Donnerstag, 19. Dezember 2013

Der Aufguss des E

Gestern am Mittwoch, dem 18.12.2013, widmete die Feuilleton-Redaktion der SZ ihre erste Seite (S. 11) ihrem Kollegen Joachim Kaiser, der 85 Jahre alt geworden ist. Vier Autoren gratulierten Joachim Kaiser in diesem großen Forum: Stefan Hunstein, Maurizio Pollini, Fritz J. Raddatz und Botho Strauss. Botho Strauss ließ die 1950er Jahre anklingen mit ihrer strengen Differenz von E und U: als die populäre Kunst noch als Massenvergnügen verachtet wurde. Hier sind einige Sätze von Botho Strauss über Joachim Kaiser - von denen ich gern wüsste, wie die Redakteure des Feuilletons, die Kenner und Liebhaber der populären Kunst sind, sie aufnahmen und für den Druck einrichteten: "Man möchte seine Intelligenz wie eine Melodie notieren können ... Intelligenz im Allgemeinen ist etwas Unleidliches. In der Regel beruht sie auf irgendeinem Charaktermangel oder auf dem Mangel an profunderen Gemüts- und Geistesleistungen ...Man muss es festhalten - und dazu lässt sich der Superlativ nicht vermeiden: Er ist der letzte und vorbildlichste Vertreter einer schöpferischen ästhetischen Reflexion und Bildung in einer Zeit, da die Intelligenz komplett amusisch und, ausschließlich aufs Soziale gerichtet, vom Sozialen vollkommen korrumpiert wurde".

Junge, Junge.  
 

Dienstag, 17. Dezember 2013

Adolf Hitler lesen? Klar, keine Frage!

Am Freitag, den 13.12.2013, verwies Willi Winkler im Feuilleton der SZ auf das Ende der "urheberrechtlichen Schutzfrist" für Adolf Hitlers Text Mein Kampf , die 2015 abläuft - 1948 war nach einem Alliierten-Statut das Vermögen des Verlags Franz Eher, der Mein Kampf publiziert hatte, auf den Freistaat Bayern übertragen worden, der es seitdem "als Landesvermögen vom Finanzminister betreut". Wird der Text des nationalsozialistischen Regierungschefs demnächst jeder  und jedem Interessierten zugänglich sein? Das ist die Frage. Die bayrische Landesregierung hat den Plan, den Text Mein Kampf in einer kritischen, kommentierten Fassung zu veröffentlichen, aufgegeben - der Kosten wegen. Was soll man mit dem Text machen, fragte die SZ im Aufmacher auf ihrer ersten Seite ("wegschließen oder herausgeben"), und machte sich zum Sprachrohr der Ängstlichkeit der 1950er Jahre, als schon das Adjektiv nationalsozialistisch schwer über die Lippen ging und als der Mann aus Braunau als der mächtige Verführer, gegen den kein sprichwörtliches Kraut gewachsen war, in der öffentlichen Diskussion gehandelt wurde.

Das ist jetzt 60 Jahre her. Die bundesdeutsche Dämonisierung des Führers ist eine verdrehte Idolisierung. Sie ist offenbar schwer zu verstehen und aufzugeben (s. meinen Blog vom 11.10.2013). Ich habe Hitlers Mein Kampf nie gelesen. Mir das Buch im Antiquariat zu besorgen, war mir zu teuer; ich dachte, einmal wird es doch preiswert zu haben sein. Jetzt würde ich es gern lesen. Hitlers Reden kenne ich zum Beispiel aus dem Leni Riefenstahl-Film Triumph des Willens. Der Film ist ein schrecklicher Schinken: der Rhythmus von Aufmarsch, (symbolischem) Kniefall vorm Führer, Nicken des Führers - die inszenierte Gestik der nationalsozialistischen Vergewisserung; das Ganze interpunktiert von dessen Hass-Reden - ist enorm strapaziös. Aber er gestattet einen Blick in den deutschen Abgrund. Und das Buch Mein Kampf? Die Lektüre zum Blick in den Abgrund. Sie könnte zur Ernüchterung beitragen. Sie könnte das Interesse an der Frage wecken, wie der weit reichende Prozess der forcierten Idolisierung (wie weit er reichte, können wir leider nicht mehr klären) Adolf Hitler zu Adolf Hitler machte.


Montag, 16. Dezember 2013

Die Melodie des Klagens

Am Samstag druckte der Kölner Stadt-Anzeiger sein Interview mit Hartmut Rosa ab, dem, wie es dort hieß, "Zeitforscher und Soziologieprofessor" (in Jena). Er ist der Verfasser des Buches mit dem Titel Beschleunigung und Entfremdung: Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit". Der Titel kombiniert Karl Marx mit Theodor Wiesengrund Adorno und der Andeutung eines vagen Zeit-Empfindens.

Was sagt Hartmut Rosa? "Ob in Wirtschaft, Kirchen, Pflege, Bildung - auf jedem Sektor haben ganz viele Menschen das Gefühl, die Beschleunigung betrifft nicht nur ihre Arbeit, sondern die ganze Art des Lebens. Sie ist zur nagenden Erfahrung geworden, die jeder kennt".
Frage: "Woher kommt eigentlich das Gefühl, dass alles schneller wird?"
Hartmut Rosa: "Die Geschwindigkeitssteigerung ist erst einmal real... ein Grundphänomen der modernen Gesellschaft seit 300 Jahren. Durch die technische Steigerung etwa beim Transportwesen oder bei den Kommunikationsprozessen können wir Dinge und Menschen immer schneller in Bewegung setzen. Aber seit 1990 gibt es eine qualitativ neue Beschleunigungswelle. Durch die Digitalisierung, das Internet und die Öffnung der Finanzmärkte".
Frage: "Mit welchen Folgen?"
Hartmut Rosa: "Das setzt eine beschleunigte Veränderung unserer Umwelt in Gang... Die Basis der Beschleunigung ist die Wettbewerbslogik der Gesellschaft: Kapitalismus ist per se steigerungsorientiert.... Im Ergebnis beschleunigen wir alles: Wir stellen mehr her, konsumieren mehr, haben mehr Sozialkontakte. Auf allen Kanälen steigern wir den Takt und die Optionen. Nur die Zeit, die Optionen auszuschöpfen, bleibt immer gleich".

Bei Allaussagen vom Zuschnitt alles oder immer werde ich hellhörig. Beschleunigen wir alles? Natürlich nicht. Der Straßenverkehr wird langsamer, die Staus größer, ein Spielfilm oder ein Fußballspiel dauert noch immer gute 90 Minuten - allerdings die Schulzeit und das Studium werden kürzer, da wurde, könnte man sagen, beschleunigt. Aber auch da muss man fragen: sind die Lernprozesse tatsächlich beschleunigt worden? Sie wurden (in der Schule) verkürzt und  (in der Universität) gestutzt: Umwege sind weniger möglich, Abschweifen (in andere Fächer oder Lektüren) ist nicht zu empfehlen; die Prüfungstakte wurden erhöht. Es ist kompliziert. Am besten sieht man zuerst die eigenen Lebensrealität durch. Ich konsumiere weniger, ich habe weniger Sozialkontakte; ich beschränke mich. Aber das hängt u.a. mit meinem Alter (ich bin 1945 geboren) und meiner veränderten Lebensrealität zusammen. Lebensrealitäten auf den einen Nenner gemeinsamen Zeit-Erlebens zu bringen, halte ich für ein unmögliches Unterfangen. Der Soziologe Hartmut Rosa sieht die großen Einheiten, die weitreichenden Muster. Die Frage ist, wie weit trägt die Beschreibung der Beschleunigung?

Nicht weit. Man müsste sie zuerst deklinieren nach Beruf, Status, Schicht, Lebensverhältnisse. Das wäre die Aufgabe groß angelegter Forschung. Aber auch ohne solche Forschung lässt sich die Beschreibung der Beschleunigung als (soziologische) Gesellschaftsdiagnose durchgehen. Beschleunigung ist das Narrativ einer Klage, die mit den Worten angestimmt wird: man kommt zu nichts; das Leben geht an einem vorbei; die Zeit verfliegt. Es ist die Klage eines Verfehlens. Wir leben in einer Zeit des Missverhältnisses riesiger (buchstäblich globaler) Wahl-Möglichkeiten - Rosa nennt das Optionen - und mächtiger Fantasien des Glücks einerseits und begrenzter eigener, individueller Fähigkeiten und Möglichkeiten. Wer eine Wahl trifft, legt sich fest und schließt viele andere Wahlen aus. Ein Leben offeriert eine begrenzte Auswahl an Wahlen; man kann nicht mit ihnen experimentieren, man muss sie leben. Ein Leben ist begrenzt; um diese Lebenstatsache geht es. An der  Evolution einer Gesellschaft kann man nur eine Lebensspanne teilnehmen; mehr ist nicht drin. Der Aufschrei über unsere Vergänglichkeit beschleunigt unser Klagen.

Donnerstag, 12. Dezember 2013

Die spitzen Finger der öffentlichen Diskussion

Heute in der SZ auf Seite 5: "Die Demokratie der Besserverdienenden. Wer beteiligt sich an Wahlen, wer bleibt lieber daheim? Die Bertelsmann-Stiftung legt eine Studie vor, deren Ergebnisse erschrecken".

Erschrecken sie? Wen?

Der Autor des Textes, Detlev Esslinger, bilanziert die Studie: "Je prekärer die Lebensverhältnisse, desto eher geht jemand nicht zur Wahl". Beispiel: die Wahlbeteiligung im Kölner Villenviertel Hahnwald lag bei 89 Prozent, im Stadtteil Chorweiler, der als sozialer Brennpunkt gilt, bei 42 Prozent. "In Chorweiler beträgt die Arbeitslosenquote 19 Prozent, in Hahnwald ein Prozent. Dahinter verbirgt sich zudem, dass die Prozent-Abstände zwischen den Bezirken mit den niedrigsten und denen mit der höchsten Beteiligung immer größer werden. Und dahinter verbirgt sich, was man zum Beispiel in Hamburg feststellen kann. In den Stadtteilen mit der niedrigsten Beteiligung finden sich, gemessen an den Stadtteilen mit der höchsten Beteiligung, 36-mal so viele Haushalte aus ökonomisch schwächeren Milieus, doppelt so viele Menschen ohne Schulabschluss, fünfmal so viele Arbeitslose".

Christoph Butterwege ist der Kölner Politikwissenschaftler, der seit langem die psychosozialen und politischen Folgen des Prozesses der Verarmung untersucht - der auch schon für die Außenansicht der SZ Autor und in den TV-Rederunden Fachmann war. Wissenschaftler benutzen aus guten Gründen ein temperiertes Vokabular. Sigmund Freud hatte ja die Hoffnung, dass die leise, aber ständige Stimme der Wahrheit gehört werden würde. Der Prozess der Verarmung ist ein Prozess der psychosozialen Vernichtung -  der Begriff der Exklusion ist dafür ein elegantes (lateinisches), aber ein schwaches Wort - : ein Prozess des selbst-zerstörerischen Rückzugs aus enorm unbefriedigenden, weil permanent kränkenden und demütigenden  Alltags-Beziehungen (im öffentlichen, nicht privaten Kontext) oder Lebensbedingungen. Das Schul-schwänzende Kind, das die familiäre Not austrägt, protestiert noch vergleichsweise laut gegen seine Lebenssituation; der Erwachsene, der nicht wählt, ist verstummt.

Wo ist der öffentlich geführte Protest gegen diesen Prozess des Ausschlusses? Die Dialektik von Einschluss und Ausschluss ist heikel: sie verstärkt die Verteilungsverhältnisse und das Sträuben gegen das Abgeben. Womit wir beim Grundproblem sind und eine Antwort auf die Frage haben, warum die Mittel zur Linderung der Verarmung zu schwer zu etablieren sind.

Immerhin: es gibt gute Nachrichten. Die U.S.A. führen die Volcker-Regel ein (SZ vom 10.12.2013, Nr. 285, S. 29):
"Banken ist nicht gestattet, sich an Hedgefonds und Private-Equity-Fonds zu beteiligen, sie zu besitzen oder zu finanzieren und Eigenhandelsgeschäfte auf eigenes Risiko zu tätigen. Banken müssen ihre Wertpapier-Handelstätigkeit auf Kundenaufträge beschränken und dürfen selbst keine riskanten Positionen aus eigenen spekulativen Motiven eingehen".
Das ist doch Fortschritt. Die Dialektik des Einschlusses und des Ausschlusses wird gebremst. Hoffentlich.

Mittwoch, 11. Dezember 2013

Willy Brandt, Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing

Zwei bewegende Sendungen strahlte ARTE gestern Abend aus: die Dokumentation über Willy Brandt und das Gespräch, das zugleich ein vorsichtiges (sich wenig einmischendes) Interview war, zwischen dem 1918 geborenen Helmut Schmidt und dem 1926 geborenen Giscard d'Estaing. Brandt und Schmidt sind die beiden SPD-Kanzler (1969 - 1974 und 1974 - 1982), die die westdeutsche Kluft repräsentierten. Als Primaner nahm ich 1961 zum ersten Mal einen üblen Ausfall des ersten Kanzlers der Bundesrepublik deutlich wahr: Konrad Adenauer nannte seinen Konkurrenten im Wahlkampf den Herrn alias Frahm, spielte auf dessen uneheliche Geburt an und und wunderte sich laut über dessen Leben in Norwegen in den nationalsozialistischen Jahren. Der alte Herr hackte in seiner Not - muss man vermuten - mächtig Holz; wofür sich später meines Wissens kein Mitglied der Union entschuldigte. Wieso auch. Die Politik der Kränkung blieb das Muster des Umgangs. Zähneknirschend nahmen die Abgeordneten der Union im Bundestag die Mitteilung des Bundestagspräsidenten Kai Uwe von Hasselt entgegen, dass Willy Brandt 1973 der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Willy Brandt war unser visionärer Politiker, der den 9.11.1989 erlebte und das Wort vom Zusammenwachsen, das zusammen gehört prägte. Seine Bedeutung für westdeutsche Moral, Integrität und Identität war und ist enorm.

