion und Lähmung

Erfolgt ist nichts, begann Anne Will ihre Sendung am 18.4.2021 mit der Bilanz des Versprechens der Bundeskanzlerin vom 28.3.2021(Ich werde die nächste Zeit nicht zusehen und meinen Amtseid erfüllen). Das waren erfrischend klare Worte von Anne Will. Drei Wochen liegen zwischen diesen beiden Sendungen.  Der von Angela Merkel erzeugte Eindruck von Dringlichkeit ist verflogen.

Wieso?

Die Antwort gab Peter Altmeier, unser Finanzmister, indirekt. Erfolgt ist viel, widersprach er. Er verteidigte die Arbeit der Bundesregierung auf vertraute Weise mit langen Sätze-Perioden; interpunktiert mit seinem Lieblingswort Zweitens, das ein Drittens ankündigt, das nicht kommt - mit der Folge, dass man in seinen Satzgefügen versinkt und den Faden verliert. Wenn man da nicht hineinfährt wie Melanie Amann, die SPIEGEL-Journalistin, geht man unter; allerdings ist offenbar kein Ankommen gegen diese Art von zäher Wort-Watte. Mit anderen Worten: mit Argumenten kam man nicht weiter. Gespielt wurde bei Anne Will das Märchen vom Hasen, der vergeblich gegen das Igel-Paar anläuft. Die ganze Runde versank in der Vergeblichkeit des wattigen Austauschs. Selbst Michael Hallek, einer der Kölner Uni-Klinik-Chefs, offenbar ein Freund klarer Worte, der noch vor Tagen in den Tagesthemen darauf drängte, die Zeit nicht verstreichen zu lassen - es ist fünf nach zwölf, sagte er - , verlor seine Sprache und drechselte Sätze von altmeierischer Unschärfe.

Gestritten wurde um die untaugliche Metapher der Notbremse. Wer ist eigentlich ihr Erfinder oder ihre Erfinderin? Ein blamabler Fehlgriff missglückter politischer Kommunikation. Jetzt soll die Metapher sogar Gesetzes-Status (im Infektionsschutzgesetz) bekommen.  Gesetze als spezifische Orientierungsrahmen dienen der Klärung. Die Metapher der Notbremse hat die (seltsame) Funktion der Verklärung. Wenn die Notbremse gezogen wird, bleibt der Zug stehen; die Klärung des Notfalls und die Reparatur des Schadens können beginnen. Das Ziehen einer Notbremse, das wissen wir alle, ist ein seltenes Ereignis - ich habe es noch nie erlebt. Die Vollbremsung beim Autofahren ist ebenfalls selten. Als pandemische Intervention taugt die Vokabel nur zum Fantasieren. Der Stillstand per Notbremse fungiert im Fall der Pandemie als Illusion einer Hoffnung - er liegt aber in pandemisch weiter Ferne. Die Infektionsgeschwindigkeit einer  Pandemie lässt sich nur durch eine enorme Anstrengung verzögern oder abbremsen. Die gemeinsame Anstrengung können wir uns nicht ersparen. Diese schlichte Wahrheit wird vermieden. Stattdessen wird vom Licht am Ende des Tunnels gesprochen. Unsere Kanzlerin spricht davon; aber sie sagt nicht, wo wir uns im Tunnel befinden.

Die unbedachte Wortwahl bestimmte das Sprechen in Anne Wills Rederunde. Die  Grenzwerte der Infektionszahlen. Ab welchem Grenzwert sollte welche Intervention gewählt werden? Zur Debatte standen: 200, 100, 50 oder 35. Dabei ist diese Diskussion sinnlos.  Die Werte sind zu hoch. Zehn Infektionen sind das Ziel und die Strategie des Null-Covid-Konzepts. Erst dann lassen sich alle Infektionen identifizieren. Davon traute sich keiner der Mitdiskutanten zu sprechen.  Keiner riskierte, diese notwendige Anstrengung & Zumutung auszusprechen, auf die Illusion und die Hoffnung schneller, weit reichender  Lockerungen zu verzichten, sich auf das Konzept der Leopoldina (Null-Covid) zu beziehen und es zu verteidigen (Michael Hallek gehört zu der Gruppe). Es ging zu wie bei Harry Potter: der Name des Bösewichts durfte nicht ausgesprochen werden. Der Bösewicht der Rederunde, der nicht genannt werden durfte, war die Einsicht, dass es ohne eine drastische Zumutung und eine energische Anstregung nicht geht. Wenn die Wahrheit nicht gesagt werden darf, weil das Ausmaß und die Gefahr der Pandemie geleugnet werden, sind Konfusion, Lähmung und das Aufschieben der Bewältigung der Pandemie die Folge. Das Resultat an diesem Anne Will-Sonntagabend  waren:  Haareraufen, Resignation, Fassungslosigkeit, sublimer Ärger und fröhlicher Hohn - die Stimmung des ScherbenbringenGlück. Langsam wird das Porzellan knapp.

