Mittwoch, 26. November 2014

Günther Jauch am 23.11.2014

Am 23.11.2014 gab es in der Sendung Günther Jauch ein Gespräch. Das Thema war das am vorigen Sonntag dort ausgestrahlte Interview mit Wladimir Wladimirowitsch Putin, dem Präsidenten der russischen Förderation. Die Frage war, von Günther Jauch auf diese Alternative gebracht: Sollen wir  - wobei unklar war, wer damit adressiert war - nachgeben oder härter mit ihm umgehen? So gestellt, wiederholte die Frage die bekannte Rhetorik (alter) deutscher Pädagogik: Nachgeben ist schlecht -  denn dann lernt das Kind nicht zurückzustecken und wird verwöhnt; härter ist besser - denn wer nicht hören will, muss fühlen. Dieses Konzept seltsamer Erziehung bekannter alter Zeiten, als die Kinder noch zäh wie Leder und flink wie Windhunde sein sollten, wurde also eingeführt und stand zur Debatte als politisches Konzept. Zum Glück übernahmen  die Teilnehmer es nicht so einfach. Gabriele Krone Schmalz erinnerte an die langjährige Exklusion des russischen Politikers, Matthias Platzeck favorisierte den Versuch der Inklusion; sie unternahmen Verständnisversuche zur möglichen Genese des jetzigen Konflikts. Alexander Graf Lambsdorff wollte die Verletzung des Völkerrechts nicht durchgehen lassen. Wolf Biermann kommunizierte seinen Spott und seine Verachtung.

Zwei Kontexte fielen mir auf. 1. Die Frage einer gemeinsam geteilten und getragenen politischen Konzeption diplomatischer Beziehungen. Sie gibt es nicht. Diplomatische Beziehungen lassen sich nicht wie alltägliche Beziehungen verstehen und gestalten, insistierte Gabriele Krone-Schmalz. Wie dann? Es dominiert die politisch verstandene, politisch realisierte symmetrische Interaktion: wie du mir, so ich dir. Wladimir Putin wurde den Beschämungen politischer und wirtschaftlicher Exklusion ausgesetzt. 2. Verachtung und Beschämung waren auch in der ARD-Woche der Werbung für Toleranz kommunikative Münzen. Wolf Biermann, der in seinem interaktiven Angebot von seinem Nicht-Wissen sprach, ließ seiner Verachtung freien Lauf, als er den russischen Präsidenten der Unfähigkeit zieh, anders als der deutsch-österreichische Politiker Hitler noch nicht einmal fähig zu sein, Autobahnen bauen zu lassen. Das war eine Art öffentlicher kommunikativer Inkontinenz, die Günther Jauch taktvoll  wegmoderierte.

Wissenschaftsjournalismus IV

Gestern, am 25.11.2014, auf der Wissensseite der SZ (S.16, Nr. 271) : "Ein Gen, sich zu binden. Erbanlagen beeinflussen die Beziehungsfähigkeit", lauten die Titel des Textes. Die genetische Ausstattung von 579 Studentinnen und Studenten wurde in einer chinesischen Studie nach dem Gen durchgesehen, "das die Wirkung des Neurobotenstoffs Serotonin im Körper beeinflusst. Eine Veränderung dieses Gens an nur einer Stelle in der Abfolge der Erbgutbausteine scheint bereits einen Einfluss auf das Bindungsverhalten der untersuchten Studenten zu haben. Befindet sich an dieser Stelle der Baustein Cytosin, lag die Wahrscheinlichkeit, dass die untersuchte Studentin oder der Student in einer glücklichen Paarbeziehung lebte, bei 50 Prozent. Steht stattdessen jedoch ein Guanin an dieser Stelle, lagen die Chancen für eine Partnerschaft nur bei 40 Prozent".

Kommentar: "Ein auf den ersten Blick kleiner, aber durch die verschiedenen statistischen Tests der Wissenschaftler zuverlässig belegter Effekt".

Ja, was haben wir da? Einen kleinen, aber zuverlässig belegten Effekt für einen komplexen Zusammenhang. Ich wüsste gern, wie man die Beziehungsfähigkeit von jungen Leuten, die mit ihren Beziehungen noch experimentieren, auf eine Variable reduzieren kann, die sich dann korrelieren lässt mit den punktuellen Ereignissen der Existenz von Cytosin oder Guanin.  Wir haben einen blinden Wissenschaftsjournalismus, den man sich ersparen kann.