Helmut Schmidt war anders - er musste, würde er vielleicht in seiner Schnodderigkeit sagen, den Laden, der mächtig in Aufruhr geraten war, zusammenhalten. Er pflegte die leisen lauten Töne. Er pflegte eine kollegiale Männer-Freundschaft mit dem französischen Präsidenten. Im Interview konnte man sehen, dass das Wort von der Freundschaft  zutraf - Giscard d'Estaing war der Erste, dem Helmut Schmidt von seinen jüdischen Wurzeln erzählte. Im Gespräch räumte Helmut Schmidt ein, dass er die politische (psychosoziale) Bedeutung der symbolischen Gesten unterschätzt hatte - beispielsweise die Geste des Händchenhaltens von seinem Nachfolger Helmut Kohl mit dem französischen Präsidenten Francois Mitterand - ; vielleicht, deutete er an, hätte er mehr aus seiner Beziehung machen sollen. Zum Glück ist es nicht geschehen: wenn man genau hinguckt, fällt die Inszenierung auf und in sich zusammen. Es war wohltuend zu sehen, dass die beiden Politiker ihre Integrität nicht verraten und sich dem Geschäft der forcierten Intimität nicht überlassen hatten. Bei Angela Merkel und Francois Hollande - in einem kleinen, einmontierten Ausschnitt - konnte man dagegen sehen, wie das betuliche Gerede und das Handeln sich kommentieren:  Angela Merkel bugsierte ihren Kollegen ungeduldig und taktlos in die richtige Position auf dem roten Teppich - wie einen kleinen Jungen, der sich zu langsam bewegt in feiner Gesellschaft.

Freitag, 6. Dezember 2013

Hypothese zur Wut auf den Tourismus

Gestern, am 5.12.2013, hatte die Redaktion der SZ für ihr Reisen-Buch die für den Kinogänger herrliche Idee, Drehorte und Reiseorte zusammen zu bringen; New York City schnitt dabei natürlich gut ab - so gut, dass Fritz Göttler, der Filmkritiker dieser Zeitung, keinen mächtigen Impuls  (oder muss er ihn mächtig in Schach halten?) verspürt, Manhattans Pflaster unter die Füße nehmen. Klar, so wie die Kino-Optik N.Y.C. oder andere nordamerikanische Städte oder Landschaften in den Blick nahm und nimmt, kriegt man das als Tourist nicht hin.

Tourist - diese Vokabel mit der für uns geläufigen negativen Konnotation fiel mir auf in einem anderen Text, in dem der Satz von Hans Magnus Enzensberger zitiert wurde: "Der Tourist zerstört das, was er sucht, indem er es findet". Dieser Satz ging mir nach. Leider konnte ich den Text nicht finden, in den er gehört. Er soll aus dem Jahr 1989 stammen. Also nicht aus Enzensbergers Einzelheiten. Bewusstseins-Industrie aus dem Jahr 1962, als er " Eine Theorie des Tourismus" vorlegte, die eher eine Hypothese des Tourismus war:
"Dies die unberührte Landschaft und die unberührte Geschichte, sind die Leitbilder des Tourismus bis heute geblieben. Er ist nichts anderes als der Versuch, den in die Ferne projizierten Wunschtraum der Romantik leibhaftig zu werden. Je mehr sich die bürgerliche Gesellschaft schloß, desto angestrengter versuchte der Bürger, ihr als Tourist zu entkommen".
Der vorletzte Satz des Textes:
"Der Tourismus zeigt, dass wir uns daran gewöhnt haben, Freiheit als Massenbetrug hinzunehmen, dem wir uns anvertrauen, obschon wir ihn insgeheim durchschauen".

So klang das Enzensbergersche Idiom Anfang der 60er Jahre. Heute würde er (vermutlich) den apodiktischen Tonfall (nichts anderes als, je mehr - desto, entkommen und  Massenbetrug) ironisch unterlaufen - diese Anpassung ans unbarmherzige Frankfurter Gewissen ist passé - , aber die Abneigung, sich einem Touristen zu nähern, ihn zu verachten und sich ins Fäustchen zu lachen über die ausgetretenen Wanderwege, auf denen man ihn (leider) wiederfindet,  kehren heute wieder in dem Zitat des über 20 Jahre alten Satzes vom Tourist, der zerstört, indem er findet.

Was zerstört er? Nimmt man den Satz wörtlich, dann modifiziert der Tourist sein Bild einer Stadt oder einer Landschaft, die sich ihm anders präsentiert. Das kann natürlich ernüchternd sein. Das Schlimmste, was einem passieren kann, sagte Sigmund Freud einmal, wäre die Erfüllung eines Kinderwunsches - eines besonders sehnsüchtig gepflegten Wunsches; er hatte die (mögliche) Begegnung mit Rom schlecht ausgehalten. Aber das meint der Satz vielleicht gar nicht. Das Problem ist der Tourist im Plural. Der oder die Reisende ist nicht mehr allein; der Strand ist besetzt, die Bucht belegt, und vor der Sehenswürdigkeit wartet eine lange Schlange. Die oder der Reisende ist nicht die oder der Erste. Im Plural ist man - bezogen auf die Gruppe der Einheimischen - ein Fremder; man fühlt sich ausgeschlossen. Allein glaubt man, unter den Einheimischen  - vielleicht - nicht aufzufallen und  die Illusion pflegen zu können, dazu zu gehören. Neulich fuhr ich auf den Parkplatz eines kleinen Hotels in Worcestershire: ich ertappte mich dabei, wie ich mir die Nummernschilder der anderen Fahrzeuge anschaute und Ausschau hielt nach einem bundesdeutschen Kennzeichen. Ich fand keins, aber beim Frühstück saß (leider) am Nebentisch ein Deutsch sprechendes Paar mit adoleszenter Tochter.

So verstanden, repräsentiert der  Tourist (auf den ich innerlich mit dem Finger zeige, ohne mit dem Finger auf ihn zu zeigen) die Projektionen der (abgelehnten) Aspekte meines Selbstbildes und meiner Identität. So verstanden, verdichtet die dem Touristen attestierte Zerstörung den eigenen Wunsch, dem Landsmann oder der Landsfrau nicht zu begegnen. Und was ist mit dem so genannten Massen-Tourismus? Den hatte doch wohl Hans Magnus Enzensberger im Sinn? Das ist eine andere Geschichte.  Man kann sie lesen als das Produkt einer von vielen Prozessen der Demokratisierung oder, anders gesagt, der Assimilierung aristokratischer Lebensformen. Das Auto ist das vertraute Beispiel. Es ist ein Kind der Kutsche. Früher war die von Pferden gezogene Kutsche ein wirklich kostspieliges, nur der Oberschicht verfügbares Vergnügen, aus den Kosten ein Spiel zu machen. Heute haben die Pferde-Kutschen unsere Welt und unsere Lebensformen verändert - das touring by car wurde so möglich. Und wie das so ist: eine oder mehrere Industrien realisieren diese Vergnügen und beuten sie aus zu unserem Vergnügen und zu unserem Missfallen.

Schreiben ist übrigens ähnlich wie Reisen in der Hinsicht: jemand war (fast immer) schon vor einem da. In meinem Fall hier war es Joseph von Westfalen, der im TRANSATLANTIK-Heft  8/1984 den Text schrieb: "Der deutsche Stolz. Geschichte einer Kränkung". 

Dienstag, 3. Dezember 2013

Der Aufbruch und der Durst: vom Problem der Deutung unserer Gegenwart

Vor 50 Jahren wurde der nordamerikanische Präsident John Fitzgerald Kennedy am 22.11.1963 in Dalles ermordet. Die SZ erinnerte am 22.11.2013 an die die U.S.-Amerikaner erschütternde und die Welt-Öffentlichkeit bewegende Tragödie. Die Erinnerung ist nicht verblasst; sie arbeitet in den nationalen Öffentlichkeiten unterschiedlich - wie sehr oder wie wenig, wissen wir nicht; wir können das Ausmaß der inneren, nicht der veröffentlichten, sondern der intimen Beschäftigung nicht ausmessen - weiter. Reymer Klüver tat es für die SZ; sein Text hatte den Titel: "Eine Art Held. John F. Kennedy gab der Nation, wonach sie dürstete. Doch auch er hätte die Menschen desillusioniert". Was gab dieser Präsident seiner Nation? Reymer Klüver gab diese dichte Antwort: "Kennedy fing schlicht den Geist der Zeit ein".

Das Adverb schlicht fungierte im Text als eine Art Selbst-Vergewisserung des Autors, der darum bat, seine Formel vom Geist der Zeit als eine Erklärung zu akzeptieren. Worin bestand er? "Die Amerikaner sehnten sich damals nach einem Aufbruch. Und er gab der Nation, wonach sie dürstete. Er versprach die Schande der Rassentrennung zu beenden, er schuf den Peace Corps, er verordnete die Landung auf dem Mond, er gab ihr das uramerikanische Gefühl zurück: dass die Zukunft grenzenlos ist und die Probleme lösbar sind, wenn man sie nur angeht". Waren das die damaligen Subtexte - die zentralen Wünsche und Fantasien der U.S.-Amerikaner? Der Aufbruch und der Durst - was war das in den nationalen Kontexten? Schwer zu sagen. Es sind so ungenaue Texte oder Narrative unbekannter Reichweite. Der aus einem offenbar tiefen Ressentiment gespeiste Hass auf den jetzigen  U.S.-Präsidenten, der in einer milden Form als Verachtung des gescheiterten, ehemals messianischen Politikers bei uns mittlerweile kursiert  - sein Ausmaß und seine Qualität sind sicherlich nicht abzuschätzen - ist enorm; gewissermaßen schlecht gefiltert schafft er heute in einem (für mich) unvertrauten Ausmaß seine politischen Realitäten; die U.S.A. wirken zerrissen. Diesen erschreckenden Eindruck hatte ich das letzte Mal am 3. 10.1995, als die Geschworenen im Mordprozess Orenthal James Simpson, den Football- und Schauspieler, freisprachen - und Fotos vom Jubel und vom Entsetzen bei uns erschienen und eine tiefe Kluft der nordamerikanischen Bevölkerung illustrierten.

Mit anderen Worten: welche Kontexte werden für die Deutung einer Gegenwart herangezogen und ausgewertet? Im Falle von JFK kann man sagen: er wird lebendig gehalten. Weshalb? In welchen Tagträumen? In welchen Fantasien? In welchen Gedanken und Erinnerungen? Who knows?
Am besten fängt man mit Beschreibungen der nationalen Zerrissenheiten in vielfältige, geschichtete Kontexte an - und hütet sich vor den vertrauten Kontexten, die der Beruhigung dienen.

Neues zur Heiligen Kuh IV

Joschka Fischer hat seinen von einem Elektromotor angetriebenen BMW i 3 in Leipzig abgeholt - im Rahmen einer stattlichen Inszenierung des Autos, berichtet heute die SZ (3.12.2013, Nr. 279, S. 18). Die Botschaft sei, schrieb der SZ-Journalist, "Fischer war einst Grünen-Politiker und ist jetzt Werbefigur für die deutsche Automobilindustrie". D'accord. Die Autobranche kämpft und kämpft. Jeder kämpft mit seinen Mitteln. Ob die Freude am Fahren sich auch im Elektroauto erhält? Keine Motorgeräusche mehr? Nur noch noch Lauf - und Fahrgeräusche? Wo bleibt die geräuschvolle Entfaltung der Kilowatt-Macht? Davon abgesehen: wo kommt der Strom für die (geplanten) vielen Fahrzeuge her? wo die vielen Batterien? Auf jeden Fall muss Joschka Fischer regelmäßig befragt werden, wie oft er seinen neuen i3 bewegt.

Nachschlag zur Manege des TV-Journalismus

Heute Morgen in der SZ (3.12.2013, Nr. 279, S. 5): "Er kann auch anders. Sigmar Gabriel gibt ein versöhnliches ZDF-Interview - sagt aber auch rätselhafte Dinge". Christoph Hickmann ist der SZ-Autor, der das Gespräch der ZDF-Journalistin Bettina Schausten und ihres Kollegen Peter Frey mit Sigmar Gabriel bilanziert. Er kann auch anders ist die Beschreibung, die (wiederum: s. Blog vom 2.12.2013) die Interaktion nicht in den Blick nimmt: die inszenierte Situation der Sendung Was nun, Herr Gabriel? war anders. Bettina Schausten schlug mit ihrer ersten Fragen einen anderen Ton (als ihre Kollegin Marietta Slomka) an:
"Was nun, Herr Gabriel - ein Interview, zu dem wir uns schon vor zehn Tagen verabredet haben. Ihr letzter Auftritt im ZDF vergangenen Donnerstag im Heute Journal hat ja für ordentlich Furore gesorgt wegen des Schlagabtauschs mit Marietta Schlomka. Mein Eindruck  war: die Nerven lagen schon ziemlich blank bei Ihnen. Ist das so eng mit dem Mitgliederentscheid?"