Mittwoch, 14. April 2021

Pandemisches Im-Kreis-herum-laufen

Am 28.10.2020 schlug Angela Merkel, als sie im Bundestag ihre Interventionen zum Management der Pandemie beschrieb, den (juristisch) nur ungefähr begründeten Dreiklang an: die Maßnahmen eines (halbherzigen) Lockdowns seien: "geeignet", "notwendig" und "verhältnismäßig". 

 10.12.2020: in den Tagesthemen der A.R.D. wurde Heyo Kroemer, Chefarzt an der Berliner Charité, zur Überlastung einer Intensivstation von Caren Miosga befragt.

Heyo Kroemer: "Wir sind an der Grenze des Machbaren".

Caren Miosga: "Es wäre also gut, das Leben vor Weihnachten noch weiter runter zu fahren?"

Heyo Kroemer: "Ich würde das nicht mit dem Wort gut verbinden, es ist meines Erachtens unbedingt notwendig zu reagieren".

13.4.2021:  in den Tagesthemen der A.R.D. wurde Michael Hallek, Direktor der Klinik I für innere Medizin an der Uni Köln, von Ingo Zamparoni befragt: "Aber geht es nur darum, dass die Situation zu kippen droht oder würden Sie sagen: in manchen Bereichen sind wir schon am Poller?"

Michael Hallek: "Es ist fünf nach zwölf".

Die beiden Chefärzte bleiben verbindlich, aber ihre Sprache und ihre Bilder deuten eine Katastrophe an. Michael Hallek spricht von der Gebirgsstraße, die mit 100 km/h befahren wird, obwohl dem Fahrer klar ist, dass er bei 30 km/h von der Straße fliegt. Es ist fünf nach zwölf, aber der Moderator hat noch die Chuzpe, das falsche Bild eines Pollers zu benutzen. Die Leugnung der Dringlichkeit der Not ist enorm. Die Leugnung des Stillstands und der Lähmung ist enorm.

 


Dienstag, 13. April 2021

Anne Will und Angela Merkel in der A.R.D. am 28.3.2021 - Klagen als Mittel der Politik der Herstellung öffentlicher Vertrautheit

Wenn unsere Kanzlerin in Anne Wills Rederunde auftaucht, ist Angela Merkel in Not. Ihre Politik bedarf einer nachdrücklichen Verteidigung. So war es beispielsweise im Sommer 2015, als der Aufruhr über die so genannte Flüchtlingskrise die öffentliche Diskussion dominierte. Angela Merkel bekam bei Anne Will die Gelegenheit, ihre Politik des Wir schaffen das einem Millionenpublikum zu erläutern.

Am Sonntagabend, dem 28.3., ging es um ihren Tage zuvor deklarierten Fehler, für den Angela Merkel in einer Pressekonferenz um Verzeihung gebeten hatte. Das war eine Art Kniefall und ein Eingeständnis vor einem Millionenpublikum der rührseligen Art gewesen: ein Flehen und Bitten, persönlich und unpersönlich, vertraut und reserviert zugleich, die Variation ihrer Grundmelodie Sie kennen mich. Wer wird der Kanzlerin  die Bitte um Verzeihung ausschlagen können?

Anne Will  frug Angela Merkel, für welchen Fehler sie sich entschuldigte. Die Antwort fiel der Kanzlerin überraschend schwer. Sie hätte viele Leute verunsichert, antwortete sie wörtlich; mit der verkündeten Osterruhe hätten sie nicht mehr gewusst, wie sie zu ihren Einkäufen kommen  sollten; das wollte sie ihnen ersparen, weshalb sie sie um Verzeihung bat und die Unruhe zuließ. Schwer vorzustellen, dass die Erfinder der Osterruhe an die praktische Seite dieser Einschränkungspolitik nicht dachten. Anne Will wollte das nicht glauben. "Ich war mir nicht sicher", beschrieb Anne Will ihren Eindruck, "ob Sie nicht um Entschuldigung bitten dafür, dass Sie am Ende Ihrer Autorität und Ihrer Durchsetzungskraft angelangt sind".

