Donnerstag, 7. Dezember 2023

Was ist schlecht an einem "Nicht Ausreichend!" , das das Bundesverfassungsgericht unserer Regierung erteilte?

 Unsere parlamentarische Opposition, die Union, die 1969 das erste Mal ihren Regierungsstatus an die Sozial- und an die Freien Demokraten verlor, machte aus dem Einspruch der Karlsruher Richter zum Bundeshaushalt 2023 eine untragbar schlechte Zensur; ihr Anführer verrenkte sich bei seinem verbalen Aufschäumen fast den Hals - man musste sich um ihn sorgen. Was war so schlimm? Wir leben in einem Land, in dem nicht ausreichende Noten intolerabel sind. In der ersten Hälfte der Sexta erhielt ich in zwei Latein-Arbeiten zwei Ungenügend. Meine Eltern waren entsetzt; das waren sie von mir bislang nicht gewöhnt. Das waren nicht die einzigen schlechten Zensuren meiner Schul-Karriere. Meine Eltern mussten sich an aufregende Schulzeiten gewöhnen. In der Abiturprüfung versiebte ich drei Arbeiten, konnte mich aber in den mündlichen Prüfungen behaupten und die schlechten Zensuren kompensieren. Für das gymnasiale Turnier kam ich mit neun Jahren aus. Im Studium ging es dann - weniger dramatisch - gut.

Was sagt uns das Theater um die schlechte Schulnote für unsere Regierung? Heiße Luft. Und Heuchelei. Der Wunsch, die Regierung straucheln und stürzen zu sehen, dominiert - und wird notdürftig mit der Besorgnis um die schlechten Umfrage-Resultate kaschiert. Subtext: wann wird die Ampel demontiert? Heute jedenfalls nicht. Unsere Regierung ist zäh. Was würde wohl der Mann aus Brilon sagen, würde die Öffentlichkeit ihn so angehen? Schwer vorzustellen, wie die Mitglieder unserer Regierung und deren beratende Leute abends einschlafen können. Erbarmungslos werden sie gehetzt. PISA ist hinzugekommen. Die bundesdeutsche Gesellschaft ächzt unter den nationalen wie internationalen Aufgaben. Wie lange reichen die Kräfte? die Mittel? Wie hieß es noch, als die ehemalige Kanzlerin ihre Neujahrsansprachen hielt? Deutschland ist ein starkes Land. Das war eine zu gute Zensur  der Aufmunterung zur falschen Zeit. Schlechte Zensuren können dagegen anspornen.  Sie tragen dann zu einem Realismus bei und relativieren die Neigung zur Selbstüberschätzung. 

Nachtrag (8.12.2023)

Die Hoffnung auf einen politischen Realismus ist möglicherweise - treuherzig und blind. Heute  (8.12.2023) fragt der Leitartikel der ersten Seite der F.A.Z.  Kanzler Merz?; sein Autor Peter Carstens setzt auf Polit-Klatsch und auf eine personelle Rochade, nicht auf eine weithin geteilte Einsicht in die gewaltige, enorm drängende Aufgabe, die die Erderwärmung uns allen stellt. 

 


 

  

Sonntag, 26. November 2023

Markus Preiß kommentierte mutig den Ausgang der niederländischen Parlamentswahl in den Tagesthemen der A.R.D. am 23.11.2023 mit dem Blick auf die Bundesrepublik: Was können wir lernen?

Erstens. Die Aufgabe der Regierungsverantwortung, vermutet Markus Preiß, hat den Sieg von Geert Wilders ermöglicht. 

Zweitens. Sich zu fügen und nicht zu widersprechen, "kann dumm enden", so Markus Preiß. "Wer wie Viele in den Niederlanden Themen wie fehlende Bildung oder schlechte Wohnungen oder vielleicht sogar Zahnarzt-Termine mit dem Thema Migration verknüpft, darf sich nicht wundern, wenn dann der gewählt wird, der schon immer gegen Migration war".

Drittens, führten die Niederlande vor, "wie gefährlich die Arroganz der Macht werden kann", so Markus Preiß. "Bei unseren  Nachbarn", führte er aus, "wird der langjährige Regierungschef Rutte Teflon-Mark genannt - einer, der alles abschüttelt. Und unser Kanzler ist oft ähnlich gut beschichtet. Doch Bürger erwarten klare Antworten auf berechtigte Fragen. Olaf Scholz mag es gefallen, selbstgewiss lächelnd, irgendetwas zu antworten, das nicht das Geringste mit der Frage zu tun hat. Doch ich glaube: das richtet irgendwann Schaden an. Menschen spüren, wenn sie nicht ernst genommen werden - wenn man ihnen gar ausweicht. Vielleicht auch jetzt, wenn Millionen Deutsche wissen wollen, woher eigentlich das Geld kommt - und der Kanzler schweigt".

Der Kanzler, könnte man auch sagen, unterschätzt das Bedürfnis nach Wahrheit. Er gibt nur ungefähre Auskunft über die Zukunft unserer Lebensverhältnisse und verschweigt die ungeheure Dringlichkeit, unsere Lebensformen energisch zu revidieren und zu transformieren. Das Verschweigen der in der  Regierungsmannschaft unterschiedlich geteilten Auffassung der Dringlichkeit hilft nicht. Es reicht nicht,  die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Erläuterung der Notlage für den Zeitraum des einen Jahres, in dem der Bundeshaushalt konzipiert wird, unserer Republik zu beschreiben. Wir haben angesichts der gewaltigen Erderwärmung mit ihren zu erwartenden ungeheuren Katastrophen  und Kosten für die Weltbevölkerung eine Dauer-Notlage. Unser demokratisch legitimiertes und (für viele unserer Leute) nicht schlecht abgepuffertes Leben wird teuer und ungemütlich. Um diese Wahrheit geht es. Die Zeit des Beschwichtigens, des Abwartens und Taktierens ist abgelaufen. Wir haben auch keine Zeit mehr, Kriege zu führen. 