Der erste Unterschied zum vergangenen Donnerstag: der damalige Subtext war hier der Text der Frage Ist das so eng?, die sich direkt nach Sigmar Gabriels Verfassung erkundigte. Dessen Antwort war: "Ich bin jetzt gar nicht so sicher, bei wem von uns beiden die Nerven blank lagen - aber das war ja eine Veranstaltung, dass die Zustimmung sehr groß geworden ist zum Koalitionsvertrag. Ich glaube, wir werden eine breite Zustimmung bekommen". Der zweite Unterschied: Sigmar Gabriel räumte seine prekäre Verfassung ein, gab Frau Schausten Recht und relativierte sein Zugeständnis mit dem Hinweis auf die ZDF-Kollegin.

"Verstehe ich Sie richtig", fragte Frau Schausten nach, "war das so kalkulierte Pampigkeit bei Ihnen - denn in Hofheim selbst, da haben Sie die Reihen ja geschlossen". Der dritte Unterschied: Frau Schausten explorierte die Verfassung des SPD-Vorsitzenden weiter, indem sie ihr Verständnis anbot. Sigmar Gabriel antwortete: "Frau Schausten - Sie wissen, das wäre mir doch wesensfremd. Nein, das war ein spontanes Interview - Frau Slomka hat mich mit verstärkter Höflichkeit gefragt und ich habe mit verstärkter Höflichkeit geantwortet". Der vierte Unterschied: Sigmar Gabriel gelang eine selbstironische, humorvolle Geste. Der fünfte Unterschied: Er konnte von einer symmetrischen Interaktion (wie du mir, so ich dir) sprechen. Der sechste Unterschied - in einem Wort: Es fand ein Gespräch statt. 

Die Manege wurde nicht inszeniert. Bettina Schausten und Peter Frey hatten sich eine Haltung des Gebens und Nehmens, die zu einem Gespräch gehört, vorgenommen; sie hatten offenbar keine Gesprächs-fremden Interessen - abgesehen (vielleicht) von der Absicht, einen entgleisten Machtkampf im Dienste des Bildes ihres Senders zu reparieren, um sich später wieder in die Augen sehen zu können. Sigmar Gabriel hatte sich (offenbar) beraten lassen, besonnen zu reagieren und zu argumentieren. TV-Journalismus lebt nämlich von der Beziehungsfähigkeit und dem Beziehungsvertrauen der Beteiligten - ein Kontakt im Fernseh-Studio ist ein interaktiver, wenn auch öffentlicher, aber auch sehr intimer Prozess, bei dem die Integrität und Fairness der Beteiligten getestet wird, nicht bloß ein gegenseitiges, zynisches Geschäft mit Einschaltquote und Wählerzustimmung, mit kalkuliertem Exhibitionismus und forciertem Voyeurismus.

Montag, 2. Dezember 2013

Wenn man ins Schwarze trifft, hat man noch nicht gewonnen: die Manege des Fernseh-Journalismus am Donnerstag, den 28.11.2013, Uhr 21.45

Am Donnerstagsabend, den 28.11.2013, führten die ZDF-Journalistin Marietta Slomka und der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel in der Sendung Heute Journal ein Gespräch, das kein Gespräch war.
Sigmar Gabriel hatte in Hofheim (Taunus) vor 900 Parteimitgliedern gesprochen und wahrscheinlich (ich war nicht dabei) für die Koalition mit der Union geworben im Kontext des Mitglieder-Votums.
Die erste Frage der Fernseh-Journalistin erkundete den vermuteten "Gegenwind", dem Sigmar Gabriel jetzt ausgesetzt wäre - die Frage war: "Ein Selbstläufer wird das wohl nicht. Oder?"

Mit dem Selbstläufer war der Ausgang des Votums gemeint. Der Subtext ihrer Frage zielte auf die Verfassung des Parteivorsitzenden; man könnte ihn so übersetzen: Sie müssen ja jetzt ganz schön Manschetten haben. Wie geht's Ihnen damit?Wir kennen die Texte dieser Frage aus dem Sport: einen Tag zuvor hatte die Leverkusener Mannschaft im europäischen Wettbewerb 5:0 verloren. Die Spieler wurden natürlich auch gefragt, wie es ihnen nach dieser Katastrophe ging. Katastrophal, war die Antwort, die der mit dem Fußball Vertraute schon längst wusste. Aber natürlich ist es immer interessant, das Gesicht des Spielers zu sehen. Im Sport kann man die affektiven Folgen einer Niederlage zugeben; allerdings würde niemand einer vermuteten, antizipierten Niederlage zustimmen. Im Fußball ist alles möglich, das wissen wir.

Im politischen Kontext, wenn er in einer so genannten Nachrichten-Sendung inszeniert wird, offenbar nicht: da kann man nicht abwarten; da muss man Auskunft geben können über ein Ereignis, das noch gar nicht statt gefunden hat. Ein Selbstläufer wird das wohl nicht. Oder? Der zweite Subtext lautet übersetzt: Das wird ganz schön knapp. Denken Sie an Ihre Ablösung als Vorsitzender? Im Fußball antwortet üblicherweise auf diese Frage ein Trainer: Warten wir das nächste Spiel ab. Wie antwortete Sigmar Gabriel? "Da haben Sie aber eben hier nicht zugehört", sagte er. Er gab Marietta Slomka Recht, indem er den affektiven Subtext ihrer Frage bestritt. 1:0 für Marietta Slomka.

"Doch", sagte sie, obwohl sie gar nicht in Hofheim, sondern in Mainz war. Woanders, führte sie aus, ohne zu sagen, wo, hätte sie gehört, dass einige Mitglieder nicht einverstanden wären mit den ausgehandelten Koalitionsbedingungen; außerdem hätte man sich nicht so viel Mühe geben müssen mit den Parteimitgliedern, wäre der Ausgang längst klar gewesen. 2:0 für Marietta Slomka: Sigmar Gabriel ließ ihr doch  durchgehen. Den dritten Punkt erzielte Marietta Slomka mit dem Argument, Sigmar Gabriel eine Selbstverständlichkeit zum Nachteil auszulegen: dass sein Werben für die  Position der Zustimmung über seine Unsicherheit Auskunft geben würde.

Wie reagierte Sigmar Gabriel auf diesen Spielverlauf? Er erläuterte das Partei-interne Verfahren des Votums. "Ich finde gut, was wir machen". Ein weiteres Mal musste er den Ball aus dem Netz herausholen: 0:4.

Das letzte Mal musste er sich nach dem Ball im Netz bücken, als er auf die Abseitsregel vertraute, die im Heute Journal allerdings nicht angewandt wurde. Die Journalistin führte die verfassungsrechtlichen Bedenken mit der Frage ein: "Haben Sie sich solche verfassungsrechtliche Gedanken eigentlich gemacht?" Eigentlich. Das Adjektiv eigentlich, in einer Frage verwandt, kommunizierte den Vorwurf: Der Parteivorsitzende der SPD hat sich keine Gedanken gemacht. Den konnte Sigmar Gabriel nicht auf sich sitzen lassen. Also erläuterte er sein Politik-Verständnis. Er überzeugte die Journalistin nicht. Er widerlegte ihren Vorwurf nicht. Er gab ihm Recht, als er ihn für nichtig erklärte: "Quatsch" und "Blödsinn", sagte er. Er hatte sich Gedanken gemacht, aber er hatte sich nicht genügend Gedanken gemacht. Das Abseits der verfassungsrechtlichen Bedenken hatte er zu wörtlich genommen. Er brach den Machtkampf ab - fünf Gegentore waren eine Menge.

In der Samstagsausgabe der SZ (30.11./1.12.2013, S. 3) wurde Sigmar Gabriels Verhalten so gelesen:
"Das war der alte Gabriel, pur zu jeder Eskalation bereit. Der Mann, der in seinen heikelsten Momenten zur größten Gefahr für sich, die Partei und wohl auch eine Regierung werden kann (...) Die Frage ist, wie oft der alte Gabriel in der Regierung herauskommen wird. Und wie Merkel dann mit ihm umgehen wird... (...) ... schließlich hat Gabriel eher wie ein Raufbold gewirkt, der sich ganz gut selbst zu helfen versteht". Interessant an dieser Kollegen-Lektüre ist, dass sie die Interaktion dieser TV-Befragung nicht berücksichtigten - abgesehen davon, dass sie  die ZDF-Journalistin ungenau zitierten und die Untertöne
nicht beschrieben. Vor allem aber: wozu diente diese Art von Nicht-Gespräch? Es war der Fernseh-typische Voyeurismus, jemanden mit einer Kränkung zu konfrontieren und zu schauen, wie er reagiert. Es war, vielleicht, der Wunsch der Journalistin, echte, nicht taktische Auskünfte zu bekommen. Aber sie fragte eine Selbstverständlichkeit ab. Ich hatte den Eindruck: sie hatte sich etwas vorgenommen; sie war aufgeregt. Um was ging es? Als Zuschauer fällt einem sofort das Geschäft ein: die Konkurrenz von ARD und ZDF, das das älteste Publikum hat. Vielleicht steht die Redaktion des Heute Journal unter dem Druck miserabler Einschaltquoten und will, wie das heute so schön heißt, Profil gewinnen und Boden gutmachen. Die Zeiten, als beide Institute ihre Programme abstimmten, liegt Jahrzehnte zurück. TV-Journalismus lebt (zum Teil) von der Fantasie der schnellen Zugeständnisse, weshalb die direkte Konfrontation gesucht wird. Verhökert wird dabei die Idee des Gesprächs. Politik wird zu einem schlechten Fußballspiel.


          

Freitag, 15. November 2013

Schillernde Nachrichten

Der Kluge, unser etymologisches Wörterbuch, vermutet, dass das Wort Nachricht im 17. Jahrhundert entstand, als das frühneuhochdeutsche Wort nachrichtung als "Mitteilung zum Danachrichten" zur Nachricht gekürzt wurde. Das leuchtet ein: so erfährt man, wie man sich zu verhalten hat. Beispielsweise, dass man schwere Armbanduhren Schweizerischer Herkunft, in Katar, dem Austragungsort der Fußball-Weltermeistenschaft 2022, gekauft oder geschenkt bekommen (wer weiß?),  bei der Einreise in die Bundesrepublik verzollen muss. Aber Nachrichten verwirren auch oder machen neugierig: wer hatte unsere normalerweise großzügigen Zollbeamten informiert, dass sie das Gepäck (oder die Taschen) des Mannes vom FC Bayern München durchsuchen sollten? Unsere U.S.-friends?

Mittwoch, 13. November 2013

Gibt es ein digitales Ich?

"Als die Menschen noch wussten, was Liebe ist" - ist der Text in der heutigen SZ (vom  13.11.2013, S. 18) überschrieben, der die Frankfurter Veranstaltung eines "philosophischen Gesprächs" in der UBS-Bank referiert. Es sprachen: Peter Sloterdijk und Frank Schirrmacher. Frank Schirrmacher ist unser Internet-Apokalyptiker, der sich in seiner Besorgnis schon einmal verstolpert. Zum Beispiel würden einige "Internetgiganten" unser alltägliches Verhalten "komplett erfassen, jede Bewegung, um es zu Geld zu machen" - ich zitiere den Referenten, der Schirrmacher zitiert, der behauptet, wir hätten einen "Doppelgänger im digitalen Raum", ein digitales Ich, das "beginne wichtiger zu werden  als das reale".

Das ist mächtige Schwarzmalerei - abgesehen von der seltsamen Konstruktion eines digitalen Ichs. Am besten spricht man ja zuerst von den eigenen Erfahrungen. Ich bin Kunde bei Amazon, wo ich, seit das hmv-online-Geschäft in London insolvent wurde, meine DVDs regelmäßig bestelle. Seitdem bekomme ich eMails, die mich darüber informieren, welche ähnlichen Filme zu meinem letzten bestellten existieren und welche Filme andere Kunden orderten, die auch meinen Film bestellten. Das finde ich gar nicht schlecht, so bekomme ich Anregungen. Ich werde auch über neue DVDs informiert, über TV-Serien usw. Bin ich auch nicht böse drüber. Was mich nicht interessiert, klicke ich weg. Aber ich habe noch nie gesehen, dass die von den Amazon-Rechnern heraus gerechneten Angebote meinen Geschmack und meine eigene Suche getroffen hätten: die sind offenbar nicht bekannt. Wie soll das auch gehen? Wie soll ein Rechner aus meinen Kauf-Entscheidungen meine Intention herausrechnen können? Das kann er nicht, weil er meine Kino-Erfahrungen der 50er Jahre - beispielsweise - nicht kennt: die existieren nur in meinen Erinnerungen. Man kann es anders sagen: eine retrospektive Extrapolation von Verhaltensdaten zur Vermutung einer Absicht ist problematisch, weil sie die Kontexte vermischt und auf die alte  Wissenschafts-Kontroverse hinausläuft: kann man vom Verhalten auf die innere Welt eines Menschen schließen? Also: Behaviorismus contra Introspektion? Nein, man kann nicht. Um die Introspektion, also um die Selbst-Auskunft, kommt man nicht herum. Die Subjektivität als unser Erkenntnis-Mittel müssen wir schon hinzu bitten. Ohne Subjektivität lebt ein Ich nicht. Das digitale Ich ist eine Schimäre.

Dienstag, 12. November 2013

Anmerkung zum methodischen Problem des Journalismus

Gute Journalisten bringen, neben ihren Aufgaben der Information, Klärung und Kontrolle, enorme synthetische Leistungen zustande: sie beschreiben und deuten die Texte und Subtexte des öffentlichen Diskurses; sie ordnen die Vielzahl und die Komplexität der kursierenden Texte. In dieser Aufgabe sind sie Gruppen-Therapeuten ähnlich, die das interaktive Geschehen von Mitgliedern von Gruppen  - Übertragungen, Projektionen, geteilte Fantasien und die mit ihnen verbundenen Affekte - identifizieren, ordnen und interpretieren; ihre Interventionen sind Erfahrungs- und Theorie-geleitet. Welche Theorien-geleitete Methoden haben Journalisten? Diese Frage hatte ich, als ich Kurt Kisters  Aufsatz "Beziehungsweise. Die Kanzlerin und der U.S.-Präsident brauchen einander. Aber das Vertrauen ist erst mal weg. Über die Unmöglichkeit der politischen Freundschaft" (SZ vom 9./10.11.2013 Nr. 259; V2 S.1) las. Das Problem der Vokabel vom Vertrauen als Beschreibungsbegriff für die (behauptete) symmetrische Beziehung der Regierungschefin zu ihrem Kollegen, der wahrscheinlich eher ein Über-Kollege ist, erörtere ich jetzt nicht (s. meinen Blog vom 12.11.2013: Ziemlich beste Friends). Mir fiel dieser Satz auf:
"Für Merkel aber, und nicht nur für sie, ist Obama, jenseits seiner zweifelsohne bedeutenden Position, die geradezu nach einer Müntefering-Freundschaft schreit, ein eloquenter, zu pathetischer, zu häufig unzuverlässiger Präsident, mit dem sie trotzdem auskommen muss".

Ist Obama zu pathetisch, zu häufig unzuverlässig? Woran hat Kurt Kister das gemessen? An seiner eigenen Bewegtheit oder Rührung beim Anhören einer Obama-Rede? Die U.S.A. haben ganz anders als wir eine Kultur der nationalen Selbstvergewisserung - die wir uns nicht zutrauen: nicht zutrauen können.  Und was ist: zu häufig unzuverlässig? Nicht eingelöste Versprechen? Wir wissen nicht, welche Machtverhältnisse Barack Obama vorfand und (vielleicht) unterschätzt hatte; wir wissen nicht, welche Realitäten der Hass des Ressentiments wo und wie etablierte. Und muss unsere Kanzlerin mit ihm auskommen? Das Auskommen ist ein Verbum, das zu einer persönlichen, direkten Beziehung gehört, in der die Beteiligten ihre Interessen und Positionen (Eheleute wie Angestellter und Chef) aushandeln. Aber die Beziehung von Merkel und Obama ist keine persönliche, direkte Beziehung, sondern eine unpersönliche, indirekte, weil von den eigenen Apparaten und von den Interessen des eigenen Landes strukturierte Beziehung. Auskommen: reduziert die Komplexität der Gestaltung einer politischen Beziehung. Das Problem für den Journalisten sind seine Theorie des Verständnisses von Interaktionen (die Gefahr, auf vertraute Beziehungsmetapher zurückzugreifen), sein Blick des von den politischen Beziehungen Ausgeschlossenen  - ihm bleibt die Wahrnehmung der vermittelten Politik - und die Beschreibungen für das Geschehen realer politischer Beziehungen aus zweiter, dritter oder vierter Hand. Der Journalist kann seine persönlichen Berichterstatter nicht nennen; so kann er auch nicht sagen, wie er deren Berichte mit welchen Hypothesen liest. Wir wiederum können sie leider nicht prüfen, wohl die Plausibilität der Texte und Argumente.


(Überarbeitung: 7.5.2015)

"F.B.I....C.I.A....O.N.I....we're all in the same alphabet soup"

Im März dieses Jahres war ich mit einem alten Freund - Kinogänger und Western-Fan wie ich - in den U.S.A.: unter anderem in Rapid City, South Dakota. Rapid City ist, wie ein alter Kinogänger weiß, die letzte Station in Alfred Hitchcocks Reise- und Agenten-Thriller North By Northwest aus dem Jahr 1959. Rapid City ist wegen Mount Rushmore, eines Bergs der Black Hills, berühmt, aus dem ein riesiges Team von Steinmetzen und anderen Helfern über 30 Jahre lang die Köpfe von vier U.S.-Präsidenten herausmeißelten: George Washington, Thomas Jefferson, Theodore Roosevelt und Abraham Lincoln. Über deren Köpfe turnten - natürlich in einem Hollywood-Studio - Eva Maria Saint und Cary Grant auf der Flucht vor zwei bösen Burschen.

Mount Rushmore ist, anders als im Hitchcock-Film, eine riesige Anlage geworden; am Eingang gibt es eine Informationshalle. Mit einem der Angestellten kam ich ins Gespräch über North By Northwest und Alfred Hitchcock. Sein favorisierter Hitchcock-Film war Vertigo (U.S.A. 1958); meiner ist: North By Northwest; seit 1959 habe ich ihn mindestens einmal im Jahr gesehen. Aber wir konnten uns verständigen auf die besten Dialog-Zeilen in North By Northwest. Unsere gemeinsam hoch geschätzte Dialog-Zeile war: "F.B.I....C.I.A....O.N.I....we're all in the same alphabet soup". Cary Grant (als der gehetzte Roger O. Thornhill) bekam diesen Satz zur Antwort auf seine Frage, wer der Mann wäre, der ihn gerade aufs Flugfeld in Chicago führte - es war der Professor (Leo G. Carroll), Leiter eines Teams von der N.S.A., der mit der Formel von der alphabetischen Suppe keine richtige Auskunft gab. Aber im Film erfuhren wir von der Unbarmherzigkeit dieser Behörde.

Früher warb DER SPIEGEL mit der Formel "SPIEGEL-Leser wissen mehr". Richtigerweise muss es heißen: Kinogänger wissen mehr. Seit (spätestens) North by Northwest kennen wir die Skrupellosigkeit des U.S.-Geheimdienstes. Hollywood als Traumfabrik zu etikettieren, ist ein Missverständnis des Kinos
nordamerikanischen Zuschnitts. Es ist auch eine Realitätsfabrik. Man muss die Wirklichkeit herauslesen. Paul Greengrass führte die erstaunlichen Fähigkeiten des U.S.-Geheimdienstes vor, der mit  dem britischen Dienst kooperierte: Bourne Ultimatum (U.S.A. 2007). Deshalb versteht unsereiner die Aufregung nicht: Geheimdienste tun was sie können; sie lieben die Erotik der Macht und den Blick in die Hinterzimmer und Hinter-Hinterzimmer, was mit psychoanalytischer Auslegung ein etwas seltsames Interesse ist. Aber offenbar sind sie nützlich - sagen unsere Politiker. Allerdings muss man erwarten, dass sie die geheimen Dienste auch kontrollieren. Das wird natürlich schwierig, wenn man nichts von ihnen weiß und von ihrer Existenz überrascht wird. Aber das, schlage ich vor, lesen wir als Ausdruck der Überraschung, auf dem fürs Bestehen in der Öffentlichkeit falschen Fuß erwischt worden zu sein.

Ziemlich beste Friends

Wer die Vereinigten Staaten von Amerika schon einmal besucht hat, weiß: dort geht es anders zu als bei uns; dort geht man anders miteinander um als bei uns. Beginnt man die Unterschiede zu typisieren, läuft man Gefahr, Klischees zu beschreiben. Es gibt natürlich deutliche Unterschiede. Wer dort einreist, muss durch die Immigration. Das ist eine ernste Vokabel. Sie kündigt an: hier wird penibel geprüft. Manchmal besonders penibel; manchmal nicht, dann geht es ganz humorvoll zu. Wenn man anklingen lässt, dass man den Ernst der Prüfung nicht ernst nimmt, wird es schwierig. In jedem Fall wird kontrolliert, mit dem Rechner abgeglichen und registriert: die Daten im Pass, seit dem patriot act in der Folge des 11. September 2001 der Fingerabdruck (beider Hände) - und fotografiert. Welche Daten der Rechner vorhält, weiß ich nicht; sicherlich die Flugdaten, vielleicht auch die Daten der Geschichte der eigenen U.S.A.-Besuche. Unsere Tochter vermutet: die bei der Einreise abgenommenen Fingerabdrücke werden mit den Fingerabdrücken in unseren Pässen verglichen. Wer weiß?

Im alltäglichen Umgang geht es großzügig-freundlich zu. Wenn man drei englische Wörter kann, spricht man die Sprache fließend. Wird man von einem Nordamerikaner, der einen einigermaßen kennt (vielleicht von der letzten Tagung), einem Landsmann vorgestellt, wird man als friend eingeführt. Die Vokabel friends wird elastisch gebraucht: es wird einem einfach gemacht; die gerade entstehende Beziehung erhält einige Vorschusslorbeeren, womit die ersten (vielleicht beschämenden) Holprigkeiten  erster Begegnungen gemildert werden. Natürlich gibt  es einen sorgfältigen Gebrauch des Worts vom Freund. Bis man sich nämlich als Freund eines Nordamerikaners fühlt, braucht es eine ganze Reihe guter, sehr persönlicher Begegnungen. Dann ist das Wort friend eine Auszeichnung und wie bei uns das Resultat eines längeren interaktiven Prozesses gegenseitiger Abstimmung über die Qualität der Beziehung.

Deshalb sollte man den Gebrauch des Wortes Freundschaft, das die Firma facebook, die ihr Geschäft mit dem Vermitteln von Beziehungsgefügen macht, übersetzen als einen Begriff der Einladung oder Ermunterung zu einer oder mehrerer Beziehungsaufnahmen. Das Fernsehen gestattet fantasierte Beziehungen zu den Protagonisten der Mattscheibe, facebook eine Beziehungsform zwischen dem fantasierten und dem direkten Kontakt geteilter Anwesenheit, wobei das Versprechen mitläuft, dass aus der indirekten eine direkte Beziehung wird. Sehe ich unsere Tochter und deren facebook-Beziehungsgefüge, dann habe ich den Eindruck, dass sie mit dieser Form des Kontaktes als einer spezifischen Dosierung von veröffentlichter Intimität gut zurecht kommt. Apokalyptische Sorgen machen sich die Erwachsenen, die mit den nordamerikanischen Beziehungs-Einladungen nicht vertraut sind und sich an den deutschen Konnotationen orientieren - weshalb noch immer das Klischee, der Vorwurf und die Verachtung der jenseits des Atlantiks herrschenden Beziehungs-Beweglichkeit des Kontaktes existieren.

Weshalb das Entsetzen und die öffentliche Empörung der Bundeskanzlerin so groß waren, als sie realisierte, dass sie von den amerikanischen Freunden nicht als Freundin behandelt wurde. Das geht nicht, sagte sie. Natürlich geht das. Die Bundesrepublik war - ist sie es noch? - ein besetztes Land, in dem die Alliierten sich vertraglich die Arbeit ihrer Geheimdienste ausbedungen hatten, was wiederum geheim gehalten werden musste, so dass der erste Kanzler der Republik über den Grad der politischen Unbeweglichkeit nur ungefähre Auskunft gab. Die Rede von der Freundschaft war die damalige Rhetorik der Beschwichtigung der tiefen Nachkriegs-Beschämung und der politischen Abhängigkeit; zuerst gab es die deutsch-französische Freundschaft, dann die amerikanischen Freunde; die adressierten politischen Kollegen nahmen das Beziehungsangebot der Beschwichtigung freundlicherweise auf - und verfolgten ihre Interessen. John F. Kennedy hatte mit seinem (für mich sehr) rührenden Eingeständnis der Solidarität - ich bin ein Berliner - die westdeutsche Bedürftigkeit und Scham-Bereitschaft getroffen. Aber man darf die politische Rhetorik und die damit transportierten Fantasien gegenseitig geteilter Sympathie (Charles DeGaulle und Konrad Adenauer als unser erstes - vermeintliches - Politiker-Freundespaar) nicht mit einem privaten Kontakt verwechseln. Politische Beziehungen verhandeln ein besonderes Geschäft; sie sind Interessen-geleitet, taktisch und strategisch vorbereitet und wahrscheinlich nur, wenn es um das Wetter oder ähnlich delikate Sachverhalte geht, spontan.

Deshalb fällt mir schwer, an die Echtheit der spontanen Empörung unserer Kanzlerin zu glauben. Nach meiner Lesart versuchte sie, in der Mitte der Woche der Empörung dem SPIEGEL und dessen Montagsausgabe zuvorzukommen, der mit der Nachricht vom Abhören der Kanzlerin seinen Punkt zu machen suchte. Angela Merkel scheint mir unsere Protagonistin der Treuherzigkeit zu sein - häufig dazu gut, die kritischen Momente wegzubügeln mit dem Propagieren der Normalität: während in Fukushima die Atommeiler barsten, waren unsere Anlagen sicher - sonst würde sie ja ihren Amtseid verletzen, sagte sie; war der bayrische Baron zwar kein Wissenschaftler, aber ein tüchtiger Minister; war es gut, dass Osama bin Laden exekutiert wurde; hatte sie nichts von der fleißigen N.S.A. gehört. Mit Martin Landau aus dem grandiosen North by Northwest von Alfred Hitchcock mit dem Drehbuch von Ernest Lehman könnte man sagen: Treuherzigkeit - neatness hieß die Vokabel im Film - "is always the result of deliberate planning".