Freitag, 21. November 2014

Lachen über den Politiker Adolf Hitler

Hilmar Klute berichtet heute in der SZ (Nr. 268, 21.11.2014, S. 11) über die Tagung am Münchener Institut für Zeitgeschichte zu der Frage, ob man, wie er schreibt, "über Hitler lachen" darf. Natürlich darf man das. Wenn der Text, der das Lachen veranlassen soll, die nationalsozialistische Monstrosität gekonnt verfremdet. Das ist im Fall des nationalsozialistischen Politikers äußerst schwierig. Selbst war er wohl, wie auf der Tagung zu erfahren war, humorlos. Das hat Ernst Lubitsch in "Sein oder Nichtsein" elegant karikiert; da konnte ich lachen. Charlie Chaplins "Der große Diktator" ist eine dröge, ziemlich verunglückte Veranstaltung des Auslachens. Quentin Tarantinos grell aufgetragene Schminke enthüllte die bösartige Fratze des Führers - kein Vergnügen. Kann ein "Witz als Waffe" wirken, wie Hilmar Klute seinen Text titelt? Natürlich nicht. Die messianische Mission eines humorlosen Menschen mit einem Witz anzugehen macht ihn möglicherweise noch humorloser und rabiater. Zudem dient der Witz, wie wir von Sigmund Freud  erfahren haben, vor allem der Psychohygiene dessen, der oder die ihn erfindet und kommuniziert. Der Witz als Waffe überschätzt seine Wirksamkeit und fantasiert die geräuschlose Vernichtung und pflegt im nationalsozialistischen Kontext die Illusion, die Beseitigung des Anführers würde eine kriminelle Gang zerstören. Die kriminellen nationalsozialistischen Cliquen hätten viele Fußballstadien gefüllt. Die von unserer Bundeskanzlerin (am 2.5.2011) begrüßte Exekution von Osama bin Laden hat die Evolution des Mordens nicht gestoppt. Deshalb gehören zum kriminellen Führer die ihn in diesem Status haltenden Strukturen und Beziehungsgefüge des gesamten Systems (s. meinen Blog Rache ist sauer vom 9.5.2011).

"Nun ist Hitler", schreibt Hilmar Klute, "seit bald siebzig Jahren tot und stolpert immer noch knödelnd und kreischend durch unsere Witzwelten. Warum eigentlich, oder besser gefragt: wozu? ... Es gibt den brennenden Wunsch vieler deutscher Humorarbeiter, Adolf Hitler in seiner angeblichen Banalität zu zeigen, und da möchte man zumindest nachfragen, ob ein Mann, der sechs Millionen Juden ermordet hat und zumindest darangegangen war, die Welt anzuzünden, wirklich mit dem Begriff der Banalität abzufertigen sei". Der letzte Satz pflegt die Verdrehung und die Dämonisierung. Die mörderische nationalsozialistische Orgie wurde von vielen Henkern beauftragt, organisiert und betrieben. Das System des Mordens und seine Mitglieder werden so ausgeblendet. Und die Rede von der Banalität ist der repetierte Vorwurf an Hannah Arendt, sie hätte die mörderische Grausamkeit eines der  nationalsozialistischen  Henker missverstanden. Hannah Arendt beschrieb die erschreckend krude Gefühllosigkeit von Adolf Eichmann - sie nannte sie seine "Unfähigkeit zu denken", was wir heute übersetzen können (ihr Text wurde im Frühjahr1963 publiziert) mit: einer Unfähigkeit sich einzufühlen und was seine, wenn wir das Wort in seinem alten Sinne verstehen, ungeheure menschliche Gewöhnlichkeit auszumachen scheint. Dass das Lachen über den nationalsozialistischen Regierungschef nicht gelingt, zeigt an: die Akteure der nationalsozialistischen Verbrechen erschrecken und lähmen; sie sind noch nicht verstanden. Die Henker werfen noch riesige Schatten.

Mittwoch, 19. November 2014

Bundesdeutsche Regierungsakrobatik V: der Müll, der Müll! Wohin mit dem Müll?

