Dienstag, 17. Januar 2023

Schwindeln mit einem schönen Fremdwort - Journalismus-Lektüre 104: Die "Kernkraft-Renaissance"

"Kernkraft-Renaissance" überschrieb Morton Freidel seinen Text in der Frankfurter Sonntagszeitung am 15.1.2023, S. 8. Renaissance klingt gut: Bewährtes kommt wieder. Renaissance bedeutet im öffentlichen Kontext: Es geht  nicht ohne sie.  Renaissance ist die süße Vokabel der Beglaubigung einer guten Sache. So macht man Stimmung für eine alte, höchst umstrittene, megalomane Geschichte. Morton Freidel lässt die Katze - die Atomkraft - aus dem Sack:  Er schwindelt mit der Wortbedeutung ihrer Renaissance. Sie  war nie abwesend, sondern blieb  anwesend im öffentlichen Kontext - mal deutlich, mal undeutlich, als Text und als Subtext für den Fall des Notfalls. Merkels Energiewende war ein abruptes Lenkmanöver der Beschwichtigung im Wahlkampf 2011 im Dienste der CDU in Baden-Würtemberg. Mehr sollte sie nicht sein. 

Was sich daran ablesen lässt, dass wenig passierte. Die Wende blieb das Verdeckwort für das Desinteresse an einer Wende. Man kann auch mit den Aussprechen einer Sache schummeln.  Die ehemalige Kanzlerin bemühte sich nicht um einen öffentlichen Konsens der Zustimmung zur Wende; sie klärte den ambivalenten Subtext nicht; das Wahlkampf-Manöver blieb das Wahlkampf-Manöver. Die Realisierung der Transformation zog sich hin; es gab anderes zu tun; die Dringlichkeit, die Erderwärmung zu verlangsamen, wurde als Wiedervorlage in der Öffentlichkeit abgelegt - für den Fall eines sich formierenden öffentlichen Interesses. Die Kanzlerin spielte auf Zeit. Sie hielt das Unentschieden. War doch prima. Die Absicht der Transformation wurde hochgehalten wie ein guter Vorsatz, den man hinausposaunt, aber vor sich herschiebt. Wir kennen das mit den guten Vorsätzen: sie dienen der Selbstberuhigung. Gehandelt wird, wenn überhaupt, viel später. 

Jetzt ist es 12.05 Uhr. Jetzt muss gehandelt werden. Der Einfachheit halber halten wir uns am besten an das, was wir haben: die vermeintlich einfachste Lösung. Lassen wir doch die Atomkraftwerke, die laufen, weiterlaufen. Was soll's? Wir lassen alles beim alten. Augen zu und durch.

Morton Freidel schreibt: "Es ging den Atomkraftgegnern noch um etwas anderes, um einen symbolischen Sieg". Schwindel Nummer Zwei. Nein, es ging und es geht um eine Veränderung unserer Lebensformen - Leben in einem menschlichen Maß. Und damit um eine andere Realität der Stromgewinnung: keine hochkomplexe, hoch gefährliche und hoch zerstörerische Stromerzeugung als Spitzenleistung unserer Hybris, die wir mit den Konzepten des Wachstums uns kleinreden, sondern eine überschaubare, vergleichsweise einfache und nicht so sehr schädliche Lösung. Die künftigen Naturkatastrophen werden uns sehr beschäftigen; da werden wir froh sein, wenn wir uns um die heißen Meiler, die dann nicht mehr richtig gekühlt werden können, nicht kümmern müssen.

     

Freitag, 13. Januar 2023

Bliersbachs Einsprüche - der Autor ist zurück und fädelt sich ein im "Winter of my discontent"

The winter of my discontent ist die von William Shakespeare gelungene Wort-Schöpfung (für Richard III) einer mühsam in Schach gehaltenen Verzweiflung. Jetzt, Anfang 2023, ist es stürmisch & naß; der Winter ist nicht winterlich und tut nicht, was er soll. Der Rückzug in die warmen eigenen vier Wände wäre das Richtige. Aber das kann sich die Mehrheit der Leute in einer Gesellschaft nicht leisten: wir müssen raus, um unsere Leben zu bestreiten. Wir sitzen, ohne es zu sehen, im Freien. Lützerath, dieses von seinen Bewohnern verlassene, von der Öffentlichkeit belagerte, rheinische Dorf, ist das Bild für unsere republikanische Existenz: die Verzweiflung der Hilflosigkeit bahnt sich ihren Weg ins Nirgendwo. Draußen ist es unwirtlich; drinnen ist es unheimlich, ob die eigenen vier Wände uns genügend schützen & wärmen. In der Ukraine leben die Leute vorwiegend draußen - leidlich oder gar nicht geschützt vor den ständigen Bombardierungen, mit denen die mächtige, aber konfuse, hilflos drohende russische Regierung ihrer Grausamkeit folgt. Unsere Regierung tut sich schwer, dem Morden mit großzügigen Lieferungen funktionierender Waffensysteme entgegen zu treten.    

Wir schlittern durch die Gegenwart. Angela Merkel kam neulich (am 8.12.2022) mit der Aussage (in der ZEIT) ein weiteres Mal durch: "Auch wir hätten schneller auf die Aggressivität Russlands reagieren müssen". Sie machte es sich einfach. Sie gab, wie so oft, unvollständig Auskunft über das, was sie liegen ließ. Jetzt ächzt die gegenwärtige Regierung unter der enormen Last des Realitätsgeschäfts - die Frage ihrer Wiederwahl steht buchstäblich in den Sternen. Zur Schadenfreude besteht kein Anlass. Sie ist nicht zu beneiden. Ich hoffe, sie hält durch.