Donnerstag, 6. November 2014

Zeitungslektüre

Die Meinungsfreiheit zählt zu unseren Grundrechten. Artikel 5 unseres Grundgesetzes bestimmt: "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt". Das sind drei klare, noble Sätze. Die dazu gehörenden Wirklichkeiten sind kompliziert. Der Suchprozess,  wie das Gesetz sagt, "sich ungehindert zu unterrichten", ist begrenzt durch die Medien, über die man verfügt und die man benutzt. Die Medien unterscheiden sich in ihrer Qualität, den Blick auf unsere Lebenswirklichkeiten zu erweitern oder zu verengen. Eine Tageszeitung offeriert jeden Morgen einen bunten Strauß von Berichten, Sichtweisen, Vermutungen und Deutungen, organisiert von einer eigenen (Publikations-) Politik und einer impliziten Haltung; was sie nicht offeriert: ihre Quellen, Konzepte, Konflikte (innerhalb einer Redaktion beispielsweise) und ihre eigene Politik auf dem Markt der Medien, wozu ja nicht nur die gedruckten Ausgaben, sondern die audiovisuellen und die digitalen Medien gehören.  Der Journalist, der das Ressort Politik führt (wie auch immer), perpetuiert seine Auffassung in einer Fernseh-Rederunde, etabliert und wirbt gleichzeitig für sich, seine Zeitung und Abonnenten. Es ist verworren.

Vier Beispiele aus der heutigen Ausgabe der SZ (6.11.2014, Nr. 255) zum Problem publizistischer Intransparenz.

1. Kommentar von Hubert Wetzel Obamas Erbe (S. 4). Die leitende Frage ist: was wird aus der zweiten Hälfte seiner zweiten Präsidentschaft? Dazu charakterisiert Hubert Wetzel die Qualität des Regierungschefs: "Nach sechs Jahren im Amt umgibt eine gewisse Tragik Barack Obama. Als sei seine ganze Präsidentschaft ein großes Missverständnis". Missverständnis? "Der visionäre Redner hat sich als mittelmäßiger Politiker und oft regelrecht schlampiger Regierungschef entpuppt". Schwach ausreichend: setzen! "Der Präsident interessiert sich nicht für das mühsame Handwerk", schreibt er, "das nötig ist, um in Washington Politik zu machen, statt sie nur anzukündigen. Er sei, ätzte einmal ein Kolumnist, wie ein Arzt, der kein Blut sehen kann, tauglich für Vorlesungen, nicht für Operationen". Forsches Gerede, kann ich da nur sagen. Woher weiß Hubert Wetzel das? Ich vermute, er hat Barack Obama keine fünf Minuten in einer Diskussion in seinem Oval Office (wo auch immer) gesehen. Er hat seine Einschätzung aus zweiter oder dritter oder vierter Hand. Aus welcher? Wie hat er sie überprüft? Was sind seine eigenen Konzepte? Die projektive Verachtung, die der Text pflegt, liegt so nahe. Als könnte man darüber urteilen, ohne die Beziehungswirklichkeiten zu kennen. Eine Auskunft über Quellen gibt es im Text nicht. Natürlich auch keine Auskunft über die Konzeptionen der Leute, die die  Quellen bilden. Erstaunlich ist das einfache personalisierte Bild - als wäre der U.S.-Präsident der Chef einer Firma mit drei Angestellten. Hubert Wetzel hält dem Präsidenten zugute: dass er der erste schwarze Regierungschef ist und dass ihm die Einführung der Krankenversicherung gelang. Dass er ein gewaltiges Ressentiment auszuhalten hat, wird nicht angedeutet - als wäre dessen vermutlich mächtige, projektive Wucht eine quantité négligable und hätte keinen Einfluss auf die Arbeit des Regierungschefs. Ich frage mich, wie man darunter einen klaren Gedanken fassen kann. Ich frage mich, welche Realität der politischen Bewegungsmöglichkeiten damit verbunden ist.

2. Die Karikatur von Wolfgang Horsch (S.4): der U.S. Präsident wandelt sich in vier Bildern zu einem Enterich, der mit seinem Birnen-förmigen Körper auf den Schnabel fällt. Die Birne war eine beliebte Metapher des Missverständnisses bundesdeutscher politischer Prozesse. Wir haben eine deutsche Illustration zu der amerikanischen Formel von der lame duck vor uns. Die Lektüre der Dagobert Duck-Geschichten schützt einen nicht vor Missverständnissen. Die lahme Ente ist keine so gute Übersetzung der lame duck. A lame duck - ist ein flacher Stein, der über die Wasseroberfläche so geworden wird, dass er mehrmals abhebt: sagt das Dictionary of American Regional English. Aber vor allem veranstaltet eine lame duck:  ducks and drakes mit seinen Lebensumständen, indem er sie überzieht, missbraucht oder sich einen Teufel drum schert - insofern ist die Ente gar nicht lahm, sondern verbohrt, stur und nachlässig. Das ist natürlich ein anderer Vorwurf als das Stolpern und Hinschlagen einer aus den Fugen geratenen Körperlichkeit. Was witzig aussieht, ist noch längst nicht witzig.