Es geht um den Müll der Atom-Wirtschaft. "Sorgen in Salzgitter", titelte die SZ heute auf ihrer sechsten Seite (19.11.2014, Nr. 266): "Die Bundesregierung muss weit mehr entsorgen als bisher gedacht. Die Bundesregierung schließt nicht aus, den Schacht Konrad dafür zu erweitern. Es gäbe aber auch noch einen viel komplizierteren Weg". Das ist doch eine Nachricht: die Bundesregierung muss mehr entsorgen als bisher gedacht. Das ist erstaunlich. Das sollen wir glauben? In den 70er Jahren nahm die Atom-Wirtschaft ihren Betrieb auf. Damals verglich jemand den Beginn mit dem Start eines Flugzeugs,
für das erst eine Landebahn planiert werden muss. Seitdem sind gut vier Dekaden vergangen. Und beim Atom-Müll hat man sich verrechnet? Auch das ist schwer zu glauben. Ich hatte immer gedacht, man wüsste ziemlich genau, was anfällt. Wahrscheinlich weiß man das auch. Bis aufs Gramm. Aber die Regierungen hangeln sich von Wahl zu Wahl, vom Vertagen zum Vertagen zum Verschieben. Wer jemals in einer Organisation oder Behörde arbeitete, weiß, wie unangenehme Entscheidungen nicht getroffen werden. Die Bundesregierung ist in der Verantwortung; deren Chef ist die Kanzlerin.

Internet-Sorgen

Heute, im Feuilleton der SZ (19.11.2014, S. 11, Nr. 266), sorgt sich Alexandra Borchardt um die Wirkungen des Internets. "Keine Frage der Macht. Funktioniert eine Demokratie ohne Institutionen?", fragt sie im Titel ihres Textes. Sie beschreibt unsere Lebensverhältnisse:

"Der Marsch durch die Institutionen war gestern, heute reicht der Sprint durch die sozialen Netzwerke. Politiker spüren das, Manager, Ärzte oder Behörden, deren Erkenntnisse und Leistungen ständig im Netz infrage gestellt werden: Formale Autorität zählt weniger als je zuvor. Die digitale Welt stürzt Institutionen in die Krise".

Dieser Blog hier ist natürlich auch eine subversive Angelegenheit und stürzt (wahrscheinlich nicht) die Süddeutsche Zeitung in die Krise (s. auch den anderen Blog von heute). Mir fällt wieder meine Großmutter ein: ihre stärkstes Argument, um eine Behauptung durchzusetzen, war die Drohung, tot umzufallen, sollte sie falsch liegen. Ich brauchte als Kind Jahre, ihren Bluff zu durchschauen. Diese Autorität plusterte sich also in ihrer Not mächtig auf. Dann wurden in unserer eigenen Familie (mit zwei Söhnen, einer Tochter) bei Streitigkeiten die Bände des Meyers Enzyklopädisches Lexikon aus dem Wohnzimmer geholt mit den deprimierenden Erfahrungen des Vaters, der feststellen musste, dass sein Wissen, anders als die selbstironische englische Formel besagt, auf eine Briefmarke passt: was weiß man schon genau?
Heute ist das iPhone blitzartig bei der Hand. Ist das schlecht?

Nein. Das Nicht-Wissen ist heute enorm. Von Niklas Luhmann stammt die Beobachtung, dass Wissenschaft das Wissen und das Nicht-Wissen gleichermaßen vergrößere.  Der Bürger, der Patient, der Angestellte, der Student und der Schüler werden hier und da (oder mehr - wer weiß das?)  eingelullt von einer Rhetorik des Durchmogelns. Wo wissen wir wirklich Bescheid? Etwas nicht zu wissen, wird ungern zugegeben. Dabei geht es doch darum, dass wir uns trauen redlich zu sein. Eltern müssen nicht besonders schlau sein - es gibt ja das Internet - , sondern redlich und ihre Kinder fair behandeln. Im Internet geht heute nichts verloren. Man kann überprüfen, was getan und was gesagt wurde. Man kann seine Meinung sagen. Das Gefühl von Ohnmacht mildert sich - ein wenig. Unsere demokratischen Institute werden davon nicht bedroht: sie geben uns den Rahmen für unsere Bewegungen. Bedroht werden die Repräsentanten von politischer, ökonomischer, künstlerischer, medialer und  wissenschaftlicher Macht, die vor allem das Geschäft ihrer Macht im Blick haben. Das demokratische Ideal wacher, lebendiger und gut informierter Bürgerinnen und Bürger wird hier und da eingelöst. Soll das schlecht sein? Was soll ich von einer Zeitung halten, in der sich eine Autorin fürchtet wie meine Großmutter früher, was sie uns mit diesen Sätzen mitteilte: was sollen bloß die Leute denken? Bloß keine Blöße geben!

