Dienstag, 14. September 2021

"Der fühlende Wähler"

Vom fühlenden Wähler war die Rede in Oliver Georgis Text in der Sonntagszeitung der Frankfurter Allgemeinen (12.9.2021, S.8). Gemeint ist die Wählerschaft, die ihren Gefühlen folgt:

"Wofür steht Olaf Scholz? Was unterscheidet ihn von Annlena Baerbock? Und was zeichnet Armin Laschet aus? Viele Wähler dürften auf diese Fragen keine sach-politische Antwort haben. Aber eine gefühlte".

Was ist eine gefühlte Antwort?

Weiß keiner. In so genannten Meinungsumfragen - ein luftiges Wort - wird schon mal nach dem (geschätzten) Grad der Sympathie gefragt. Wer ist sympathischer? Armin oder Olaf? Und wie sieht es mit Annalena aus? Sympathie: was ist das? Weiß auch keiner. Wir sind bei den (nicht bewussten) komplexen interaktiven Prozessen, in denen wir uns buchstäblich blitzartig versichern, mit wem wir es bei unserem Gegenüber zu tun haben. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Es ist natürlich komplizierter. Wir sind bei unserem Gegenüber so sicher, weil er oder sie uns bekannt/vertraut vorkommt, weil wir sie oder ihn abgeglichen haben (ohne es zu wissen) mit den (unendlich) vielen Leuten, mit denen wir zu tun hatten, die uns begegnet sind, und von denen wir gehört oder gelesen haben.

"Schon früher bildeten sich die Wähler ihre Meinung über Politiker oft aus dem Bauch heraus und nicht nur nach deren Programmatik. Doch Emotionalisierung und Personalisierung der Politik haben längst so zugenommen, dass sie die Sachfragen und politischen Lösungsansätze mitunter völlig zu überlagern scheinen".

Ja, mei. Hier überzieht einer mit der Gewissheit seiner Verachtung. Natürlich haben wir alle einen mehr oder minder komplexen und begründeten Vorrat an sach-politischen Antworten. Oliver Georgi: Längst so zugenommen, dass sie die Sachfragen und politischen Lösungsansätze mitunter völlig zu überlagern scheinen. Oh je. Noch eine Krise. Überlagern! War das nicht schon immer so? Wie war das mit Adenauers Keine Experimente? Wie war das mit Willy Brandt alias Frahm, dem außerhalb einer legalisierten Ehe geborenen Sohn (4. Bundestagswahlkampf)? War der CDU-Schmutz nicht größer? Schon immer wurde mit den Vorurteilen gespielt. Mit der öffentlichen Häme. Schon immer folgten wir unseren Vorurteilen, die allerdings eine komplizierte Geschichte haben - und die zu überprüfen und zu korrigieren eine Lebensaufgabe ist. Stuss wird uns ständig serviert. Man muss gut aufpassen und ist dauernd überfordert. Das soll so sein. Es geht um Herrschaft. Nur ja keine Antwort schuldig bleiben: das lernen wir von klein auf. Was ich nicht weiß, wird weg-gelärmt. Nebenbei oder etwas mehr als nebenbei geht es auch um die Sache der Demokratie. Wer weiß das schon genau. Was sind denn politische Lösungsansätze? Wer lacht da? Es ist doch immer ein Gewurschtel, ein Aufschieben, ein Vertagen, ein Herummogeln um die Wahrheit. Morgen ist auch noch ein Tag.  Stimmt. So gesehen, haben wir noch viel Zeit. Wer die Arbeit kennt und sich nicht drückt, der ist ist verrückt. Stimmt auch. Ein Leben reicht nicht für unsere Lebensaufgaben. Was soll man machen?  Früher hieß der Satz der ausweichenden Unwahrheit dazu: Da bin ich überfragt.  Das sagt heute keiner mehr. Wer heute gefragt wird, antwortet. Die Antwort ist das Unglück der Frage,  sagt Walter Boehlich. Unbeantwortete Fragen sind offenbar schwer zu ertragen. Lieber Antworten als Schweigen.

Emotionalisierung und Personalisierung der Politik, schreibt Oliver Georgi,  Was ist das? Der Aufschrei nach Echtheit - nach Wahrheit. Sagt das der Journalist  Oliver Georgi? Nein. Sieht er, an welchem Betrug er mitstrickt? An seinem Text ist das nicht zu erkennen. Der beschwert sich brav über die Neugier des fühlenden Wählers.  Vielleicht sagt er's abends beim Bier. Nehmen wir ein anderes Beispiel. Die Politikerin gibt in einer Pressekonferenz Auskunft. Alle wissen: ihr Auskunftstext ist nicht ihr Text. Wer hat alles  an dem Text der Auskunft mitgearbeitet? Welche Interessen sind eingegangen? Wer ist der Adressat? Aber die Politikerin wird hofiert und befragt, als wäre sie die Autorin des Textes. In meinem Leben wäre das Betrug. In der politischen Öffentlichkeit nicht.  Der TV-Journalist spricht ins Mikrophon vor einer Kamera. Wir sehen nicht den Teleprompter, von dem er abliest. Wir wissen nicht, wie der Text entstanden ist. Wir wissen nicht, was seine Redaktion ihm geraten hat zu sagen. Wie wissen nicht, wie sie ihn instruiert hat zu fragen. Wir wissen nicht, welche Interessen die Leute von der Redaktion verfolgen. Die Show schiebt sich dazwischen. Das elektronische Medium lebt vom Versprechen der Echtheit. Live! Live ist inszeniert, abgesprochen und geplant. Können wir das erkennen? Wenn die Titelmusik der Tagesthemen abläuft, die Kamera auf die Moderatorin zufährt, die sich mit den Kollegen noch kurz abstimmt, dann ihr Pult beobachtet für ihren Einsatz, schließlich  hochschaut und mit ihrer Begrüßung einsetzt - läuft die Inszenierung ab. Sehen wir die Inszenierung? Die Falschheit der Zuwendung? Ein bißchen, wenn man drauf achtet. Wer hilft uns beim Orientieren? Unser Empfinden für Echtheit und Unechtheit. Leider laufen wir häufig mit unserem affektiven Tasten ins Leere. Der fühlende Wähler ist in seiner Wahrnehmung eingeschränkt. 

Es gibt einen tiefen Wunsch die Wahrheit zu erfahren. Selten bekommen wir ihn erfüllt. Stattdessen kriegen wir die schale Show serviert - neuerdings mit dem kleinen Buchstaben l garniert. Schmeckt's? 

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