Sollte sie wirklich nicht wissen, was U.S.-Behörden tun? Sollte sie nicht wissen, dass die Alliierten in dem besetzten Land Bundesrepublik Deutschland  das Recht zur Spionage hatten oder haben? Wir wissen es nicht, weil noch nie eine bundesdeutsche Regierung darüber informiert hat.  Sollte sie noch nie etwas von  Josef Foschepoths Arbeit "Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik" gehört haben? Sollte sie wirklich nicht wissen, was unsere Geheimdienste machen? Sollte sie nicht wissen, was die Briten machen? Sollte sie noch nie ein Foto der riesigen Anlagen gesehen haben, die von weitem aussehen wie Golfbälle und von den Engländern in North Yorkshire so genannt werden? Seit den 70er Jahren ist bekannt, dass Großbritannien alle transatlantischen Gespräche von Europa in die U.S.A. abhört. Wenn ich mich richtig erinnere, war damals die Aufregung in England gering. Heute sind die CCTVs in London eine Selbstverständlichkeit. Im vorletzten Bourne-Film von Paul Greengrass sah ich, wie der U.S.-Geheimdienst sich blitzartig die Monitore zuschalten lassen kann.

Angela Merkels Einsatz der Strategie der Treuherzigkeit ist natürlich erschlossen. Aber nehmen wir an, sie existiert: dann besteht ihre Kunst  in der Erzeugung eines familiären Tonfalls und im Gebrauch familiärer vertrauter Metapher. Offenbar ist sie doch erfolgreich. Denn inzwischen gibt es journalistische und psychoanalytische Kommentatoren des politischen Geschehens, die die (strategische) familiäre Heimeligkeit der Bundeskanzlerin als unsere Wahrnehmung der Bundeskanzlerin lesen, der wir als unsere fantasierte und sehr gewünschte Groß-Mutti bereitwillig folgen - und nicht als Politik-Nebel des Bundeskanzleramtes, das uns mit Absicht im unklaren lässt. Ich wünsche mir eine Regierungschefin, die weiß, was läuft, und die sagt, was läuft.


(Überarbeitung: 10.8.2021)


Montag, 21. Oktober 2013

Neues zur Heiligen Kuh III

Die bundesweite Kontrolle der Einhaltung der Geschwindigkeitsbegrenzungen - die übrigens die bayrische Landesregierung fortsetzen will - hat ihre Folgen. Die SZ berichtet heute, am 21.10.2013, auf ihrer letzten Seite (S. 32) unter der Überschrift "Raser des Monats" darüber. Die Stadt Abensberg lieferte den Motorradfahrer, der mit Tempo 113 durch die Stadt schoß, an den Pranger, indem sie ihn facebook auslieferte. Was geschah? Eine riesige Empörung braute sich im elektronischen Netz zusammen, wie Auto- und Motorradfahrer so bloß gestellt und ihre Persönlichkeitsrechte so verletzt werden könnten. Inzwischen zuckte die Stadtverwaltung Abensberg laut Süddeutscher Zeitung zurück.  Verständlicherweise: der Pranger ist ein altes Mittel der Beschämung, keine rechtsstaatliche Intervention. Offenbar ist für die Abendsberger die Stimme des Gesetzes, die den wilden Motorfahrer hätte bremsen können, nicht laut genug. 

Neues zu Heiligen Kuh II

Am Samstag las ich im Kölner-Stadtanzeiger diese Notiz mit der Überschrift:
"Porsche-Konkurrent zum Kampfpreis". Der Text dazu: "Der geplante Mercedes GT AMG wird voraussichtlich 130 000 Euro kosten. Bei ähnlichen Leistungsdaten wie ein Porsche 911 Turbo wäre der Sportwagen damit rund 30 000 Euro günstiger als dieser, wie die Zeitschrift Auto, Motor und Sport berichtet. Der GT AMG wird von einem Biturbo-V8 mit vier Litern Hubraum und 500 PS angegeben". Mit den gesparten 30 000 Euro könnte man jetzt gut den Porsche anzahlen.  Die fünfhundert Pferdestärken machen natürlich etwas her: damit muss man sich im Verkehr nichts mehr sagen lassen. Das ist die  Botschaft dieser Meldung. Damit wird einem der Mund ganz schön wässrig gemacht. Leider fällt einem dann ein, dass  man für diese vielen Pferde kein Geld hat: also muss man sich mit dem eigenen Fahrzeug zufrieden geben, das - verglichen mit diesem Kraft-Bolzen - untermotorisiert ist. Das Leiden am untermotorisierten Fahrzeug, von auto, motor und sport schon in den 70er Jahren häufig diagnostiziert und in den so genannten Test-Berichten, die Berichte zum Fantasieren waren, gepflegt und geteilt von vielen Autofahrern, war einer der Motoren der heutigen automobilen Hochrüstung, über die heute so selbstverständlich berichtet wird wie über das Wetter.

Rennen

Manche Buch-Käufer, sagte mir die Buchhändlerin heute Morgen, wissen nicht, dass der Buchhandel innerhalb von 24 Stunden einen Buchtitel, sofern er beim Grossisten vorliegt, liefern kann: ein gutes Argument für den Buchhandel und gegen den Imperialisten Amazon, der trotz der Bestellung mit einem Klick nicht schneller ist. Das will der Konzern mit einer logistischen Offensive ändern: in gut verstreuten, zahlreichen Zentren will Amazon, erfuhr ich weiter, will er demnächst innerhalb von Stunden die Wünsche der Kunden erfüllen. Klicken und liefern: das Paradies rückt näher, verspricht diese Strategie, die Wünsche müssen nicht mehr lange aufgeschoben werden. Was ist mit der Freude des Wartens, die wir Vorfreude nennen? Möglicherweise ist diese Variation der schlichten Idee von der Beschleunigung zu einfach. 

Freitag, 11. Oktober 2013

Die heilige Kuh kommt nicht von der Stelle

Gestern haben, kann man in Ralf Wiegands Kommentar Komplizen des Alltags. Blitzer-Marathon in der SZ von heute, 11.10.2013 auf Seite 4 nachlesen, "14700 Polizisten an 8600 Stellen 24 Stunden lang gemessen, geblitzt, fotografiert und kassiert". Warum, fragt er, "tun sie's dann nicht öfter?" Ja, warum nicht?  "An die Autofahrer", antwortet er,  "traut sich in Deutschland keiner heran". Welcher Politiker es tut, stellt sich ins Abseits. Wir haben es eben erlebt: Sigmar Gabriel von der SPD kam mit seinem Vorschlag zum Tempo-Limit auf Autobahnen in Schwierigkeiten. Warum?

Die Antwort gibt die Kontrast-Erfahrung. Wer aus dem Ausland in die Republik fährt, sagen wir aus den Niederlanden, muss sich wappnen. Wenige Kilometer hinter der Landesgrenze geht es auf der Autobahn zur Sache: die Abstände zwischen den Fahrzeugen schrumpfen, das Tempo steigt, zum Überholen auf der linken Spur muss man sich  in den Pulk hereinzwängen, fährt man bedächtig, schießt der Hintermann auf einen zu - mit einem Wort: es wird gebolzt. Autofahren auf unseren Autobahnen ist auch ein Macht-Vergnügen - das Fest  der Ungeduld, des Vordrängens, des Status-Ausspielens, der PS-Demonstration. Im Alltag kann man sich das nicht erlauben, im Auto schon. Andererseits: ein zivilisiertes Bewegen des Autos gibt es auch; höfliches Fahren wird honoriert. Dann wird schon einmal mit einem oder mit beiden Blinkern kommuniziert.

Deshalb bin ich mit Ralf Wiegand - fast - d'accord: unsere Politiker müssten sich trauen, das Tempo des Autofahrens auf Autobahnen zu reglementieren. Dafür müssten wir sie unterstützen. Bei der Einführung der Geschwindigkeitsbegrenzung auf Landstraßen gab es einen Aufschrei. Bei der Einführung der Anlegepflicht des Sicherheitsgurts gab es einen Aufschrei. Bei jedem Vorhaben, eine Tempo-Begrenzung auf den Autobahnen einzuführen, gab es einen Aufschrei. Ich glaube, dass viele Autofahrer sie begrüßen würden. Es sind die, die nicht bolzen wollen oder können. Es sind möglicherweise die, die an die unglaubliche Verschwendung unserer Ressourcen denken und daran, dass wir den dicken Bolte abgeben und uns um unsere Nachbarn nicht scheren, dass wir das Sparen verlangen, aber das Prassen pflegen, dass wir an einem Produkt festhalten, das enorm altmodisch ist, dass wir die Rhetorik der Energiewende pflegen, aber nicht handeln.   

 

(Überarbeitung: 21.10.2021)

Was gibt es Neues über Adolf Hitler?

In der ZEIT (Nr. 40 vom 26.9.2013, S. 17 - 20) stellte die Redaktion ihren ehemaligen Kollegen Volker Ullrich mit den Worten vor: "Als Hitler sich selbst erfand. Unser Autor ist der erste deutsche Historiker, der nach Joachim Fests Werk von 1973  eine große Biografie des Diktators gewagt hat. Er zeichnet das Bild eines Menschen, der seine wahren Seiten verbarg und auf dessen Inszenierung wir noch heute hereinfallen".  Volker Ullrich sollte sich bei seinen Kollegen für die Falle mit dem Hereinfallen bedanken. Das Verbum enthält schwierige (naive) Konzepte. 1. Es  stimmt (implizit) das Lied der Rechtfertigung von der manipulativen Interaktion von Betrüger und Opfer und von einer schlichten Schuld-Verteilung an: der Betrogene ist für seinen Schaden nicht verantwortlich. Das müsste man aber im Einzelfall prüfen. 2. Es enthält eine latente Psychologie vom Betrüger: er trägt eine Maske und verbirgt sein wahres Gesicht, wie wir sagen. Die Dichotomie von Maske und Gesicht entspricht der bekannten (entlarvenden) Ontologie von Bühne und Kulisse: dort setzten die Akteure ihre Masken ab. Verstehen oder sehen wir sie dann besser? Der Betrüger, der betrügt, sagt seine Wahrheit - indirekt: zumindest spricht er über seine Fähigkeit zu betrügen; möglicherweise verfolgt er selbstzerstörerische Absichten, indem er vertrauensvolle Beziehungen zerstört und dabei vereinsamt. Christopher Bollas, der kalifornische Psychoanalytiker, hat darauf hingewiesen. Und der Akteur auf der Bühne ist ebenfalls enorm persönlich engagiert. 3. Das Verbum transportiert einen voyeuristischen Wunsch: man begnügt sich nicht mit dem, was man sieht und empfindet; es ist die Frage, welche Erkenntnisabsicht man mit dem Blick hinter die Kulissen verfolgt; das müsste man ebenfalls prüfen.

"Hitler ist ein Rätsel", schreibt Volker Ullrich, "er war es sogar für seine nächsten Gefolgsleute". Klingt vertraut, aber stimmt es auch? Adolf Hitler hat seinen zur Politik transformierten mörderischen Hass  nie verschwiegen; regelmäßig redete er er sich in Rage; er etablierte, sobald er sein politisches Amt inne hatte, mit Hilfe der Ministerien und Apparate und Gruppierungen sofort die Praxis der symbolischen, der psychischen und bald der physischen Vernichtung. Wo ist das Rätsel? Ich finde es ein Rätsel, nach dem Rätsel Adolf Hitler zu fragen. Wenn man allerdings den miserablen Chaplin-Film über den großen Diktator - den übrigens Ullrich favorisiert - daraufhin ansieht, bleibt man tatsächlich irritiert zurück. Aber wenn man die von geneigten Juristen formulierte Gesetzgebung  im Frühjahr 1933 und später verfolgt, weiß man Bescheid. Man muss die Absichten zusammenzählen. Vielleicht klangen sie damals so monströs, dass Viele sich buchstäblich wegduckten. Vielleicht sympathisierten auch Viele mit dem angekündigten Mord-Programm. Wir wissen es nicht genau. Das Rätsel sind die von Ullrich genannten Gefolgsleute: was dachten sie sich? was fantasierten sie? was erträumten sie? was ließ sie folgen? Folgten sie überhaupt? Das Wort von den Gefolgsleuten impliziert eine Beziehung der Unterwerfung. War das so?  Welche Beziehungen hatten die Beamten und Berater zu ihrem Regierungschef und alle die anderen, die ihm oder den anderen nationalsozialistischen Repräsentanten und Funktionären für den deutschen Gruß den rechten Arm entgegen streckten?  Welche Projektionen, Fantasien, Wünsche prägten diese Beziehungen? Wir wissen es nicht. Noch immer sind Joseph Goebbels' Tagebücher die einzige relevante Quelle für diese Fragen. Die anderen Parteigänger, Funktionäre, Berater, Mitglieder der Stäbe gaben keine oder ungefähre, geschönte Auskunft. Deshalb sind die Beziehungsgefüge ungeklärt.  Nur nach Adolf Hitler zu fragen, wie es Volker Ullrich sich vornimmt, blendet die Beziehungsgefüge aus, die Adolf Hitler zu Adolf Hitler machten. Zudem, ich weiß nicht, ob Volker Ullrich das ausreichend bedacht hat, perpetuiert die Frage nach dem Rätsel Adolf Hitler dessen seltsame Faszination und macht ebenfalls Adolf Hitler zu Adolf Hitler und verhindert eine nüchterne Sicht.