Aufpeppen

Am 13.11.2014 war in der Abteilung Wissen der SZ ein kleiner Text zu lesen (S. 18, Nr. 261):
"Ampel-Effekt. Bilingualität trainiert das Gehirn", teilten die beiden Überschriften mit. Der erste Satz:
"Wer als bilingualer Mensch fließend zwei Sprachen spricht, kann Informationen besser verarbeiten als Menschen, die nur eine Sprache beherrschen".

Der Text bezieht sich auf die Studie von Jennifer Krizman, Erika Koe, Viorica Marian und Nina Kraus aus Evanston, Illinois: "Biligualism increases neural response consistence and cognitive coupling", was sich übersetzen lässt mit: Zweisprachigkeit verstärkt die Dichte der neuronalen Antwort und der kognitiven Verkopplung. Die Dichte der neuronalen Antwort ist  der Befund der Gehirn-Aktivität, die bei den in Englisch und Spanisch versierten Versuchspersonen (16 Studentinnen und 11 Studenten) offenbar erhöht war. Wer mit zwei Bällen jongliert, so mein Bild für die abgeleitete Logik der Autorinnen,  muss mehr aufpassen als der, der einen Ball in die Luft wirft. Klar doch. Gilt das auch für Zweisprachigkeit? Ist das ein Jonglieren? Was lässt sich noch ableiten? Die Dichte gibt wenig Auskunft. Man müsste sich über die Zweisprachigkeit verständigen. Die Autorinnen vermuten, dass bei einer Zweisprachigkeit die eine Sprache gesprochen, die andere unterdrückt wird. Ist das so? Geht man nicht beim Sprechen in der einen Sprache auf, während die andere verschwindet? Dolmetscher können die sprachlichen Bewegungen schnell wechseln, aber können das Alltags-Zweisprachler auch? Zweisprachigkeit macht beweglich, sagt die Alltagserfahrung. Aber wie weit reicht die Beweglichkeit? Fragen, die im Text nicht diskutiert werden. Auf keinen Fall kann man den Befund verallgemeinern zu: wer zwei Sprachen spricht, kann Informationen besser verarbeiten. Ich frage mich: welche Politik verfolgt diese Form von Journalismus?
 

Montag, 17. November 2014

Wann ist genug genug?

Am vergangenen Freitag (14.11.2014) spielte unsere Fußball-Nationalmannschaft in Nürnberg gegen die Mannschaft von Gibraltar. Sie gewann 4:0. Nach dem Schlußpfiff waren die Reaktionen erstaunlich: die Zuschauer pfiffen, die TV-Kommentare waren nicht zufrieden (einigermaßen milde Enttäuschung des RTL-Mannes; Jens Lehmann hatte Verständnis), der Bundestrainer war nicht zufrieden (schwere Enttäuschung), die veröffentlichte Meinung hier und da auch. Gemaule und Genörgel allerorten. Gegen diesen dritt-, viert- oder fünftklassigen Gegner (die Einschätzungen schwankten) wäre mehr drin gewesen. Warum hätte der Gegner demontiert (gedemütigt) werden sollen? War das 7: 1 gegen Brasilien nicht genug? Fußball-Liebhaber erinnern sich: Bundesdeutsche Qualifikationsspiele für große Turniere waren schon immer ein Gewürge; mit Ach und Krach kamen unsere Mannschaften weiter. Ausnahme: die letzte Qualifikationsrunde für Brasilien. Fußball-Liebhaber wissen auch: gegen schwächere Mannschaften haben gute Spieler eine Hemmung. Sie wissen zudem: Fußballer sind keine Maschinen; fußballerische Feuerwerke sind selten. Sie können sich erinnern: nach der gewonnen Fußball-Weltmeisterschaft 1954 brauchten die westdeutschen Kicker drei Turniere, um sich von ihrem Sieg zu erholen und wieder gut auszusehen (das war 1966 in England). Fußball-Liebhaber wissen auch: eine neue Mannschaft muss sich finden; der Preis für die enorme Anstrengung in diesem Jahr sind die vielen verletzten Spieler; bis die Mannschaft wieder spielt, vergeht Zeit. Gegen Gibraltar spielten sie nicht; sie waren vorsichtig. Möglicherweise lähmten die riesigen Erwartungen.

