Montag, 23. Mai 2016

Journalismus-Lektüre (als Beobachtung der Beobachter) XXVII: das Zeitungs-Gespräch als fabrizierte Politik

Gestern der Aufmacher der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (22.5.2016, Nr. 20) mit den
beiden Schlagzeilen des Zitats: "Mich irritiert die Freude am Scheitern" , eingerahmt von zwei Bildern unserer Bundeskanzlerin (die Autorin der Irritation); die Unterzeilen: "Die Kanzlerin hält am Abkommen mit der Türkei fest, mahnt das Land vor ihrem Besuch in Istanbul aber zu Reformen. Und sie hat im Gespräch mit der F.A.S. eine Botschaft für Horst Seehofer".

Das Gespräch ist auf der zweiten Seite abgedruckt. Das Gespräch war kein Gespräch. Etiketten-Schwindel. Das Gespräch war schrecklich langweilig: ein ausgefeilter Beitrag folgte auf den nächsten, keine spontane Bemerkung, keine Zwischenfrage, kein Dialog, eine Beziehung ließ sich nicht ausmachen. Das Gespräch, vermute ich, durchlief viele Bearbeitungsstufen; wahrscheinlich fand ein reger Austausch nach dem Gespräch statt; über den Text haben sich viele Köpfe gebeugt. Hier spricht das Bundeskanzleramt, nicht die Redaktion der Zeitung: könnte man das Unternehmen nennen.

Aber auch ein überarbeiteter Text sagt noch etwas. 1. Das Bundeskanzleramt inszeniert das Forum und redigiert die Form; so wird die Politik geschützt, verborgen und zurecht gebogen. 2. Die Redaktion lässt das mit sich machen; sie sagt nichts dazu, dass sie sich als Sprachrohr benutzen lässt. 3. Das Gespräch (seine Inszenierung) gibt einen (vagen) Eindruck von der Macht des Bundeskanzleramtes: ohne Inszenierung läuft wahrscheinlich nichts; weswegen die Zeitung dieses Angebot nicht ausschlägt: wer weiß, welche Redaktion dann den Auftrag übernehmen würde. Wir kriegen eine Idee, wie die Protagonistin des Amtes immunisiert wird. 4. Mich irritiert die Freude am Scheitern ist eine tückische Formel: jede Kritik an der Politik des Amtes erhält eine böswillige Absicht unterlegt. Das wiederum ist die bekannte, vertraute Rührseligkeit (Muster: Haß im Herzen). Aggressivität gehört zum Geschäft - sie sollte  produktiv, nicht destruktiv ausfallen. Fällt sie destruktiv aus, ist das keine Katastrophe. (Verbotene, schlimme) Destruktivität insinuiert die Kanzlerin: eine undemokratische Taktik. Auf seltsame Weise scheinen einige Mitglieder der Redaktion der Frankfurter Tageszeitung damit identifiziert zu sein - zwei Belege (nicht viel, aber etwas): 1. der Beitrag von Wolfgang Streeck (s. meinen Blog vom 3.5.2016) hat in einem einzigen, (vorsichtig) zustimmenden Leserbrief sein Echo gefunden; 2. heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (S. 1, 23.5.2016) der Satz von Jasper von Altenbockum aus seinem Text Merkels Politik: "Das ist wiederum Wasser auf die Mühlen fanatischer Merkel-Kritiker, die ihrer Flüchtlingspolitik einen eklatanten Rechtsbruch unterstellen" - es geht um die umstrittene Politik der Bundesregierung mit der türkischen Regierung.

Aber, aber - natürlich ist es immer komplizierter: in der gestrigen Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung war auch der Text von Holger Stelzner abgedruckt mit den Titel: "Der
europäische Schlamassel. Erst die Griechen, dann die Flüchtlinge, jetzt der Brexit: Europa hat keine Kraft, Konflikte zu befrieden. Angela Merkels Deal mit Erdogan macht das nur noch schlimmer". Holger Stelzner war einer der beiden Teilnehmer des Gesprächs mit der Kanzlerin. Wahrscheinlich, vermute ich, wurden seine kritischen Fragen von der Amts-Kosmetik überschminkt - mit dem Text auf S. 21 bewahrt Holger Stelzner seine kritische Position: gewissermaßen die Kompensation zum Gespräch auf Seite 2. Auseinandersetzungen in der Redaktion sind zu vermuten. Warum trägt die Zeitung sie nicht aus? Warum folgt sie der bekannten Maxime: nur nichts nach außen dringen lassen? Die journalistischen Beobachter, ist das Fazit dieser Beobachtung, sind ängstliche Bobachter.




(Überarbeitung: 6.6.2016)


    

Neues zur Heiligen Kuh XXVIII: sie tut, was sie will

Die Konfusion steigt. Geklärt wird nix. Wir kennen das aus dem Alltag: wenn die Aufregung zunimmt, reden alle durcheinander. Zuerst VW, dann Mercedes, dann RENAULT, dann Mitsubishi, dann OPEL, jetzt FIAT. Was ist mit VW? Schwer zu sagen. Es ist so still. Unsere Empörungsmaschinerie stockt. Heute Morgen meldet sich Holger Appel von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Wort (23.5.2016, S. 15) - mit einem Text, der den Titel hat: Diesel im Bauch. Nun ja. Er schreibt (sein erster Satz):

"Die Frage, ob Autohersteller die Abgasreinigung ihrer Diesel unter Ausnutzung legaler Spielräume über Gebühr herunterregeln, hat den Bereich des technisch Beweisbaren verlassen".

Wie das? Es soll unmöglich sein, die Auspuffgase bei verschiedenen Geschwindigkeiten ordentlich zu erfassen und auszuwerten? Es ist wohl aufwändig und deshalb teuer - aber mehr doch nicht. Holger Appels letzte Sätze:

"Es geht nicht mehr allein um zweiffellos strenge Grenzwerte. Es geht auch darum, welche Grenzen der Gesetzesauslegung die ihrem Bauchgefühl folgende Kundschaft akzeptiert".

Das nennt man Verschiebung. Gesetze sind immer streng: in dem Sinne, dass eine Übertretung geahndet wird; darin sind Gesetze unbeweglich: verhandelt wird nicht; wohl gibt es (später)  ein Abwägen der Bestrafungsmittel. Holger Appels Rechtsverständnis passt zum Unwillen der Protagonisten der öffentlichen Diskussion, Rechtsbruch und Desinteresse an den klimatischen Folgen auf die oberste Position der  Tagesordnung zu setzen.

Freitag, 6. Mai 2016

Der FC Bayern München verliert das Halbfinale mit einem verschossenen Elfmeter

Neunzig Minuten gut gespielt und verloren: so die Bilanz des Spiels des FC Bayern München am vergangenen Dienstag, dem 3.5.2016. Die zweite, von den Mitleid-bereiten Journalisten des Zweiten Deutschen Fernsehens in die Interwiews gebrachte Bilanz lautete: unverdiente Niederlage? Klar doch; dem schlossen sich Einige in ihrer Enttäuschung an. Die Kurz-Gespräche boten einige Lehr-Minuten im Fach: Beweglichkeit der Moral und Verwechslung der Etagen. Der Sport ist unbarmherzig: nur das innerhalb des Regelwerks erzielte Resultat zählt. Andere Überlegungen sind irrelevant. Einen Verdienst im Kontext einer den Sport tranzendierenden Gerechtigkeit gibt es nicht. Ein Verdienst als eine Auszeichnung wird einem gegeben oder verliehen. Das Honorar als einen Verdienst zu bezeichnen, wie das früher geläufige Sprech-Praxis war, gehört zu einem anderen Kontext. Lebensgeschichtliche Gerechtigkeit ist keine Kategorie des Sports - wohl die Fairness des Wettbewerbs (gleiche Bedingungen, gleiche Regelauslegung, gleiche Wettkampf-Mittel, kein Betrug). Wer gewonnen hat, hat gewonnen.

Niemand erinnerte sich an den  Elfmeter in der letzten Woche, mit dem der FC Bayern München sich ins Endspiel des DFB-Pokals mogelte. Da zählte für die Münchener Moral der Sport als Sport. Am vergangenen Dienstag ging es darum, mit der Enttäuschung der Größenfantasie  des Fußballvereins zurecht zu kommen - der dreifache Sieg in drei Wettbewerben als Mindesterfolg. Wenn der beste Fußball-Trainer der Welt engagiert wird, muss die beste Fußball-Mannschaft herauskommen. So rechnen maßlose Geschäftsleute. Sportler kennen den Sport.

(Überarbeitung: 17.5.2016)

Freud, Chandler, Trump und das Magazin der Frankfurter Allgemeinen: zwei Skeptiker und zwei Trompeter des Triumphs der kapitalistischen Fantasien

"Im US-Wahlkampf 2016 lautet das Hasswort: Establishment", schreibt heute Nicolas Richter in seinem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung (6.5.2016, S.4, Nr. 104). Nicolas Richter zählt die Kandidaten Bernie Sanders, Ted Cruz und Donald Trump auf. In den 60er Jahren war das Etablishment die Zielscheibe unseres studentischen Ressentiments - damals erschien die Welt noch übersichtlich. Möglicherweise ist die Frage der Übersichtlichkeit auch eine Frage des Alters: je älter, um so konfuser wird die eigene Wahrnehmung der Welt.

Zurück zum Establishment. Ich muss etwas ausholen. Sigmund Freud hielt den Verzicht für eine notwendige, aber fragile, weil strapaziöse Kultur-Anstrengung. Raymond Chandler beschrieb die kulturelle Entleerung (der Beziehungswirklichkeiten), wenn die Kriminalität die Kultur-Anstrengung unterläuft. Jetzt haben wir den Salat. Donald Trump trompetet den Triumph des Reichtums in die weltweite Öffentlichkeit und macht die Fantasien des Reichtums vom Glitzer und Glamour zu einer Art substanzlosen, politischen Überfalls auf die demokratische Verfasstheit seiner Gesellschaft. Die Grillparty als politisches Forum. Das haben wir davon: wenn Demokratie mit Geschäft verwechselt wird, werden die Ideale im beschwipsten Gejohle entwertet. Das ist lustig, unterhaltsam - aber unerfreulich. Das geschieht aber nicht nur in den Vereinigten Staaten mit einem robusten Protagonisten wie Donald Trump, sondern auch hier bei uns. Man muss nur das (der Tageszeitung beigelegten, monatlich erscheinenden) Magazin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung durchblättern, um den bei uns kursierenden Glitter und Glamour aufzunehmen: den ernormen Reichtum unserer Produkte - außerhalb der Reichweite der durchschnittlich gut Verdienenden, gut fotografiert, ordentlich gedruckt, im gedämpften Tonfall.

Haben wir jetzt den Salat? Das muss man sehen. Alles Klagen und Haare-Raufen nützen nichts: wir erleben die Tests der Demokratie entlang der Frage, wonach wir wie zu leben wünschen. Darf es noch ein bisschen Wachstum mehr sein? Politikerinnen und Politiker der Nachdenklichkeit werden in der ersten Reihe (die von der öffentlichen Diskussion gern beobachtet wird) benötigt. 

Dienstag, 3. Mai 2016

Überraschung am Morgen

"Merkels neue Kleider" heißt der Text von Wolfgang Streeck - heute im Feuilleton der Frankfurter Allgemeine Zeitung (S. 9, 3.5.2016). Vorgestellt wird er mit diesen Zeilen: "Es ist Wahnsinn. Aber hat es auch Methode? Angela Merkel stützt sich auf eine Öffentlichkeit, die Sprunghaftigkeit und Kitsch hinnimmt. Anmerkungen zu einem immer befremdlicher werdenden Regierungsstil".

Das ist ein Ding: die Redaktion des Feuilletons widerspricht der Redaktion der Politik. Statt der vertrauten Merkel-warmen Worte: Merkel-harsche Worte. Endlich!, kann ich da nur sagen. Kritische Stimmen gab es immer, aber sie schienen zu verhallen. Jetzt müsste Wolfgang Streecks Stimme gehört werden müssen. In der London Review of Books (vom 31.3.2016, Nr 7) hatte Wolfgang Streeck in seiner sehr ausführlichen Buch-Rezension die Berliner Politik beschrieben. Mit seinem neuen Text hat er einen zweiten Versuch unternommen; nach der internationalen Öffentlichkeit die bundesdeutsche Öffentlichkeit. Was passiert? Müssen wir sehen.

Wolfgang Streecks Diagnose finde ich zutreffend: der Imperialismus des Bundeskanzleramtes (sinngemäß zusammen gefasst), das die bundeutschen Interessen als europäische Interessen unverfroren deklariert und durchzusetzen sucht, dient der Macht- und der Parteipolitik der leitenden Dame; mit einer Tränen-seligen Moral der Dauer-Sorge wird unsere Öffentlichkeit von Aufregung zu Aufregung irritiert, beruhigt und irritiert und beruhigt und irritiert und so weiter und so fort.

Bleibt die Frage, wieso diese Politik der Substanzlosigkeit durchgeht. Erstens, worauf Wolfgang Streeck hinweist, werden die von der Regierung verbreiteten Narrative nicht ausreichend gegen den Strich gelesen; stattdessen Ranschmeißen an die Dame des Hauses. Zweitens, meine Erfahrung, bemüht sich die öffentliche Diskussion unzureichend, die Kontexte der Narrative zu synthetisieren, zu entfalten und in der Interessen-geleiteten Politik zu lokalisieren. Also beispielsweise: die Kosten der Abwicklung des Atom-Geschäfts - werden im Augenblick auf knapp 170 Milliarden Euro sicherlich unterschätzt, wovon die Atom-Industrie ein knappes Sechstel bestreiten muss - müssen als Wahlkampfkosten der Kanzlerin in Rechnung gestellt werden, als sie kurz vor den Landtagswahlen in Baden-Würtemberg das Steuer herumriss. Drittens, ein weiteres Versäumnis der öffentlichen Diskussion, werden Pläne, Verlautbarungen und Handlungen der Regierung unzureichend nachgehalten und bilanziert.

Bleibt immer noch die Frage, wieso diese Politik der Konfusion durchgeht. Die Räder des Geschäfts drehen schneller und schneller - durch. Kein richtiger grip mehr auf den Reifen. Die Angst steigt. Wo treiben wir hin?

Es wird alles gut - sagt Angela Merkel. Ihr bundesdeutscher Imperialismus folgt der Attraktion der deutschen Grandiosität; die bundesdeutsche Rührseligkeit setzt die deutsche Verschmelzungssehnsucht fort. Die Not der Emigration ist delegiert, der Euro steigt, die Dieselthematik liegt in der Ablage, jetzt kommen die Elektroautos. So geht es doch voran.