"Hitlers Charakter zu entschlüsseln wie einen Gencode - das bleibt vielleicht eine Unmöglichkeit, so unmöglich wie eine nachgetragene Psychoanalyse oder faschismustheoretisch bewehrte Pathogenese. Möglich aber ist, die erhaltenen Fragmente zu einem Persönlichkeitsbild zusammenzusetzen", verspricht Volker Ullrich. Ein Persönlichkeitsbild, keine nachgetragene Psychoanalyse - was Theorie-los zu sein ankündigt wird (wieso eigentlich?), ist natürlich nicht Theorie-los. Wenig später schreibt er: "Das Minderwertigkeitsgefühl des früh Gescheiterten saß tief". Minderwertigkeitskomplex lautet das Konzept des Psychoanalytikers Alfred Adler. Die Diagnose der Tiefe setzt eine intime Kenntnis voraus.  Volker Ullrich tut das, was er nicht zu tun beabsichtigte. Übrigens existieren sorgfältige Explorationen  bereits - Ullrich hat sie nur nicht zur Kenntnis genommen, sah ich in einem Exemplar seines Buches auf der Frankfurter Messe: Norbert Brombergs und Verna Volz Smalls "Hitler's Psychopathology" (von 1983) taucht (beispielsweise) im Literaturverzeichnis nicht auf. So kann er sich nicht mit einem psychoanalytischen Versuch auseinandersetzen. Aber auch die Kenntnis der Persönlichkeit erklärt nicht den schrecklichen Zerstörungsprozess der Jahre 1933 - 1945 und die fürchterliche mörderische Orgie der letzten sechs Jahre.  Wahrscheinlich werden wir darüber, befürchte ich, kaum Neues erfahren. Es wird bei der bekannten indirekten, heimlichen Idolisierung des Mannes aus Braunau bleiben.

Unser Vokabularium I

Heute fiel mir ein Wort in einem Satz auf, das ich noch nie gehört habe: "Die Energiewende ist im Moment für Unternehmer nicht bepreisbar". Den Satz sagte Lutz Diederichs (SZ vom 11.10.2013, S. 18), Vorstand der Hypovereinsbank. Bepreisbar. Das Wort hat einen schneidigen Tonfall. Es ist das Produkt einer enormen sprachlichen Verdichtungsleistung des Prozesses, Kosten zu kalkulieren und in Preisen anzugeben - man könnte auch sagen: es ist eine rücksichtslose Wort-Bildung.

Wo sind wir zu Hause?

In der Sprache, sagt Otto Kronsteiner in der SZ auf der Leserbrief-Seite (S. 15, 11.10.2013). Er meint das Boarische hoid. Ich denke an das Gemisch aus Berliner und Ruhrgebiets-Idiom und -Tonfall mit französischem Vokabular meiner Eltern und Großeltern und an die Rührung, wenn ich davon etwas wieder höre. Du machst mich ganz kolone - hörte ich vor einiger Zeit, aber hatte ich Jahrzehnte nicht mehr gehört. Oder: Billet statt Ticket. Wo bleiben die alten Redewendungen? Die alten Melodien? Es ist die Sprache der Kindheit, die die Erinnerungen an unsere Wurzeln konserviert und die wir vielleicht erhalten haben im inneren Dialog - im einsamen Sprechen und Suchen. Es ist wahrscheinlich nicht die einzige Heimat, die wir uns erhalten.

Montag, 16. September 2013

Der Talk und die Quote II

Gestern, in der A.R.D. "bei Günter Jauch": Nachbearbeitung der Resultate der bayrischen Landtagswahl im Kontext der Bundestagswahl - Subtext: welchen Einfluss hat die Mittelfinger-Geste des S.P.D.-Mannes Peer Steinbrück, der viel vor und für die Kamera tut (s. mein Blog vom 9. November 2011)? Der Mittelfinger ist der affektive Kontext, der seit Freitag vergangener Woche (an dem das SZ-Magazin mit dem Peer Steinbrück-Titel erschien), kursiert. Bei mir rockt's, sagte Peer Steinbrück vor kurzem. Tatsächlich. Der Talk bei und mit Günter Jauch war eine Rauferei; leider bekam der Journalist die Kombattanten nicht auseinander. Im Box-Sport hätte wahrscheinlich die Ring-Leitung eingegriffen und den Kampf abgebrochen. Was tat Günter Jauch? Er versuchte es im Guten, wie wir sagen, leider nicht im Bösen. Wieso eigentlich nicht? Was wäre gewesen, er wäre aufgestanden und hätte die Sendung abgebrochen? Wie frei ist Günter Jauch in seinem journalistischen Auftrag vernünftiger Information und Klärung? Die anwesenden Politikerinnen und Politiker gingen so gut wie gar nicht auf seine Fragen ein. Sie gingen aber auch nicht aufeinander ein, nur aufeinander los. Das ist zu wenig. Günter Jauch hätte die Politikerinnen und Politiker vor sich selbst schützen müssen. Ein Ping pong gegenseitiger Kränkungen. Wie wohl die Tontechniker die Schichten sich überlagernder Sätze ausgesteuert haben, hätte ich gern gewusst. Eins habe ich erfahren: vor sechs Jahren hat Ursula von der Leyen im SZ-Magazin (an derselben Stelle: Sagen Sie jetzt nichts) eine Bewegung mit dem Unterarm angedeutet, die eine ähnliche Antwort war wie die von Peer Steinbrück - allerdings elegant und hochgeschlossen realisiert.  

Welche Beschämung ist zumutbar?

Am letzten Donnerstag, dem 12. September 2013, berichtete die SZ auf ihrer ersten Seite: "Muslimische Mädchen müssen zum Schwimmunterricht". Das Leipziger Bundesverwaltungsgericht hatte einen Tag zuvor entschieden: dass muslimische Schülerinnen mit einem als Burkini verkalauerten Badeanzug "ihren religiösen Bekleidungsvorschriften gerecht werden" könnten, schreibt Johann Osel von der SZ. Er zitiert offenbar aus dem Urteil, dass das "Grundrecht der Glaubensfreiheit keinen Anspruch darauf schaffe, in der Schule 'nicht mit Verhaltensgewohnheiten Dritter konfrontiert zu werden, die außerhalb der Schule an vielen Orten beziehungsweise im Alltag verbreitet sind'". Möglicherweise liest sich das komplette Urteil anders. Aber an diesem Satz fällt der selbstgerechte Ton auf, den wir aus den Tagen alter Erziehungspraxis kennen: wenn du deine Füße unter meinen Tisch .... Zu weit gegriffen? Das Argument mit dem Alltag ist auch unscharf: niemand zwingt mich zuzusehen; was ich nicht sehen will, sehe ich nicht. Aber um das Sehen-Müssen geht es gar nicht so sehr, sondern um das erzwungene Gesehen-werden: um die Selbst-Präsentation in Gegenwart junger Männer, der sich manche muslimisch gebundene Schülerinnen nicht aussetzen möchten. Wir sind bei dem Problem der Scham.

Dazu schreibt Johan Schloemann in der SZ einen Tag später auf der zweiten Seite:
"Dieses Gefühl der Scham ist keine 'Ausübung' der Religion im engeren Sinne, schon gar keine rituelle, gottesdienstliche oder sonst wie von der religiösen Gemeinschaft vorgeschriebene und praktizierte Handlung - sondern einfach eine Begegnung des religiös erzogenen oder gestimmten Menschen mit dem säkularen Alltag". Einfach ist zu einfach. Wo gehört die Scham hin? Scham ist eines unserer zentralen affektiven Regulationssysteme, mit dem wir unsere (wahrgenommene) Handlungspraxis mit unseren tiefsten Überzeugungen regulieren. Beschämt zu werden ist eine schreckliche Erfahrung und erschüttert unser Selbst-Gefüge. Die Würde des Menschen ist unantastbar, sagt der erste Artikel unseres Grundgesetzes, sie zu achten und schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Ich dachte immer, der Schutz vor Beschämung gehört dazu.

Montag, 2. September 2013

Der Talk und die Quote

Gestern Abend fand nach und mit viel Getöse der Wettbewerb zwischen Angela Merkel und Per Steinbrück statt. Vorher und Nachher wurden mit demoskopischen Verfahren die Einschätzungen des Verlaufs und des Ausgangs verglichen. Ergebnis - großzügig ausgelegt: unentschieden. Peer Steinbrück holte auf in der Publikums-Gunst, und die Bundeskanzlerin hielt ihre Position. Sie operierte mit dem Modus der Umarmung, er mit dem Modus der Differenzierung; der Hase lief, die Igelin wartete. Das konnte sich sehen lassen; beide hielten ihr Niveau und unterschlugen nicht die Komplexität ihrer Aufgaben. Beide behandelten sich wohlwollend - kollegial. Beide warben für die res publica.

Dagegen waren die vier TV-Repräsentanten eine Katastrophe. Sie waren mit der Aufregung um ihre Sendung zufrieden. Die beiden öffentlich-rechtlichen und die beiden privat-rechtlichen Sender zapften gemeinsam an der Publikumsaufregung. Anders als Angela Merkel und Peer Steinbrück waren sie schlecht vorbereitet, häuften Klischees auf Klischees, die Komplexität der Politik waren ihnen ein Graus. Man sah den Unterschied zwischen denen, die die politische Realität von innen kannten, und denen, die sich mit einer raschen Zeitungslektüre begnügten: Fernseh-Journalismus at its worst. Dafür zahlen wir (meine Frau und ich) im Quartal zweimal € 17 und noch etwas. Wenn Fernseh-Journalisten die Kolleginnen und Kollegen von den Zeitungen abkupfern, wozu brauchen wir sie dann noch? Nur Günter Jauch hielt dagegen und wollte etwas wissen.       

Dienstag, 27. August 2013

Von Mutter kommen wir nicht los

Anfang dieses Monats, am 5.8., meldete sich Tilmann Moser in der SZ (S. 2) zur Bundestagswahl zu Wort: Mutti, bleib! Wie sich mithilfe der Bindungsforschung erklären lässt, warum Angela Merkel wiedergewählt wird. Politische, gesellschaftliche Prozesse mit psychoanalytischen Konzepten zu beschreiben und zu deuten, ist seit Sigmund Freud schwierige, umstrittene Praxis. Im Sprechzimmer werden im Rahmen der therapeutischen Begegnung die lebensgeschichtlich gewachsenen interaktiven und kommunikativen Muster einer Patientin oder eines Patienten exploriert und sortiert zu einem neuen Narrativ, das die alte Lebens-Erzählung und die alten Verständnisweisen modifiziert, korrigiert und erweitert zu einem anderen Umgang mit sich selbst in einem größeren inneren Bewegungsspielraum. In diesem therapeutischen Prozess wurden die Konzepte entdeckt und entwickelt; auf diesen Prozess sind sie zugeschnitten. Mit anderen anderen Worten: die psychoanalytischen Konzepte sind Subjekt-zentriert; die Therapeutin oder der Therapeut gewinnt im gegenseitig abgestimmten und geprüften Dialog eine einigermaßen intime Kenntnis der Patientin oder des Patienten.

Bei den politischen Prozessen sind die Therapeutin und der Therapeut entfernte Beobachter, die sich aus dritter, vierter oder fünfter Hand informieren - ihr Status als Beobachter ist unsicher. Was ist das Subjekt der politischen Prozesse? Die Politikerinnen und Politiker? Die Bürgerinnen und Bürger? Eher doch der gesamte dialektische Prozess der Auseinandersetzung, zu dem eine Vielzahl von Akteuren beiträgt, mit seinen Handlungsempfehlungen, Entscheidungen und legislativen Prozeduren, mit seinen internen und externen Rückmeldungen, die ihrerseits Einfluss nehmen. Wie passt das zu den dialogischen psychoanalytischen Konzepten? Gar nicht. Weswegen nur wenige psychoanalytische Autoren Konzepte vorgelegt haben, die die komplexen Prozesse verständlich machen, wie Norbert Elias, Erik Homburger Erikson oder Sigmund Heinrich Foulkes.

Tilmann Moser reduziert das Subjekt des politischen Prozesses auf den oder die Bürger - deren Zahl ist unklar - und auf die Bundeskanzlerin. Der Beziehung von Bürger oder Bürgern zur Kanzlerin wird das familiale Narrativ von Mutti und Kindern zugrunde gelegt. Moser spricht von "Delegation der Verantwortung" und "politischer Regression" - mit leicht einschränkendem Tonfall: "Sie wird es schon richten, glauben ihre Anhänger mit fast kindlicher Hingabe". Drei Voraussetzungen macht Tilman Moser: 1. die (politische) Wahrnehmung der Kanzlerin als eine Mutter-Figur; 2. im so genannten kollektiven Unbewussten gibt es das archaische Bild der schützenden und versorgenden Mutter; 3. von der Mutter kommen wir nicht los. Ist das so? Wahrscheinlich nicht. Der politische Kontext ist ein anderer als der familiäre Kontext. Mami und Papi müssen draußen bleiben. Wie weit sie reinkommen, müssen wir untersuchen.  Weit reichende, unscharfe Extrapolationen kürzen die Verständnis-Versuche ab und schaffen eine Vertrautheit, die nicht existiert.    

Montag, 27. Mai 2013

Aufkehren und Aufräumen

"The party's over", beginnt Jule Stynes glänzender, leicht bitterer Song, "it's time to call it a day" - der 25.5.2013 ist überstanden, das Leben mit dem Realitätsgeschäft hat wieder eingesetzt. Allerdings ist noch einiges liegen geblieben. Gestern versuchte Frank Plasberg in Hart aber fair aufzukehren und aufzuräumen. Ich schaltete die Sendung aus - Dortmund gegen Bayern wurde weiter gespielt und es hörte nicht auf. Von seiner psychoanalytischen Arbeit sagte Donald Woods Winnicott einmal: sie halte ihn wach und lebendig und bringe ihn dazu, sich gut zu benehmen. Der Fußball - in seinen aufregendsten Partien, bei denen am meisten auf dem Spiel steht - hält auch wach, lässt einen sich lebendig fühlen und schlecht benehmen. Der Politiker Wielpütz nannte das in der Sendung: die Sau raus lassen. Damit tut man den Schweinen natürlich unrecht. Ich war erschrocken, wie ich am Samstagabend mit meinem - lebensgeschichtlich alten und jungen - Hass in Kontakt kam. Junge, Junge. Fußball, aus der Zuschauer-Perspektive, ist (manchmal) eine projektive Orgie, da kommt das eigene und da kommen die fremden Leben mächtig in Bewegung in den Kontexten, die einen normalerweise nur in den Träumen während des Schlafs undeutlich behelligen.