Aber, muss man fragen: Wieso ist der sportliche Kredit unserer Kicker so klein? Welche Unzufriedenheit hat sich mit dieser Fußball-Enttäuschung vermischt? Erste Vermutung: der Triumph in Brasilien war nicht triumphal genug. Das 7: 1 gegen Brasilien im Endspiel wäre richtig gewesen. Das 1:0 gegen Argentinien war ganz schön knapp. Zweite Vermutung: die weltpolitischen Turniere sind unglaublich schwierig geworden; unsere Regierungs-Mannschaft spielt zu viel Unentschieden.

Samstag, 8. November 2014

"We remember you said that" II

Howard Winchester Hawks' Western Rio Bravo (U.S.A. 1959) brachte mir die demokratischen basics bei - gute Western sind richtige Lehrstücke. Rio Bravo  ist (u.a.) ein Anti-Korruptions-Film. Als John T. Chance (John Wayne) und Dude (Dean Martin) den Mörder in einer Kneipe suchen, sagt einer der ihn schützenden Burschen: Hier ist niemand reingelaufen. John T. Chance antwortet: We remember you said that (s. meinen Blog vom 24.11.2010). Am 1.9.2013 sagte unsere Bundeskanzlerin zu dem Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück in der TV-Sendung (auf You Tube lässt es sich überprüfen): "Mit mir wird es eine PKW-Maut nicht geben".

Unsere Tochter half mir mit ihrem guten Gedächtnis auf die Sprünge. Ist mein Gedächtnis nun schlecht oder habe ich mich einlullen lassen?  Dass der Maut-Stuss es bis zur Gesetzesvorlage schaffte, ist erstaunlich. Wieso hat sich Angela Merkel nicht an ihr Wort gehalten? Mit anderen Worten: was läuft im Kanzleramt und in der Regierung? Demokratie lebt noch immer von der Wahrheit des Wortes. Wie steht es um dieses Ideal?

Der gerade gewählte Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Junker war nicht - so war doch das landläufige Gerücht - der Kandidat unserer Kanzlerin gewesen. Womöglich, kann man jetzt, nach der Veröffentlichung der luxemburgischen Verfilzung, die immer dementiert wurde, vermuten, wusste sie um den Schlamassel des damaligen Kandidaten. Jetzt muss man sich gewaltig die Augen reiben. Warum hat unsere Kanzlerin geschwiegen?

Schließlich, der Titel der SZ vom 7.11.2014: "Zehn Milliarden gegen den Abschwung. Finanzminister Schäuble vollzieht eine überraschende Wende. Mit einem Investitionsprogramm will er den Konjunkturpessimismus vertreiben. Das Geld soll auch Brücken und Straßen zugutekommen". Die Steuerschätzung für die nächsten Jahre fiel ungünstig aus: das ist der explizite Kontext. Eine überraschende Wende - titelte die Süddeutsche. Ja, warum jetzt? Ein Investitionsprogramm wird schon lange diskutiert. Warum jetzt? Jetzt, vermute ich, ähnlich wie damals, als die so genannte Energiewende ausgerufen wurde, dient der versprochene Betrag an Investitionen der Beruhigung: die Maut ist nicht das einzig relevante Projekt; die Regierung besinnt sich auf eine aktuelle Not. Die implizite Botschaft lautet: Wir tun etwas. Beruhigung nach innen und nach außen.

Donnerstag, 6. November 2014

Zeitungslektüre

Die Meinungsfreiheit zählt zu unseren Grundrechten. Artikel 5 unseres Grundgesetzes bestimmt: "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt". Das sind drei klare, noble Sätze. Die dazu gehörenden Wirklichkeiten sind kompliziert. Der Suchprozess,  wie das Gesetz sagt, "sich ungehindert zu unterrichten", ist begrenzt durch die Medien, über die man verfügt und die man benutzt. Die Medien unterscheiden sich in ihrer Qualität, den Blick auf unsere Lebenswirklichkeiten zu erweitern oder zu verengen. Eine Tageszeitung offeriert jeden Morgen einen bunten Strauß von Berichten, Sichtweisen, Vermutungen und Deutungen, organisiert von einer eigenen (Publikations-) Politik und einer impliziten Haltung; was sie nicht offeriert: ihre Quellen, Konzepte, Konflikte (innerhalb einer Redaktion beispielsweise) und ihre eigene Politik auf dem Markt der Medien, wozu ja nicht nur die gedruckten Ausgaben, sondern die audiovisuellen und die digitalen Medien gehören.  Der Journalist, der das Ressort Politik führt (wie auch immer), perpetuiert seine Auffassung in einer Fernseh-Rederunde, etabliert und wirbt gleichzeitig für sich, seine Zeitung und Abonnenten. Es ist verworren.

Vier Beispiele aus der heutigen Ausgabe der SZ (6.11.2014, Nr. 255) zum Problem publizistischer Intransparenz.

1. Kommentar von Hubert Wetzel Obamas Erbe (S. 4). Die leitende Frage ist: was wird aus der zweiten Hälfte seiner zweiten Präsidentschaft? Dazu charakterisiert Hubert Wetzel die Qualität des Regierungschefs: "Nach sechs Jahren im Amt umgibt eine gewisse Tragik Barack Obama. Als sei seine ganze Präsidentschaft ein großes Missverständnis". Missverständnis? "Der visionäre Redner hat sich als mittelmäßiger Politiker und oft regelrecht schlampiger Regierungschef entpuppt". Schwach ausreichend: setzen! "Der Präsident interessiert sich nicht für das mühsame Handwerk", schreibt er, "das nötig ist, um in Washington Politik zu machen, statt sie nur anzukündigen. Er sei, ätzte einmal ein Kolumnist, wie ein Arzt, der kein Blut sehen kann, tauglich für Vorlesungen, nicht für Operationen". Forsches Gerede, kann ich da nur sagen. Woher weiß Hubert Wetzel das? Ich vermute, er hat Barack Obama keine fünf Minuten in einer Diskussion in seinem Oval Office (wo auch immer) gesehen. Er hat seine Einschätzung aus zweiter oder dritter oder vierter Hand. Aus welcher? Wie hat er sie überprüft? Was sind seine eigenen Konzepte? Die projektive Verachtung, die der Text pflegt, liegt so nahe. Als könnte man darüber urteilen, ohne die Beziehungswirklichkeiten zu kennen. Eine Auskunft über Quellen gibt es im Text nicht. Natürlich auch keine Auskunft über die Konzeptionen der Leute, die die  Quellen bilden. Erstaunlich ist das einfache personalisierte Bild - als wäre der U.S.-Präsident der Chef einer Firma mit drei Angestellten. Hubert Wetzel hält dem Präsidenten zugute: dass er der erste schwarze Regierungschef ist und dass ihm die Einführung der Krankenversicherung gelang. Dass er ein gewaltiges Ressentiment auszuhalten hat, wird nicht angedeutet - als wäre dessen vermutlich mächtige, projektive Wucht eine quantité négligable und hätte keinen Einfluss auf die Arbeit des Regierungschefs. Ich frage mich, wie man darunter einen klaren Gedanken fassen kann. Ich frage mich, welche Realität der politischen Bewegungsmöglichkeiten damit verbunden ist.

2. Die Karikatur von Wolfgang Horsch (S.4): der U.S. Präsident wandelt sich in vier Bildern zu einem Enterich, der mit seinem Birnen-förmigen Körper auf den Schnabel fällt. Die Birne war eine beliebte Metapher des Missverständnisses bundesdeutscher politischer Prozesse. Wir haben eine deutsche Illustration zu der amerikanischen Formel von der lame duck vor uns. Die Lektüre der Dagobert Duck-Geschichten schützt einen nicht vor Missverständnissen. Die lahme Ente ist keine so gute Übersetzung der lame duck. A lame duck - ist ein flacher Stein, der über die Wasseroberfläche so geworden wird, dass er mehrmals abhebt: sagt das Dictionary of American Regional English. Aber vor allem veranstaltet eine lame duck:  ducks and drakes mit seinen Lebensumständen, indem er sie überzieht, missbraucht oder sich einen Teufel drum schert - insofern ist die Ente gar nicht lahm, sondern verbohrt, stur und nachlässig. Das ist natürlich ein anderer Vorwurf als das Stolpern und Hinschlagen einer aus den Fugen geratenen Körperlichkeit. Was witzig aussieht, ist noch längst nicht witzig.