Angela Merkel widersprach: "Nein. Das glaube ich nicht. Für mich ist dieser Montag mit den langen Beratungen und diesen Pausen und vielem anderen auch eine Zäsur. Und da kann's jetzt nicht auch so ohne weiteres weitergehen". Die Wortwahl einer Zäsur lässt aufhorchen. Die Zäsur stammt vom lateinischen Wort caesura ab, das Fällen, Einschnitt, Schneise bedeutet. Die Zäsur bezeichnet ein dramatisches Ereignis. Was war in der Nacht vom 22. auf den 23.3.2021 so dramatisch? Die Sitzung war gescheitert - eine Schnapsidee (Osterruhe), eine hastig entworfene Intervention ohne Plan und Vorbereitung, war geboren,  am folgenden Tag verkauft und einen Tag später kassiert worden. Die Kanzlerin - Anne Will lag gar nicht falsch - war kopflos vor die Wand gelaufen. Dafür wollte die Kanzlerin sich entschuldigen.  Das sagte sie nicht am Tag der Bitte um Verzeihung. Sie sagte es (indirekt) am darauf folgenden Sonntag bei Anne Will, indem sie über die dysfunktionale föderale Abstimmung mit den Regierungschefs der Bundesländer klagte.  Auf der letzten Strecke dieser Pandemie, sagte sie wörtlich, funktionierten die Absprachen nicht; die Notbremse wurde nicht angetastet. Niemand zog sie richtig. Geben Sie uns auf?, fragte Anne Will. 

"Nein", antwortete Angela Merkel, "wenn das so wäre, würde ich ja meinen Amtseid verletzen". Dieses Argument hatte sie 2011 im Kontext der Fukushima-Katastrophe zur Beruhigung der Sorgen um die Sicherheit der Atomstrom-Erzeugung im Gespräch mit dem W.D.R.-Journalisten Ulrich Deppendorf (s. meinen Blog Vielleicht. Vielleicht vom 14.3.2011) verwandt. "Aber was es noch immer gibt", so Angela Merkel, (ist) "die Versuchung anzunehmen, dass uns das Testen vielleicht alleine hilft - das glaube ich zum Beispiel nicht...deshalb brauchte es zusätzliche Maßnahmen". Woran hakte es? Angela Merkel streitet ungern. Öffentlich ausgetragener Dissens ist nicht ihre Sache. Das Parlament des Bundestages ist für sie in weiter Ferne. Einfach ist das rasch gezimmerte, zügig verabschiedete Gesetz. Mit ihrer Taktik der (behaupteten, aber unmöglichen & falschen) Alternativlosigkeit drang sie bislang durch. Sie scheut energisches Handeln. Dramatische Szenen wie die Kontrolle der portugiesischen Strände per Hubschrauber, an die Anne Will sie erinnerte und worauf sie mit Abscheu reagierte, möchte sie vermeiden.  Sie folgt keinem  Konzept, das sie propagiert, übersetzt, erläutert, wiederholt und durchsetzt. Die Handlungsanweisungen ihrer Begriffe sind konturlos, unscharf und ambivalent: Notbremse, Instrumentenkasten, Shutdown oder Lockdown, Ernst-Nehmen, Kontaktbeschränkung und Bewegungseinschränkung

Seit Sommer 2020 liegt das Null-Covid-Konzept auf dem Tisch, dessen Grundgedanke Michael Meyer-Herrmann auf diese Formel gebracht hat: Man muss die Ansteckungszahlen energisch & präzis so weit drücken, dass es keine Infektion gibt, von der wir nicht wissen, woher sie kommt - die Nachverfolgung und Identifikation einer Ansteckung mit allen erdenklichen & angemessenen Mitteln sind das oberste Gebot. Nur so kann man die Kontrolle über die Covid 19-Pandemie samt ihren Mutanten erreichen. Nur wenn die Kontrolle besteht, kann man beginnen,  Lebens- und Beziehungsbewegungen in anderen Radien zu diskutieren und einzuräumen - nicht vorher oder nebenher (zum Trost & zur Beschwichtigung).  Die letzte Strecke dieser Pandemie, von der Angela Merkel bei Anne Will sprach, ist ängstliches Lavieren & Phantasieren vom Licht am Ende des Tunnels. Soweit sind wir noch nicht. Wo wir sind (im Prozeß der Pandemie), weiß keiner. Aber man kann den Leuten, ohne sie zu vertrösten oder hinzuhalten, zutrauen, die Realität der Pandemie auszuhalten. 