3. Der einsame Herr Draghi : ist der Text von Claus Hulverscheidt und Markus Zydra getitelt (S. 17). Der Präsident der Europäischen Zentralbank entscheidet im Alleingang: ist der Tenor. "Er ist kein Gruppenmensch, der Spaß an langen Debatten im großen Kreis hätte", sagt einer, der den EBZ-Chef gut kennt. Kennt der, der den EBZ-Chef kennt, sich in Gruppen aus? Was macht man in einer Gruppe von zwei Dutzend Leuten? Wie sieht die Gruppe aus? Es ist ähnlich wie bei dem U.S.Präsidenten: unterschätzt wird die Dynamik des oder der Beziehungsgefüge. Was und wie die Beratungsprozesse laufen und wie die dazu gehörigen Beziehungen aussehen, erfahren wir nicht. Politik ist das Geschäft eines Mannes. Hatten wir das nicht schon? Und ist diese Konzeptions-lose Konzeption die Nachfolge-Idee der Max Weberschen Idee des charismatischen Führers? Der Führer spukt weiterhin durch unsere Gegend. Ohne ihn geht es nicht. Ohne ihn lassen sich politische Prozesse offenbar schlecht erzählen. Folgt in dem Text noch ein Häppchen Klatsch: dass Mario Draghi Interesse am Amt des italienischen Staatspräsidenten hat. Ob es stimmt, ist unklar; es kursiert, sagt der Autor, das Gerücht.

4. Und jetzt kommt der Führer einer Elektrolok. Eine Lanze für die Lokführer überschreibt Marc Beise seinen Kommentar (S.17) zum Streik der Lokführer. Endlich wird eine Gegenposition bezogen zu dem  Konsensus der öffentlichen Diskussion über den Gewerkschaftsführer Claus Weselky, dass hier ein Mann sein Süppchen zu kochen versucht ohne Rücksicht auf die damit verbundenen Komplikationen. Schon wieder ein Einzelgänger. Wo sind und wer sind seine Gewerkschaftskollegen? Sind wir in einem Western? Marc Beise erinnert an das Recht zu streiken. Bravo! Aber der Streik wird auch von ihm aus der Perspektive des einzigen Mannes gesehen: "Es ist die große Tragik des aktuellen Lokführerstreiks, dass dieser in seiner (kursiv von mir) Maßlosigkeit solche Überlegungen diskreditiert. Indem sie die Freiheit, die sie haben, missbrauchen, arbeiten die Lokführer den Gegnern ihrer Freiheit in die Hände. Schon blöd".

Dieses Mal: ein Mangelhaft. 1884, gibt der Große Meyer an, wurde das englische strike eingedeutscht zum Streik. To strike ist ein Verbum, das mehr oder weniger heftige Reaktionen auslöst. Margaret Thatcher machte das Ressentiment auf die Gewerkschaften (vor allem der entschlossenen Bergarbeiter um Arthur Scargill aus Yorkshire) zu ihrer Politik. Das ist England nicht so gut bekommen. Arbeitskämpfe adeln eine Demokratie. Was ist übrigens mit der Gegenposition - mit dem Chef der DB Martin Weber? Welche Politik verfolgen er und seine Beraterinnen und Berater? Wieso kommen die DB-Leute ihren Leuten nicht entgegen?

Nachtrag am 10.11.2014.
Im Text von Detlef Esslinger (SZ vom 8./9.11.2014, S. 3, Nr. 257) Stillgestanden! Es heißt, Claus Weselsky sei nicht in der Lage, sich zu verstellen. Das hört sich gut an. Aber es ist sein Problem - werden die Zugbegleiter genannt, die "alleine keine Streikmacht hätten und deshalb die Solidarität der Lokführer brauchten". Sieh an. Auch sie, lässt sich dem Text entnehmen, werden dem Prozess der
ausbeuterischen Verdichtung der Erwartung von Gewinnen wegen unterworfen. Menschen werden verschlissen. Und sie sollten das nicht sagen dürfen?


(Überarbeitung: 23.3.2016)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen