Dienstag, 3. Mai 2016

Überraschung am Morgen

"Merkels neue Kleider" heißt der Text von Wolfgang Streeck - heute im Feuilleton der Frankfurter Allgemeine Zeitung (S. 9, 3.5.2016). Vorgestellt wird er mit diesen Zeilen: "Es ist Wahnsinn. Aber hat es auch Methode? Angela Merkel stützt sich auf eine Öffentlichkeit, die Sprunghaftigkeit und Kitsch hinnimmt. Anmerkungen zu einem immer befremdlicher werdenden Regierungsstil".

Das ist ein Ding: die Redaktion des Feuilletons widerspricht der Redaktion der Politik. Statt der vertrauten Merkel-warmen Worte: Merkel-harsche Worte. Endlich!, kann ich da nur sagen. Kritische Stimmen gab es immer, aber sie schienen zu verhallen. Jetzt müsste Wolfgang Streecks Stimme gehört werden müssen. In der London Review of Books (vom 31.3.2016, Nr 7) hatte Wolfgang Streeck in seiner sehr ausführlichen Buch-Rezension die Berliner Politik beschrieben. Mit seinem neuen Text hat er einen zweiten Versuch unternommen; nach der internationalen Öffentlichkeit die bundesdeutsche Öffentlichkeit. Was passiert? Müssen wir sehen.

Wolfgang Streecks Diagnose finde ich zutreffend: der Imperialismus des Bundeskanzleramtes (sinngemäß zusammen gefasst), das die bundeutschen Interessen als europäische Interessen unverfroren deklariert und durchzusetzen sucht, dient der Macht- und der Parteipolitik der leitenden Dame; mit einer Tränen-seligen Moral der Dauer-Sorge wird unsere Öffentlichkeit von Aufregung zu Aufregung irritiert, beruhigt und irritiert und beruhigt und irritiert und so weiter und so fort.

Bleibt die Frage, wieso diese Politik der Substanzlosigkeit durchgeht. Erstens, worauf Wolfgang Streeck hinweist, werden die von der Regierung verbreiteten Narrative nicht ausreichend gegen den Strich gelesen; stattdessen Ranschmeißen an die Dame des Hauses. Zweitens, meine Erfahrung, bemüht sich die öffentliche Diskussion unzureichend, die Kontexte der Narrative zu synthetisieren, zu entfalten und in der Interessen-geleiteten Politik zu lokalisieren. Also beispielsweise: die Kosten der Abwicklung des Atom-Geschäfts - werden im Augenblick auf knapp 170 Milliarden Euro sicherlich unterschätzt, wovon die Atom-Industrie ein knappes Sechstel bestreiten muss - müssen als Wahlkampfkosten der Kanzlerin in Rechnung gestellt werden, als sie kurz vor den Landtagswahlen in Baden-Würtemberg das Steuer herumriss. Drittens, ein weiteres Versäumnis der öffentlichen Diskussion, werden Pläne, Verlautbarungen und Handlungen der Regierung unzureichend nachgehalten und bilanziert.

Bleibt immer noch die Frage, wieso diese Politik der Konfusion durchgeht. Die Räder des Geschäfts drehen schneller und schneller - durch. Kein richtiger grip mehr auf den Reifen. Die Angst steigt. Wo treiben wir hin?

Es wird alles gut - sagt Angela Merkel. Ihr bundesdeutscher Imperialismus folgt der Attraktion der deutschen Grandiosität; die bundesdeutsche Rührseligkeit setzt die deutsche Verschmelzungssehnsucht fort. Die Not der Emigration ist delegiert, der Euro steigt, die Dieselthematik liegt in der Ablage, jetzt kommen die Elektroautos. So geht es doch voran.  

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