 

(Überarbeitung: 19.4.2021)

 

Freitag, 26. März 2021

Erschöpfung und Konfusion in der Willy-Brandt-Straße 1, 10557 Berlin, am 22., 23. und 24.3.2021: Drei Tage des Einblicks ins Polit-Getriebe

Montag, der 22.3.2021: Treffen zur Aussprache der Bundeskanzlerin und der Regierungschefs der Bundesländer zum Management der Pandemie in der Osterzeit. Vierzehn Stunden später, am frühen Dienstagmorgen, dem 23.3.2021, gingen  sie auseinander und trafen sich zu Dritt zu einer Runde mit den Presseleuten: Angela Merkel, Michael Müller und Markus Söder, der mit dem Stichwort Osterruhe aufwartete - womit  die drei Regierungschefs die Intervention einer fünftägigen Bewegungs- und Beziehungseinschränkung erläuterten.

Lange Sitzungen, das weiß jeder, der oder die sie einmal ausgehalten hat, sind ein Zeichen der Not und schlechter Planung: Sachverhalte kann man nur klären, wenn man frisch ist und darauf besteht, frisch zu bleiben. Zudem ist es unklug, unter der Aufsicht der draußen wartenden (ungeduldigen) Leute mit dem Notizblock und der Kamera zu diskutieren. Die Macht, sie warten zu lassen, elektrisiert die Diskutanten; aber je mehr Zeit verstreicht, um so mehr wird das Vergnügen zu einer Last und um so strapaziöser und schwieriger wird es, einen klaren Gedanken zu fassen. So verfingen sich die Akteure im  Geschäft der politischen show.  Die show, ein Missverständnis öffentlicher Kommunikation, gedacht als Demonstration politischer Entschlossenheit, verkehrte sich zu einer Veranstaltung der Lähmung. Was die show der Konferenz am Ende vermittelte, waren die leeren Taschen der Beteiligten: nichts Neues drin, nur eine neue Vokabel der Beschwichtigung: Osterruhe, der paradoxe Versuch eines energisch intendierten, aber halbherzig betriebenen Managements der Pandemie.

Stunden später am selben Dienstag hatte Caren Miosga von der A.R.D.  den Auftrag, für die Tagesthemen Michael Kretschmer, den Ministerpräsidenten von Sachsen, zu befragen. Nach dem Motto ihrer Redaktion Konfrontation ist das beste Wahrheitsmittel legte sie los:"Verraten Sie uns, wie das in der Nacht gelaufen ist. Wann wurde die Idee dieser Osterruhe geboren?"

Michael Kretschmer vermied, darauf zu antworten: "Na, das war bei Vielen, aber auch bei uns ein wichtiger Punkt. Deutschland ist sehr unterschieden. Wir haben Länder mit einer sehr hohen Inzidenz...und es gibt Länder, die sind davon verschont geblieben, vor allem die Nordländer. Ich bin sehr froh darüber,  dass es uns gelungen ist, einen gemeinsamen Weg zu finden, und wenn der eine oder andere das eher als Vorsicht empfindet als - so wie wir - eines aktiven Reagierens gegen eine Entwicklung, die gerade stattfindet ".

Michael Kretschmer wand sich,  Caren Miosga richtete sich im Hohlkreuz auf: " Wir haben gehört, diese Idee kam erst auf den Tisch, als die Verhandlungen feststeckten. Wie gut oder wie schlecht sind solche Treffen eigentlich vorbereitet, wenn solche Idee plötzlich als Verhandlungsmasse aufploppt?"

Michael Kretschmer wand sich und antwortete mechanisch - gewissermaßen aus der Tiefe seiner Sprechmaschine: "Ja, da ist natürlich der Wunsch gewesen...vieler Länder, doch Osterurlaub zu ermöglichen. Da sprach alles dagegen, was wir in anderen Bundesländern sehen. Das muss zuerst mal ausdiskutiert werden. Das ist ein großer Wert, dass so etwas gelingt, dass man sich zusammen auf einen Weg begeben kann...diese Entscheidung zu den fünf Tagen ist absolut unpopulär...es ist der Mittelweg, die Erfahrungen der letzten zwölf Monate zu nutzen; denn dieser Lockdown vor einem Jahr war unglaublich wirkungsvoll - man muss aber auch sagen: er war viel länger und viel konsequenter. Er hat uns durch einen Sommer gebracht, der sehr frei war. Diese Entwicklung können wir jetzt nicht erwarten. Wir haben jetzt hoffentlich ein Ausbremsen einer sehr unguten Entwicklung".

Abgesehen davon, dass er Caren Miosgas nassforsche Fragen natürlich unbeantwortet ließ, hatte  Michael Kretschmer kein substantielles Argument zur Verfügung. Er verteidigte die in der Sitzung verabredete Intervention und folgte seiner (partei) politischen Verpflichtung. Er machte - wer kennt das nicht? -  den Eindruck eines vor Erschöpfung platten Prüflings, der redet, um sich über die Runden seines Examens zu retten. Caren Miosga setzte - offenbar mit Vergnügen - nach: " Herr Kretschmer, Sie mögen uns nicht sagen, wie die Verhandlungen waren? Herr Woidke sagte, in der Nacht hätte das Ganze auch gut gegen die Wand fahren können. War das der Moment, als sie über den Osterurlaub im eigenen Bundesland gestritten hatten?" 

Caren Miosga erhielt keine Antwort. Der sächsische Ministerpräsident redete sich fahrig fest. Das Schauspiel einer demokratischen Tragödie fand vor unseren Augen statt: der Repräsentant eines hohen demokratischen Amtes hatte sich in seinen Aufgaben, Verpflichtungen und Loyalitäten verheddert. Man konnte den Abgrund öffentlicher politischer Dysfunktionalität sehen. Das Fernsehen mit seinem (unausgesprochenen) Versprechen, Geständnisse von den Akteuren der öffentlichen Diskussion zu erzwingen, gehört zu diesem Prozess der Entdifferenzierung dazu. Sinnvollerweise hätte Caren Miosga diese Art von Gesprächsüberfall sofort beenden müssen, als klar war, dass Michael Kretschmer sich im defensiven Kreis drehte. Aber eine Sendung wie die Tagesthemen muss ihrer ritualisierten Struktur mit ihrem Zeitraster folgen; das Gespräch mit dem sächsischen Ministerpräsidenten lag vor, lag im Kasten, Ersatz war (wahrscheinlich) nicht vorhanden, also musste es gesendet werden im Dienste eines - je nach dem, wie man aufgelegt ist - feixenden (Miß-) Vergnügens.

Desaströse Gesprächsleistungen vor den Kameras der beiden großen TV-Sender haben ihre Folgen. Das war so Mitte März 2011, als Angela Merkel am Sonntagabend, dem 13.3.2011, dem W.D.R.-Journalisten Ulrich Deppendorf gegenüber ihre Sorglosigkeit hinsichtlich der deutschen Atomkraftwerke - angesichts der schwer harvarierten Anlagen in Fukushima - ausbreitete und auf die deutschen Befürchtungen nicht einging (s. meinen Blog vom 14.3.2011 Vielleicht.Vielleicht). In dieser Nacht wurde viel telefoniert. Am Montag, dem 14.3.2011, erklärte die Kanzlerin die Revision ihrer kurz zuvor getroffenen Entscheidung, die Laufzeiten der Atomanlagen in der Bundesrepublik zu verlängern, und ein dreimonatiges Moratorium des Nachdenkens über eine rasche Aufgabe der Stromerzeugung aus der Atomenergie. 

Jetzt, am Mittwochmorgen, dem 24.3.2021, trat die Bundeskanzlerin vor die Kameras und nannte den Plan der Osterruhe:  einen Fehler. "Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler. Ich weiß, dass dieser Vorgang zusätzliche Verunsicherung auslöste. Das bedauere ich zutiefst. Dafür bitte ich alle Bürgerinnen und Bürger um Verzeihung". 

Ihre Mitteilung war eine monströse, unklar adressierte Geste mit einer heiklen Wortwahl. Wie kann man 80 Millionen Leute um Verzeihung bitten?  Die Bitte um Verzeihung gehört in die Intimität einer Beziehung; erbeten wird der Verzicht auf irgendeine Form der Vergeltung. Man kann sich vielleicht für einen Fehler entschuldigen (Tut mir leid, dass ich die Kartenstiche nicht richtig nachgehalten habe) - aber der Fehler ist hier das falsche Wort. Der Ton einer kitschigen Intimität wurde angeschlagen. Es geht um das Muster einer fortgesetzt unentschiedenen, nicht ernergischen, konzeptionslosen, ambivalenten Politik des Flehens und des Drohens (zwischen Bund & Ländern), des Aufschiebens und Vertagens zwischen der Forderung nach einer Bewegungs- und Beziehungseinschränkung und dem Andeuten des Trostes einer baldigen Einschränkungs-freien Zukunft (Lockerung! von den Fesseln der Pandemie! Normalität!).  In den von der Kanzlerin geleiteten Beratungen der Regierungen  wurden den Wissenschaftlern, erzählte die Virologin Melanie Brinkmann (DER SPIEGEL Nr. 6 vom 6.2.2021, S. 94 ff) nur jeweils drei Minuten Zeit gelassen...Angela Merkel räumte ein, dass in den politischen Gremien keine gemeinsam geteilten Konzepte existierten. Offenbar drängte sie nicht darauf, sich auf ein Konzept zu verständigen. Sie ließ es, muss man vermuten, laufen. Die letzte Sitzung, räumte sie ein, war unangemessen vorbreitet. Das aber ist kein Fehler, sondern ein Stil. Er zieht sich durch ihre Regierungsarbeit. Angela Merkel drängt nicht auf Klärung. In den drei Tagen des März räumte sie ein, dass sie  in Fragen des Managements der Pandemie in einer Sackgasse steckt. Immerhin. Wenn  man weiß, dass man den Wagen nicht gewendet bekommt, muss man den Fahrersitz freimachen.  Leider ist in der Sackgasse noch genügend Platz, den Wagen etwas in die eine und andere Richtung zu manövrieren. Unsere Regierung, befürchte ich, wird weiter am Lenkrad hin- und herdrehen. 


(Überarbeitung: 3.4.2021)

 

 

Donnerstag, 4. März 2021

Wieso dauern die Corona-Sitzungen der Länderchefs und der Bundeskanzelerin so lange?

Ich stelle mir das gar nicht so schwer vor. Die entscheidende Voraussetzung ist natürlich das von allen Beteiligten verstandene und geteilte Konzept. Am besten das Null-Covid-Konzept von Michael Meyer-Herrmann, dessen zentrales Ziel darin besteht: Es gibt keine Infektion, von der wir nicht wissen, woher sie kommt. So weit muss man kommen, um der Pandemie nicht ständig nachzulaufen. Dafür muss man sich auf ein energisches Vorgehen geeinigt haben. Halbherzigkeit ist schlecht und widerspricht dem Konzept von Michael Meyer-Herrmann. Dann muss man sich in der Runde über den Stand des Prozesses der Pandemie anhand von ausdiskutierten, ebenfalls geteilten Indikatoren verständigen, die Mittel (Ínterventionen), die zur Verfügung stehen, diskutieren und den Stand der logistischen und organisatorischen Hausaufgaben prüfen. Ist das so schwer? Jede Menge Fachleute stehen für alle Fragen zur Verfügung. Wenn die Sitzungen so lange dauern, kann das doch nur bedeuten: es wird immer wieder von vorn diskutiert... im Kontext zweier Fragen zur Beschwichtigung und Vernebelung: Wann wird was und wie gelockert? Und: Wie sagen wir's unseren Wählerinnen und Wählern?

Aber vielleicht habe ich zu wenig Fantasie.


(Überarbeitung: 15.4.2021)


 



Mittwoch, 3. März 2021

Fukushima und Angela Merkel: zehn Jahre danach im Dokumentarfilm von Inge Kloepfer in der A.R.D. bilanziert

 Ziemlich genau vor zehn Jahren hatten wir Fukushima. Fukushima ist das Sinnbild für die gewaltige menschliche, technische und politische Katastrophe geworden. Der Ort steht für die weltweite (erneute) Ernüchterung der Illusion, wir beherrschten den Umgang mit der Atomenergie. Fukushima steht für den öffentlichen Schock, für das Entsetzen unserer Öffentlichkeit, für die tiefe Beunruhigung über den Verlust unserer Sicherheit und unseres Platzes auf diesem Planeten. Fukushima steht für den Aufschrei nach einer drastischen Relativierung der Atomenergie - wobei der Aufschrei noch keine andere Energie-Politik bedeutet; denn die Frage bleibt, wie die internationale Gemeinschaft sich darauf verständigt, schnell den Raubbau, die Verschwendung natürlicher Ressourcen und das Verfeuern fossiler Brennstoffe radikal zu reduzieren, um die Erderwärmung zu drosseln. Wir müssen sehen, ob und wie die Antwort (mit oder ohne Atomenergie) gelingt.