Bei Tag besehen, ist das zu viel für den Fußball. Vor allem ist er ein Sport. Aber manchmal dient er der eigenen und der nationalen (Selbst-) Affekt-Regulation. Das Problem ist der Hass. Er muss, das wusste natürlich Winnicott, Gehör finden. Aber wie? Wir müssten ihn und seine Quellen zu explorieren uns trauen. Aber zuerst müssen wir mitsingen: "The party is over, it's time to call it a day" - Triumph und Enttäuschung grummeln noch.      

Mittwoch, 22. Mai 2013

Fußball-Theater III

Meine Tochter, kein Fan von Borussia Dortmund, machte mich gestern Nachmittag darauf aufmerksam: Mario Götze hat sich schlecht beraten lassen. Er hat dementiert, was er nicht hätte dementieren sollen (Dementis sind immer schlecht, weil sie genügend sagen). Er hat nicht verhindert (vertraglich), dass sein Wechsel kommuniziert wurde. Er hat das nicht in die Hand genommen. Er ist passiv geblieben. Auch richtig. Die Wirklichkeit ist eben kompliziert. Wahrscheinlich ist sie sehr viel komplizierter.



(Überarbeitung: 4.8.2015)

Dienstag, 21. Mai 2013

Fußball-Theater II

Eine einfache Geschichte, jeder kennt sie: eine Nachricht wird verbreitet, die jemanden bloß stellt. Die Umgebung ist entsetzt, irritiert, gekränkt, aufgebracht, enttäuscht - Bindungen und Beziehungen kommen ins Wanken, Schuld und Beschämung machen sich bei dem Jemand breit. Wie erträgt er es? Gut, sagt seine Umgebung. Wie sieht es innen aus? Er verkrampft. Die Spannungen ziehen sich in ihm zusammen. Muskel-Verletzung. Kann er spielen? Er kann. Er kann nicht - wahrscheinlich nicht, entnehme ich heute der SZ. Er wird nicht, vermute ich: der Muskel wird nicht halten. Das Torpedo der Entfremdung sitzt. Einer der entscheidenden Spieler wird fehlen. Was im Halbfinale nicht klappte,
gelingt für das Finale.
Ende gut, alles gut - für den FC Bayern?
Wohl kaum. Jeder kämpft mit seinen Mitteln, sagt man - oft zu recht. Die Grenze zieht das Gefühl
für Fairness. Fußball ist Geschäft und Sport. Verliert am Samstag Borussia Dortmund, wird das Auswirkungen haben - für den bayrischen Verein, für den Fußball. Im Gegensatz zum Gedächtnis der Öffentlichen Diskussion hat der Fußball-Fan das Gedächtnis eines Elefanten. Schwere Fouls, die das Gefühl von Fairness verletzen, werden nicht vergessen. Es wäre gut, wenn der Vorstandsvorsitzende dieses Vereins sich entschuldigt für sein Rabaukentum. Die Sache mit dem Geld wird ihm vielleicht vergessen. Vielleicht. Das erfolgreich abgeschossene Torpedo nicht.

Samstag, 4. Mai 2013

Fußball-Theater

Umberto Eco schrieb 1980 seinen Text Sportgerede. Seine Beobachtung: das Sprechen über den Sport ersetze oder verdränge den öffentlichen Diskurs über die relevanten Fragen. Seit dem 4. Juli 1954, unserem heimlichen nationalen Feiertag, wissen wir: unser Fußball dient - knapp gesagt - der Regulation der nationalen Identität und des nationalen Grundgefühls. 1954 ging ein enormes Aufatmen durch die junge Republik. Es ist nicht vergessen. Gegenwärtige Klage: Deutschland war lange nicht mehr Weltmeister. Jetzt gibt es den 25.5.2013: zwei bundesdeutsche Mannschaften sind im Londoner Wembley-Stadion im Finale der Champions League. 1966 war Wembley der Ort der Schmach, als ein Tor anerkannt wurde, das kein Tor war - was der damalige Bundespräsident schon wusste. Die Schmach wird repariert - ausheilen wird sie nicht. Aber jetzt können wir noch mehr sehen: Moral, Schuld, Lebensentwürfe, Kapitalismus und Anti-Kapitalismus werden mit der Aufregung um das Endspiel verhandelt. München gegen Dortmund - die Bilder sind, hier ist der Vorschlag für eine Liste: die Glitzerstadt gegen die Anti-Glitzerstadt, das Grün und Blau von Bayern gegen das (alte) Grau des Ruhrgebiets, Hochgeschlossen gegen Hochgekrempelt, Filzstift gegen Schaufel, Schlau gegen Redlich, BMW gegen Opel, geringe Arbeitslosigkeit gegen hohe Arbeitslosigkeit, Aufstieg gegen Abstieg. Die Zerrissenheit der bundesdeutschen Identität kommt im Fußball-Theater auf die Bühne. Die Frage der Schuld beispielsweise - so alt wie die Bundesrepublik - : ist jemand, der sich schuldig gemacht hat, doch unschuldig? Muss er oder sie nicht doch besser geschont werden, weil er oder sie eigentlich für die eigene Schuld nichts kann und weil eine Straf-bewehrte Konsequenz nicht zuzumuten ist? Die Frage des Anstands: kann man sich nehmen, was man kriegen kann? Muss man sich nehmen, was man kriegen kann? Die Frage der Moral: darf man das psychosoziale Gefüge einer Mannschaft, die  ein wichtiges Spiel vor sich hat, torpedieren? Die Frage des Lebensentwurfs: wie wollen wir leben? Ich bin natürlich fürs Ruhrgebiet. Leider werden diese Fragen am 25.5.2013 nicht geklärt. Hoffentlich kommen sie hier bald auf den Tisch.   

Donnerstag, 11. April 2013

Hirnforschung mit Hirnschwächen

Nein, die Überschrift im Wissensteil der SZ heute am 11.4.2013, Seite 16 lautete: "Hirnforschung mit Schwächen". Schwächen war offenbar der Einfall des ungläubigen Redakteurs, der seinen Augen nicht traute, als er las, was in Nature Reviews Neuroscience veröffentlicht (sinngemäß) wurde: die Resultate der so genannten Hirn-Forschung taugen wenig, basieren auf schlecht benutzten statistischen Verfahren, entstammen irrelevanten Fragestellungen, sind deshalb überflüssig und zogen zuviel Geld ab von anderer, vernünftiger Forschung. Man kann es auch anders sagen: Hirn-Forschung hat ihre Meriten, so sie die Lokalisation der Hirn-Funktionen betreibt; der Rest ist Bluff - und schlägt sich beispielsweise nieder in einer Publikation mit dem demagogischen Titel Digitale Demenz. Bluff, weil die Frage der Intentionalität ausgespart wird, weil niemand weiß, ob und wie Symbolisches neuronal codiert wird und wie insgesamt seelische Selbst-Regulationen - die wir wahrscheinlich schlecht mit dem Adjektiv seelisch beschreiben (weil sie wahrscheinlich umfassende Strukturen sind) - funktionieren, weil wir noch immer davon ausgehen, dass sie ein so genanntes körperliches Substrat haben müssen. Müssen sie das? Die Frage nach dem Ort legt das Vorgehen fest. Möglicherweise müssen wir anders fragen. Das haben aber  eine Reihe von Autoren schon längst getan; das Getöse der Neurowissenschaft hat sie in den Hintergrund gedrängt. Ich erinnere an Autoren wie Erwin Straus, Gregory Bateson, Norbert Elias, S. F. Foulkes und Wilhelm Salber.

Fantasien der Automobil-Industrie

Im Wirtschaftsteil der SZ war heute auf der Seite 21 zu lesen:
"Dr. Ja, aber. Es sind schwierige Zeiten für Daimler-Chef Dieter Zetsche: Weiterhin fährt sein Konzern den Wettbewerbern Audi und BMW hinterher. Auf der Hauptversammlung in Berlin präsentiert er sich den Aktionären deshalb in der Rolle des optimistischen Zweiflers".
Bravo, kann man da nur sagen: Zweifeln ist angebracht und zeitgemäß. Außerdem: was ist schlecht am dritten Platz? Wenn man weiter liest, erfährt man: die Aktionäre erwarten eine Rendite von zehn Prozent. Zehn Prozent. Auf Teufel kommt raus. Wir fahren, wenn wir können, mit Vollgas an den Abgrund. Chicken Game hieß das Spiel von Adoleszenten in Nicholas Rays Denn sie wissen nicht, was sie tun (Rebel Without A Cause; U.S.A. 1955). In Berlin waren es Erwachsene. Wer bremst eigentlich diese Herren?   

Mittwoch, 10. April 2013

Wo sind die Ludwig Marcuse-Leserinnen und Leser?

Rolf Hochhuth empfahl einmal, es ist lange her und gehört in die 60er Jahre, den richtigen Marcuse zu lesen: nicht Herbert, sondern Ludwig Marcuse. Er ist vergessen und nicht vergessen: Ich finde ihn nirgendwo zitiert, aber viele seiner Bücher sind noch im Diogenes-Verlag zu haben und finden - leider gibt der Verlag keine Verlaufszahlen an -  ihre Leserinnen und Leser. Seltsam. Sein Mein 20. Jahrhundert, 1960 erschienen, von mir um 1961 auf die Empfehlung des Bibliothekars der Volksbücherei in Köln-Sülz hin gelesen, ist wahrscheinlich - Selbst-Diagnosen sind heikel - das für mich wichtigste Buch; wahrscheinlich bin ich mit ihm - so das mit einem Autor geht - am stärksten identifiziert. Wahrscheinlich war er damals, in den 50er und 60er Jahren, ein einflussreicher Autor, der auch für den Merkur und die Zeit regelmäßig schrieb. Er wurde - obgleich ein moderner und heute sehr aktueller Autor - in der öffentlichen Diskussion freundlich ignoriert - wahrgenommen, aber nicht aufgenommen. Das hängt mit unserer komplizierten Nachkriegsgeschichte, mit der schwierigen Auseinandersetzung um die so genannte, aber unmögliche Bewältigung der Vergangenheit zusammen - und mit dem selbstgerechten, moralischen Rigorismus, der die Frage der Schuld-Verhältnisse nicht ausreichend in einem komplexen Spektrum von Handlungsformen differenzierte.

Ludwig Marcuse votierte für das Individuum und dessen Verantwortung; er hatte sehr genau im Blick, wie die deutschen Eliten dazu beigetragen hatten, die nationalsozialistische Regierung salonfähig zu machen und zu halten; er war sehr für die Differenzierung der Verantwortung. Das wollte man in der Nachkriegszeit nicht so genau wissen. Er wurde vorsätzlich missverstanden. Er war ein Hymniker des individuellen Lebens; er wehrte sich gegen die großen Theorien, die den Einzelnen klein hielten. Das war nicht seine Sicht. Er war auf der Seite des Einzelnen - zu recht. In jeder Psychotherapie wird die individuelle Lebensgeschichte durchgesehen, sortiert und in Narrativen geordnet. Der Einzelne, erfahren wir heute wieder drastisch, droht in seiner Not, wie es  schon immer gang und gäbe war, übersehen zu werden. Das sah er schon früh. So war er ein Opponent der verdrucksten, herrschaftlichen Formel vom falschen und richtigen Leben des Frankfurter Philosophen Theodor Wiesengrund Adorno.

Sie kannten sich seit den 30er Jahren und hatten später Kontakt in Kalifornien. Ludwig Marcuse in seinem Zwanzigsten Jahrhundert: "Ich werde nicht den Abend des Jahres 1947 vergessen, an dem Thomas Mann zu einer Vorlesung 'Nietzsches Philosophie im Licht der Erfahrung' in sein kalifornisches Haus ein lud: A und uns"(S. 51). Thomas Mann in seinem Tagebuch (25.3.1947) dazu: "Vorlesung des ganzen Nietzsche-Aufsatzes in 2 Stunden, unterbrochen durch Souper-Pause, für Adorno's, Markuse's, Speyer, K. u. Klaus Pr.. Erheblicher Eindruck" (S. 109). Theodor Wiesengrund Adorno in seinem Brief an Max Horkheimer vom 13.12.1963: "... hier schicke ich Dir einen Aufsatz des Herrn Ludwig Marcuse, der gegen uns, spezifischer wohl gegen mich gerichtet ist; ein Satz ist eine private Unverschämtheit. Ich meine nun doch, man müsste da etwas Energisches tun, und ich wäre Dir dankbar, wenn Du ihm so eindeutig schriebest, daß es den Bruch bedeutet. Mit so etwas kann man sich nicht mehr an einen Tisch setzen. Die Arbeit charakterisiert ebenso sein erbärmliches Niveau wie sein abscheuliches Ressentiment" (S.722).