3. Der einsame Herr Draghi : ist der Text von Claus Hulverscheidt und Markus Zydra getitelt (S. 17). Der Präsident der Europäischen Zentralbank entscheidet im Alleingang: ist der Tenor. "Er ist kein Gruppenmensch, der Spaß an langen Debatten im großen Kreis hätte", sagt einer, der den EBZ-Chef gut kennt. Kennt der, der den EBZ-Chef kennt, sich in Gruppen aus? Was macht man in einer Gruppe von zwei Dutzend Leuten? Wie sieht die Gruppe aus? Es ist ähnlich wie bei dem U.S.Präsidenten: unterschätzt wird die Dynamik des oder der Beziehungsgefüge. Was und wie die Beratungsprozesse laufen und wie die dazu gehörigen Beziehungen aussehen, erfahren wir nicht. Politik ist das Geschäft eines Mannes. Hatten wir das nicht schon? Und ist diese Konzeptions-lose Konzeption die Nachfolge-Idee der Max Weberschen Idee des charismatischen Führers? Der Führer spukt weiterhin durch unsere Gegend. Ohne ihn geht es nicht. Ohne ihn lassen sich politische Prozesse offenbar schlecht erzählen. Folgt in dem Text noch ein Häppchen Klatsch: dass Mario Draghi Interesse am Amt des italienischen Staatspräsidenten hat. Ob es stimmt, ist unklar; es kursiert, sagt der Autor, das Gerücht.

4. Und jetzt kommt der Führer einer Elektrolok. Eine Lanze für die Lokführer überschreibt Marc Beise seinen Kommentar (S.17) zum Streik der Lokführer. Endlich wird eine Gegenposition bezogen zu dem  Konsensus der öffentlichen Diskussion über den Gewerkschaftsführer Claus Weselky, dass hier ein Mann sein Süppchen zu kochen versucht ohne Rücksicht auf die damit verbundenen Komplikationen. Schon wieder ein Einzelgänger. Wo sind und wer sind seine Gewerkschaftskollegen? Sind wir in einem Western? Marc Beise erinnert an das Recht zu streiken. Bravo! Aber der Streik wird auch von ihm aus der Perspektive des einzigen Mannes gesehen: "Es ist die große Tragik des aktuellen Lokführerstreiks, dass dieser in seiner (kursiv von mir) Maßlosigkeit solche Überlegungen diskreditiert. Indem sie die Freiheit, die sie haben, missbrauchen, arbeiten die Lokführer den Gegnern ihrer Freiheit in die Hände. Schon blöd".

Dieses Mal: ein Mangelhaft. 1884, gibt der Große Meyer an, wurde das englische strike eingedeutscht zum Streik. To strike ist ein Verbum, das mehr oder weniger heftige Reaktionen auslöst. Margaret Thatcher machte das Ressentiment auf die Gewerkschaften (vor allem der entschlossenen Bergarbeiter um Arthur Scargill aus Yorkshire) zu ihrer Politik. Das ist England nicht so gut bekommen. Arbeitskämpfe adeln eine Demokratie. Was ist übrigens mit der Gegenposition - mit dem Chef der DB Martin Weber? Welche Politik verfolgen er und seine Beraterinnen und Berater? Wieso kommen die DB-Leute ihren Leuten nicht entgegen?

Nachtrag am 10.11.2014.
Im Text von Detlef Esslinger (SZ vom 8./9.11.2014, S. 3, Nr. 257) Stillgestanden! Es heißt, Claus Weselsky sei nicht in der Lage, sich zu verstellen. Das hört sich gut an. Aber es ist sein Problem - werden die Zugbegleiter genannt, die "alleine keine Streikmacht hätten und deshalb die Solidarität der Lokführer brauchten". Sieh an. Auch sie, lässt sich dem Text entnehmen, werden dem Prozess der
ausbeuterischen Verdichtung der Erwartung von Gewinnen wegen unterworfen. Menschen werden verschlissen. Und sie sollten das nicht sagen dürfen?


(Überarbeitung: 23.3.2016)