Fukushima steht auch für die erratische, Plan- und Konzeptions-lose, EU-unfreundliche, buchstäbliche tolle Politik unserer Kanzlerin, den (von der früheren grünen und sozialdemokratischen Regierung) mit der Industrie der Energie-Versorgung ausgehandelten und abgestimmten Plan, die atomare Energiewirtschaft auslaufen zu lassen, zu kassieren, stattdessen die Laufzeiten der Anlagen wieder zu verlängern und wenige Monate später - als der Aufschrei der Empörung in der Welt-Öffentlichkeit widerhallte - eine Art Kehrtwendung durchzusetzen und dem öffentlichen Aufschrei zu folgen.

Das war populäre, bundesdeutsche Regierungskunst im Dienste öffentlicher Beschwichtigung und Beruhigung in Zeiten des Wahlkampfs in Baden-Württemberg.

Wie kam sie damit durch?

Das erzählt Inge Kloepfer in ihrem Dokumentarfilm Finale. Fukushima und der deutsche Atomausstieg. In der Frankfurter Allgemeinen  Sonntagzeitung (vom 28.2.2021, S. 23) beschrieb Inge Kloepfer ihre Rekonstruktion der fünf Tage im März 2011, in denen Angela Merkel ihre Politik korrigierte und durchsetzte; ihr Film wurde am Montag, dem 1.3.2021, kurz vor Mitternacht in der A.R.D. ausgestrahlt. Was damals vereinzelt auf den Tisch der Öffentlichkeit kam (s. meinen Blog Vielleicht. Vielleicht vom 14.3.2011), ist jetzt zu sehen und zu hören. Angela Merkel korrigierte innerhalb von fünf Tagen ihre Energiepolitik. Sie kündigte ein Moratorium des Nachdenkens, zu dem auch eine Überprüfung der ältesten Kraftwerke gehörte, an - eine Selbstverständlichkeit, die als Neuigkeit verkauft wurde.

Mit quietschenden Reifen kam Angela Merkel durch die Spitzkehre.  Sie führte die Ministerpräsidenten ihrer Partei, in deren Ländern Atomkraftwerke betrieben werden und die mit ihrer Entscheidung nicht einverstanden waren, vor: in der entscheidenden Pressekonferenz bluffte sie mit dem Wort ihrer gemeinsamen Entscheidung (die allerdings nicht abgestimmt worden war) - die Ministerpäsidenten widersprachen nicht, sie duckten sich weg. Die Öffentlichkeit als Erziehungsmittel. So macht man's. So hatte Angela Merkel es in ihrem (in der F.A.Z.  veröffentlichen Text der Aufforderung an ihre Partei, sich vom damaligen Kanzler Helmut Kohl zu ermanzipieren) im Winter 1999 getan.  

Übrigens spielte das Argument der Brückentechnologie (der Atomkraft) für die allmähliche Aufgabe der fossilen Brennstoffe offenbar keine Rolle für Angela Merkel. Die Frage der Kosten der Ausgleichszahlungen an die Atomindustrie  wurde offenbar vertagt. Der Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts, diese Frage neu zu regeln, ist die Bundesregierung noch nicht nachgekommen. Die Kosten für den Wahlkampf in Baden-Würtemberg sind immens. Wer trägt sie demnächst? 

Inge Kloepfers Fukushima und der deutsche Atomausstieg steht in der Mediathek der A.R.D.  bis Anfang März 2022 zur Verfügung. Dort resümieren  Jürgen Trittin, Renate Künast, Sigmar Gabriel,  Klaus-Dieter Maubach (E.On-Vorstand) und Peter Bannas (F.A.Z.) den Fukushima-Coup.  Jürgen Trittin: "Die Wahlen in Baden-Württemberg waren damals möglicherweise einer der Gründe,  nicht angreifbar zu werden. Uns wurde natürlich der Boden weggezogen in dem Moment, wo Frau Merkel entschieden hatte: Jetzt gibt's erst'mal ein Moratorium"". Renate Künast: "In dem Augenblick hat Merkel gerechnet, in der Mischung zwischen Wahlen in Baden-Württemberg, Überzeugung der Gesamtbevölkerung und: was wird wohl in den nächsten Wochen und Monaten passieren....das hat sie alles zusammengepackt. Frau Merkel funktioniert so. Frau Merkel hat an manchen Stellen gar nicht - für meine Begriffe - den Zugang, was sie als Erstes ihrer eigenen Überzeugung umsetzt, sondern sie fragt sich: Was will das Land?" Sigmar Gabriel: "...dass die Lösung, die Angela Merkel gefunden hatte, am Ende des Weges teurer ist....das ist die Ironie, aber auch die Bitterkeit für die Steuerzahler". Klaus-Dieter Maubach (E.On-Vorstand): "Ich habe an diesem Tag erlebt, wie aus politischer Motivation heraus der Rechtsstaat in Deutschland gedehnt wurde".  Peter Bannas bilanziert Angela Merkels Politik-Verständnis: "...die wesentlichen Entscheidungen, die sie getroffen hatte in ihrer Amtszeit, die großen Politik-Felder, da war sie selten wirkliche Akteurin".  