Ludwig Marcuse hatte in seinem Text "Zur Verteidigung der Massenkultur" geschrieben: "Die Wirkung einer Musik darf nicht befohlen werden. Man kann nicht diktieren, wie Beethoven gehört werden soll; wem er nichts gibt, der soll ihn gar nicht hören. Es kommt nicht darauf an, dass er 'richtig' aufgenommen wird (nach dem Ukas irgendeines Musikologen), sondern dass er genossen wird". Der Musikologe war eine schlechte Note; der kalifornische Professor aus Los Angeles machte sich über den Frankfurter Professor lustig. Der Frankfurter Professor schlug darob grob um sich. Wobei sein Wort vom erbärmlichen Niveau gut auf seinen eigenen Aufsatz Über Jazz passt - eine kindische Arbeit, mit der er - so meine Lesart - 1938 offenbar Sigmund Freud zu erreichen versuchte. Gegen Adornos majestätischen Tonfall, der in den 60er Jahren zum herrschenden Tonfall wurde, kam Ludwig Marcuse nicht an. Er hatte eine andere Statur, war kein beflissener Langweiler und klang mit seiner tiefen Stimme auch anders. Er war zu stolz, um sich intellektuell zu spreizen; er hatte es nicht nötig. Er zwang einen auch nicht in seinen Text hinein; er ließ sich tatsächlich genießen. Ludwig Marcuse ist, nach meiner kürzlichen Wieder-Lektüre (seines Mein 20. Jahrhundert), ein Genuß zu lesen  - der  erstaunliche Autor, der großzügig gab.

(Überarbeitung: 23.2.2016)

            

Der Kino-Kalligraph

Pauline Kael, die verstorbene, großartige Filmkritikerin des The New Yorker, sagte einmal: Sie sehe sich Kinofilme nur einmal an. Sie wollte sich ihren ersten Eindruck erhalten. Sie war, man kann es ja ruhig auf Englisch sagen, enorm - quick. Das bin ich nicht. Ich weiß manchmal erst beim zweiten Sehen, was ich von einem Film zu halten habe. Beispielsweise wird Tony Scotts Unstoppable (U.S.A. 2010) von Mal zu Mal besser - ich habe ihn fünfmal gesehen. Alfred Hitchcocks Filme habe ich x-mal gesehen - meinen Lieblingsfilm North By Northwest ca. achtzig Mal. Manche Filme erweisen sich als enorm robust. Von den Filmen Michael Hanekes kann ich das nicht sagen: einmal gesehen, bin ich desinteressiert. Einmal gesehen, weiß ich: Ich habe die Katastrophe, den mörderischen Abgrund gesehen und ausgehalten. Einmal gesehen, weiß ich, warum es geht: um das verschlungene,
rätselhafte Spiel mit dem Einbruch des Grauen. In den Filmen Michael Hanekes, die ich kenne (Bennys Video, Funny Games, Caché, Das weiße Band, Amour), muss ich auf diesen Augenblick warten - dann sind sie überstanden; mehr haben sie nicht zu bieten.

Dann sind sie übersichtliche Geschichten. Bennys Video: die Geschichte einer entgleisten Sozialisation in einem verwahrlosten familiären System. Funny Games: das medienpädagogische Rigorosum des Gewalt-Vergnügens, aus dem der Kinoautor Haneke den Ausweg anbietet, als er sein Publikum fragt: Wollen Sie mehr - an Gewalt? Da wusste ich, wo ich war: in einem Anti-Peckinpah-Film, der Straw Dogs auf den Kopf zu stellen probierte. Caché: Michelangelo Antonionis Blow Up eine Schrauben-Drehung weiter erzählt. Das weiße Band: die deutsche sadistische Erziehungs-Kultur und ihre traumatischen Beschädigungen. Amour: der Verfall und die Desintegration der Beziehung eines alten, ungleich alternden Paares mit dem Ausgang eines seltsam in der Schwebe gehaltenen, kitschig  verbrämten Totschlags, bei dem man sich aussuchen kann, ob er vom dekompensierenden Protagonisten halluziniert oder verübt wurde; nüchtern und liebevoll dagegen hatten Sarah Polley mit Away From Her und Richard Eyre mit Iris die Tragödie der Unerreichbarkeit und des Verlusts erzählt.

Michael Haneke, das kann man an seinem letzten Film Amour sehen, ist ein von Alfred Hitchcock  inspirierter Kinoautor. Die Ausstattung der großbürgerlichen Pariser Wohnung ist glänzend: man kann das Alter der Protagonisten an der Ausstattung sehen und buchstäblich riechen. Die Ausstattung erreicht das Niveau von Alfred Hitchcocks Ausstatter Robert Boyle in North By Northwest. Seine letzten Filme leben von einer präzisen Fotographie. Michael Haneke ist kein Mann des Kinos. Seine Filme finde ich (manchmal) schön, aber kalt. Freiwillig, nur zu meinem Vergnügen, würde ich mir einen seiner Filme nicht ansehen.  Er ist der Mann, der das U.S.-Kino zu dekonstruieren versucht, aber von dem U.S.-Kino lebt - als Ausgangspunkt für eine alte, umstrittene, streng und hermetisch kommunizierte Medien-Kritik an der Gewalt des Kinos. Anthony Lane überschrieb seinen Aufsatz im The New Yorker über Michael Haneke mit Happy Haneke - er meinte dessen Spaß, dem Publikum einen Erziehungsdurchgang aufzuzwingen: Gewöhnt euch das Vergnügen am robusten Kino ab! Seltsamerweise wird diese Version von verordneter Kinodiät ausgezeichnet. Aber vielleicht dienen seine Filme als Bußgang fürs schlechte Gewissen der schreibenden Kinogänger, die immer noch Vergnügen am nordamerikanischen Kino haben und nicht so recht wissen, wie sie es behaupten können gegen den Kalligraphen mit dem großen Zeigefinger.

Porsche-Imperialismus

Im aktuellen Jubiläumsheft von Lettre (Nummer 100) kann man auf der Innenseite des Deckels die neueste Porsche-Werbung sehen: Vor dem Hintergrund einer verwischten Landschaft - eine Mischung aus Monument Valley und Wüsten-Hügeln  - das mächtige, scharf abgebildete Heck eines blauen Porsche 911 Carrera S mit vier Auspuffrohren. Unterschrift: "Chiffre International: 911."
Wer nicht allzu sehr auf die Porsche-Konnotation dieser Ziffern eingestellt ist, liest möglicherweise -
beeinflusst vom 11.9.2001: Nine Eleven.
Das wissen die Porsche-Leute natürlich auch. Vor allem gehen die meisten Wagen dieser Marke in die U.S.A. Aber sie sagen: Wir waren mit unserem Modell zuerst da. Wir trotzen der Geschichte. Das PS-Gedröhne hat Vorfahrt. Wir gucken nur nach vorne - durch die Windschutzscheibe. Und zeigen den anderen - das Hinterteil.

Donnerstag, 7. Februar 2013

Zur Selbst-Präsentation im öffentlichen Raum

Jedes Mal, wenn wir in unserem Hallenbad schwimmen waren, saß ich in der Eingangshalle und wartete auf meine Frau, die sich ihre Haare fönte. Das gab mir Zeit zu einer Art teilnehmender Beobachtung mit der Frage, wie sich die hereinkommenden Frauen und Männer mit ihren Kinder präsentieren in der Öffentlichkeit der Halle mit dem Karten-Automaten und dem mit den Karten zu bedienendem Drehkreuz. Bei dieser Minuten-kurzen Selbst-Präsentation steht viel auf dem Spiel: die Frage der kognitiven Kompetenz im Umgang mit dem Automaten, die Frage der affektiven Selbst-Regulation im Prozess der Beobachtung der Selbst-Präsentation durch einen Fremden, die Frage der elterlichen Interaktionen der Partner untereinander und mit ihren Kindern. Wer Erfahrungen mit dem Rechner hat, sieht man schnell. Die Unterschiede in der Orientierung auch. Ebenso die Unterschiede in den Interaktionen. Das letzte Mal ist mir in Erinnerung geblieben. Ein Mann, Ende 30, Anfang 40 kommt mit seinem 2 1/2 bis 3 Jahre alten Sohn in die Halle. Der Junge hat die Wollmütze tief ins Gesicht gezogen. Gelassen schaut er  unter dem Wollrand hervor und herum. Der Junge ist von seinen Eltern gut aufgenommen worden, denke ich mir, er scheint spannungslos, unaufgeregt auf seinen Vater zu warten, der das Billet auf der touchscreen des Automaten löst und das Geld einwirft. Kinder nehmen die Spannungen und Konflikte ihrer Eltern auf. Dieser Junge ging an den Automaten und versuchte, das Wechselgeld aus dem mit einem Plastikdeckel geschützten Fach herauszunehmen.

Der Vater ließ ihn. Er reichte seinem Jungen das geöffnete Kleingeld-Fach seines Portemonnaies. Der Junge nahm die Münzen und legte sie in das Portemonnaie. Es war ein Zusammenspiel. Kinder, die ihren Eltern häufig zeigen möchten, wie sie den Automaten beherrschen und dabei den Impulsen ihrer Eltern in die Quere kommen, werden oft - so meine Beobachtung - zurückgewiesen. Hier nicht. Der Junge konnte zeigen, was er konnte; der Vater unterstützte ihn und ermöglichte ihm das. Er trug seinen Sohn schließlich übers Drehkreuz. Sie gingen auf die schwere Eingangstür zu; auf deren Scheibe klebt das Schild mit dem Wort ziehen. Man muss schon kräftig an der Tür ziehen, um sie aufzubekommen. Der Vater ließ seinen Jungen. Der zog ganz kräftig und mit Mühe. "Aufziehen", sagte er, "aufziehen".
Ich stutzte: Kann er schon lesen? Wieso kommt er auf aufziehen? Aufziehen ist das bessere Wort für die Anstrengung des Ziehens, dachte ich. Was für ein kluger Junge. Die Eltern müssen viel mit ihm sprechen, vermutete ich. Mir ging die Frage nach: Sollte auf der Scheibe nun besser aufziehen statt ziehen kleben?    

Die Tischmanieren des Spechts und der Meisen in unserem Garten

Unsere Nachbarn haben uns zu Weihnachten ein Vögelhäuschen geschenkt. Es war mit Meisenknödeln und einem netzartigen Plastiksäckchen mit Erdnüssen ausgestattet - beides haben wir inzwischen erneuert. Eine Gruppe und ein Specht, die sich ablösen und sich den Vortritt lassen, machen sich darüber her. Als ich das erste Mal das Säckchen genau besah, war ich überrascht: die Vögel hatten die Erdnüsse aus ihren Schalen, die sonst unversehrt im Säckchen zurück geblieben waren, herausgepickt, ganz zu schweigen vom dem vollständig erhaltenen Plastik-Netz - sie haben mit ihrer unglaublichen Geschicklichkeit beschämend gute Tisch-Manieren.  

Kontext-Brüche

Gestern trat die Bundesbildungsministerin Annette Schwan in Südafrika vor die Kameras und sprach in unsere Richtung; zwei Sätze wurden von der A.R.D. ausgestrahlt und heute morgen auf der Seite Drei der SZ zitiert: "Die Entscheidung der Universität Düsseldorf werde ich nicht akzeptieren und dagegen Klage einreichen. Mit Blick auf die juristische Auseinandersetzung bitte ich um Ihr Verständnis, dass ich heute keine weitere Stellungnahme abgeben werde".
Die Sätze sind wie gemeißelt; offenbar ist dran schon länger formuliert worden. Die Sätze lassen einige Fragen offen:
1. Die Entscheidung der Universität Düsseldorf, ihr den akademischen Grad des Doktors zu verleihen, hatte sie akzeptiert. Das Problem ist, offenbar unsere Spezialität, dass der akademische Grad des Doktors Bestandteil des Namens wird, als hätte sich damit die eigene Identität, die mit dem Namen festliegt (nicht immer), irreversibel verändert.
2. Wenn ein Gremium von Fachleuten mit einem Text nicht mehr einverstanden ist, muss dessen Autor doch interessiert sein, welcher Mangel besteht. Aber die Autorin Annette Schavan ist an dem Inhalt des Einspruchs nicht interessiert. Damit maßt sie sich eine Befugnis an, die sie nicht hat.
3. Wogegen will sie Klage einreichen? Ihre Anwälte sagen: gegen die schlechte Begutachtung, gegen die "Gesetzeswidrigkeit" der Begutachtung und gegen deren Unverhältnismäßigkeit. Damit wird die
Hoheit der Universität Düsseldorf, auszubilden und relevante akademische Abschlüsse zu erteilen, eine der Implikationen der Klage, bestritten. Was ist mit den anderen Hochschulen? Und was ist mit den Schulen, die den Zugang zu den Hochschulen legitimieren? Mit ihrer Klage geht sie gegen das System unserer Ausbildung vor, das zu vertreten ihr demokratischer Auftrag ist.
4. Eine erfolgreiche Dissertation liefert eine wissenschaftliche Entdeckung oder Leistung. Welche Entdeckung oder Leistung hat sie erbracht? Die Substanz der Arbeit "Person und Gewissen" (so der Titel) steht seltsamerweise gar nicht zur Debatte.
5. Es geht um den Status, nicht um die wissenschaftliche Substanz.
6. Es geht um den Schutz der Regierung, nicht um den Schutz wissenschaftlicher Integrität.
7. Es geht um das politische Konzept des Machterhalts. Das ist nicht neu und selbstverständlich, aber erneut wird dieses Interesse getarnt mit einem Angriff auf den Ethos der Wissenschaft. Damals sprach die Bundeskanzlerin unverblümt davon, dass sie einen Politiker eingestellt hätte und keinen wissenschaftlichen  Assistenten. Das war damals die Disqualifikation des politischen und des wissenschaftlichen Berufs.
8. The show must go on. Gestern saßen  der Präsident und die Kanzlerin auf der Ehrentribüne des Pariser Fußballstadions und sahen beiden Mannschaften zu. Die beiden gaben sich fröhlich und zugetan. Der Kanzlerin konnte ich die Sorgen um ihre Bildungsministerin nicht ansehen. So etwas wirkt gespenstisch - so viel show macht mich jeck.