Freitag, 7. Mai 2021

Wohin des journalistischen Weges? Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter 100)

Man kann es aber auch übertreiben - diesen zähneknirschend herausgepressten Satz, dass jemand sich nicht an die Regeln des ordentlichen Lebens (gut gekämmt, gut geduscht, gut riechend, gut gekleidet) hält, kennen wir; gemeint ist eine Jugendlichkeit, die ihre Jugendlichkeit öffentlich feiert. Jetzt las ich diesen Satz in der Zeitung für die klugen Köpfe (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.4.2021, S.1, Nr. 100); der pikierte Autor ist Reinhard Müller. Übertrieben hat in seinen Augen unser Bundesverfassungsgericht mit dessen Beschluss vom 24.3.2021; die Pressemitteilung dazu vom 29.4.2021 trägt den Titel: "Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz teilweise erfolgreich".

Der Pressetext ist keine leichte Lektüre; man muss sich Zeit nehmen. Schon der Titel mit seinem teilweise erfolgreich macht es einem schwer; denn man muss die Einschränkungen suchen. Was hat das Bundesverfassungsgericht moniert? "Hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion fehlen" (nach 2031), heißt es am Textanfang. Stellen wir uns vor, wir haben einen Wanderweg von sechs Stunden mit Freundinnen und Freunden vor uns; jeder führt eine Wasserflasche mit; wir machen alle zwei Stunden eine Pause; für die erste Pause verabreden wir, einen ordentlichen Schluck zu trinken; für die beiden anderen Pausen verabreden wir  keine Trinkmengen. Halt, sagt das Bundesverfassungsgericht, Sie müssen an die anderen Pausen denken, daran, dass Ihr Erschöpfungsgrad zunimmt und Ihre Kondition nachlässt; das müssen Sie früh genug diskutieren und festlegen.  Wir müssen, in der Sprache des Bundesverfassungsgerichts, hinreichende Maßgaben verabreden, wie es weiter geht. Das ist doch nur klug.

Was schreibt Reinhard Müller?

"Das Klimaschutzgesetz ist insofern mit dem Grundgesetz unvereinbar, als Maßgaben für weitere Treihausgasreduktionn vom Jahr 2031 an fehlen", referiert er den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts.. Nein, der Autor hat zu schnell gelesen: hinreichende Maßgaben steht dort. Hinreichende Maßgaben setzen eine genaue Auseinandersetzung mit den Prozessen der Erderwärmung voraus. Prozentzahlen festzulegen ist zu wenig. Die Erderwärmung ist ein irreversibler Prozess; sie zu bremsen, wird von Jahr zu Jahr schwieriger, von einem bestimmten Punkt an unmöglich. Was macht man also nach 2030? Man kann das Tempo des Prozesses der Erderwärmung überhaupt nicht übertreiben. Mit anderen Worten: Richard Müller empfiehlt das beschwichtigende Gemach, gemach. Nur nicht übertreiben. Dabei drängt die Zeit gewaltig. Darauf besteht unser Bundesverfassungsgericht.

Reinhard Müllers Kommentar ist erstaunlich; offenbar hat er, der promovierte Jurist (Jahrgang 1968), den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts überflogen. Die Erderwärmung hält er für nicht so dringlich und nicht so komplex.  Es ist die Frage, wie er seine Position gewonnen  und welche Konzepte er hat. Offenbar hängt er an unseren vertrauten Lebensformen und ist eingestimmt auf die Verleugnung der enorm dringlichen Transformation unserer Lebensverhältnisse. Es ist das Problem eines gängigen, selbstgewissen Journalismus, der die Herkunft seiner Konzepte nicht angibt; er behauptet Sachverhalte, ohne sie abzuleiten.

Fünf Tage später. Reinhard Müller schreibt seinen Kommentar vom 30.4.2021 mit einem längeren Text fort, dessen Titel Karlsruher Klima-Orakel lautet (F.A.Z. vom 5.5.2021, S. 1, Nr. 103). Reinhard Müller hat nachgelesen, gibt sein Text zu erkennen; er tritt noch einmal nach; im letzten Absatz seines Kommentars bügelt er seinen Spott glatt und findet seinen Heimweg der Trivalitäten:

"Die freiheitliche Demokratie muss Tag für Tag gelebt und verteidigt werden. Dafür wird das Verfassungsgericht gebraucht. Umso wichtiger ist es, dass die Politik Luft zum Atmen hat. Der gobale Anspruch (des Bundesverfassungsgerichts), der auch Bagladesch und Nepal fürsorglich in den Blick nimmt, sollte nicht vergessen lassen, dass auch Klimaschutz vor der eigenen Haustür beginnt - und dort demokratisch verantwortet werden muss". 

In derselben Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (S. N1) im Buch Natur und Wissenschaft  (weit hinten) hat Joachim Müller-Jung Passagen aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts  auf einer Zeitungsseite collagiert - unter dem Titel:  Im Namen der Freiheit. Das Bundesverfassungsgericht hat  Wissenschaftsgeschichte geschrieben - und mehr. Sein Urteil zum zum Klimaschutzgesetz  ist ein Füllhorn klimatologischer Expertise. Vorbei mit Verfassungslyrik. 

Der Gegentext. Joachim Müller-Jungs Journalismus verdient seinen Namen. Joachim Müller-Jung (Jahrgang 1964) ist diplomierter Biologe. Er sieht die Dringlichkeit der Anstrengung  einer riesigen Transformation. Expertise oder Übertreiben. Wir haben ein Beispiel für das Muster unseres Konflikts vor uns.

Dienstag, 4. Mai 2021

Bravo! Ein Hoch auf die Kölner Verwaltung, die den Impf-Bus konzipierte, organisierte und nach Köln-Chorweiler schickte. Chapeau bas!

 In den Tagesthemen sah ich gestern den Impf-Bus, wie er in Köln-Chorweiler stand und wie vor einem der riesigen Hauskomplexe eine lange Schlange von Leuten auf ihre erste Impfung warteten. Wenn die Leute nicht in die Impfzentren kommen, müssen die Impfzentren zu ihnen kommen: so ähnlich (sinngemäß) erläuterte Henriette Reker, die Kölner Oberbürgermeisterin, das Projekt der mobilen Impfstation. Köln-Chorweiler ist seit Jahrzehnten als ein schwieriger Vorort bekannt und berüchtigt für das Konzept, prekäre Lebens- und Wohnverhältnisse in vielgeschossigen Anlagen zu verdichten. In Köln-Chorweiler leiden die Bewohner an einer Erkrankungsrate von über 500; im knapp zwanzig Kilometer entfernten Köln-Klettenberg, einem Vorort der Mittelschicht, liegt die Rate bei 30. Die Differenz besagt genug. Die Kölner Verwaltung - wer immer daran beteilgt war, müsste bekannt gemacht werden für eine Auszeichnung - fand eine kluge und großzügige Lösung, die die Tür weit öffnet und die Kränkung der Unterwerfung unter die Kontrolle einer Macht-bewussten Bürokratie vermeidet. Das ist ein staatlicher Akt realer Inklusion. Die Kölner Verwaltung plant, den Impf-Bus in andere Vororte zu schicken. Das müsste in der ganzen Republik möglich sein.


Nachtrag am 17.6.2021: Die Freude währte. Das Impf-Projekt musste abgebrochen werden: Köln wurden zusätzliche Impfdosen nicht zugestanden. Welcher Verwaltungsprozess wohl dafür verantwortlich war: wäre gut zu wissen.