Nachtrag. Meldung der F.A.Z (5.3.2021) auf der ersten Seite: Bund zahlt 2.4 Milliarden an Energieversorger. Zur Entschädigung für 2011. It's only money.

 

 

Unsere Bundeskanzlerin (einmal wieder) im Gespräch mit Journalisten der F.A.Z.: die Akrobatik des treuherzigen Lavierens

"Ich bin im Reinen mit mir". Diesen Satz (F.A.Z. vom 25.2.2021, S. 3)  spricht Angela Merkel im letzten Absatz  des Interview-Textes aus. Berthold Kohler und Eckart Lohse hatten sie gefragt, ob sie ihren Entschluss, das Amt des Kanzlers für eine weitere Legislaturperiode auszuüben, nicht bereut hätte. Angela Merkel antwortete: "Nein. Ich bin sehr im Reinen mit mir. Vier Legislaturperioden Bundeskanzlerin zu sein ist heutzutage eine gute Zeitspanne. Ich kann ganz frohgemut die Verantwortung in andere Hände geben. Bis dahin werde ich meine Arbeit jeden Tag sehr gerne machen".

Sehr gerne ist inzwischen unsere Standardfloskel zu allen möglichen, alltäglichen Gelegenheiten, in denen die Last oder der Widerwille von Aufgaben oder  Begegnungen geleugnet und verdreht werden. Wer bringt schon sehr gerne den Müll nach draußen oder gibt bereitwillig Auskunft, obgleich man es eilig hat? Sehr gerne ist der Kotau und die ungenaue Selbstbeschreibung, die sich weitere Fragen verbietet. Wer wird schon so bösartig sein und mit Unglauben auf ein Sehr gerne! reagieren?  Dabei lassen die vier Sätze viele Fragen offen. Im Reinen im Amt des Bundeskanzlerin? Hat sie keine Zweifel? 16 Jahre im Amt: eine gute Zeitspanne? Kein Wort zu den Aufregungen und Strapazen dieser Jahre.

Erstaunlich. Müsste man nicht nachfragen? Angela Merkel kriegt es hin, dass nicht nachgefragt wird. Gefragt, ob das Schlimmste der Pandemie überstanden sei, antwortet Angela Merkel: "Wir können darüber nachdenken, wie schrittweise Öffnungen aussehen können. Ohne die hoch ansteckenden Mutationen wäre das vergleichsweise einfach möglich. Durch sie kommen wir nun aber in eine neue Phase der Pandemie, aus der eine Welle entstehen kann. Die sogenannte britische Mutation ist aggressiver als Ursprungsvirus und wird es verdrängen. Wir müssen jetzt also klug und vorsichtig vorgehen, damit eine dritte Welle nicht einen neuen kompletten Shutdown in ganz Deutschland erforderlich macht". Eine klare Frage verqirlt sie zu einer labbrigen Antwort.

Aber was stellt unsere Kanzlerin sich vor? Der komplette Shutdown in Deutschland ist ein  anderer Begriff als der Lockdown und eine neue Aussicht. Der Shutdown ist das Herunterfahren und Stilllegen einer industriellen Anlage, einer Firma, das Verriegeln und Abschließen eines Hauses. Nur der für den Erhalt der Anlagen notwenige Betrieb wird aufrecht erhalten. Der komplette Shutdown ist ein Pleonasmus. Die missglückte Wortwahl, muss man vermuten, deutet an: diese Intervention, über die offenbar bereits nachgedacht wurde, steht bevor. Das zu sagen versucht sie zu vermeiden. Sie weiß mehr, als sie sagt. Was weiß sie mehr?

Unsere Kanzlerin liebt die luftigen Ermahnungen aus der Kinderstube. Sie empfiehlt Klugheit und Vorsicht. Wer kann dagegen etwas haben? Die beiden Journalisten gaben sich zufrieden. Sie ließen sich abspeisen. Erstaunlich.