  

Donnerstag, 26. Oktober 2023

Die westdeutsche Rivalität und die ostdeutsche Dauerkränkung

Wie man's macht, ist's verkehrt - sagt die gekränkte (westdeutsche) Unschuld, die nicht weiß, was sie angerichtet hat. Weiß sie's wirklich nicht? Natürlich weiß sie das - sie muss sich nur erinnern. Wer weiß noch, wie's in den 50er Jahren zuging? Wie die ostdeutsche Republik adressiert wurde?  Wie über sie gespottet wurde? Nehmen wir das Beispiel von Friederike Haupt von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (vom 5.3.2023, S. 5; Nr. 9) mit ihrem Interview von Dirk Oschmann, dem Mann aus Leipzig mit dem Bestseller Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Friederike Haupt stellte ihm diese (dritte) Frage:

"Was ist den Deutschen aus dem Osten Ihrer Meinung nach angetan worden, das eine solche Empfindlichkeit rechtfertigt?"

Was für eine Frage der Gefühllosigkeit! Wann ist eine (solche) Empfindung gerechtfertigt?

Die Formel eine solche Empfindlichkeit kennen wir - sie gehört in das Repertoire des herablassenden und freundlich gemeinten, aber böswilligen Stubses: Komm, hab' dich nicht so. Stell dich nicht so an. Ist doch nicht so schlimm. Es ist die Formel der Verachtung.

Friederike Haupt erinnert offenbar die gängigen Töne der 50er Jahre nicht, die bei uns in der Bundesrepublik Deutschland kursierten. Es begann mit den Namen der beiden Republiken. Für die ostdeutsche Republik hatten wir nur das schwerfällige Akronym DDR übrig, wir hatten für uns das stolze Wort Bundesrepublik Deutschland. Wobei der erste Teil des Namens für uns in der Alltagskonversation die gängige Vokabel war; der komplette Namen war für die besonderen Gelegenheiten reserviert. Das ostdeutsche Akronym transportierte das Ungenügen, den Status-Unterschied mit den Läden der ostdeutschen Handels-Organisation mit den langen Schlangen der Leute, die nicht kaufen konnten, was sie wollten, sondern kaufen mussten, was vorrätig war. Manche westdeutschen Sprechakte probierten eine Art Fairness der Akronyme; dann wurde neben der DDR die BRD adressiert; aber dieser Gebrauch war mit dem Verdacht des Verfassungsfeindes konnotiert, deshalb unpassend. So gab es eine Schieflage; das Akronym war eine Dauerkränkung; die armen ostdeutschen Verwandten. Unsere Brüder und Schwestern. Ein Hohn.

Gegen Ende der 50er Jahre meldeten die Zeitungen vom Verlagshaus Springer zunehmend täglich die Zahl der ostdeutschen Bürgerinnen & Bürger, die ihr Land verließen und in der westdeutschen Republik ihren Platz suchten. Das waren bis zum 13.August 1963, dem Tag, an dem die ostdeutsche Regierung ihr Land verbarrikadierte, täglich eine stattliche, wachsende Anzahl. Der genüßlich ständig veröffentlichte Pegelstand der Ausreisen war eine Dauerkränkung - so wie der Name ihres Landes DDR in den Zeitungstexten aus dem Hause Springer stets von Gänsefüßchen dekoriert wurde. Die Außenpolitik unseres Landes pflegte das Niveau einer Apartheid: Länder, zu denen die ostdeutsche Republik diplomatische Beziehungen aufnahm, kündigte die westdeutsche Republik ihre diplomatischen Beziehungen auf. Diese großprotzige Politik trug den Namen Hallstatt-Doktrin - den Name des Erfinders Walter Hallstein - : der Euphemismus für eine politische Beschämung. 

Die 50er Jahre waren turbulente Jahre. 1989 war das für kurze Zeit vergessen. Das riesige Hallo der Begrüßung an den Grenzübergängen schallte durch die westdeutsche Republik. Es gab sogar in einem Anfall der Großzügigkeit ein so genanntes Begrüßungsgeld von einhundert Mark - eine seltsame Geste, wenn man es heute bedenkt. Der Jubel über das Ende der Nachkriegszeit verklang, als die westdeutschen Geschäftsleute ihre kannibalistischen Tätigkeiten mit hohem Tempo aufnahmen.

 

 

Dienstag, 24. Oktober 2023

Wenig hilfreicher, übel gelaunter Behauptungsjournalismus

Heute Morgen, am 24.10.2023, begann Thomas Gutschker, Journalist der F.AZ., seinen Kommentar auf der ersten Seite ("Europas Kakophonie zu Nahost") mit diesem Satz:

"In ihrer Reaktion auf den Hamas-Terror gibt die Europäische Union ein jämmerliches Bild ab". Ein jämmerliches Bild ist das deftige Bild eines sonst, wie ich ihn erinnere, besonnenen Journalisten. Warum dann jämmerlich? Eine Vokabel der Verachtung, nicht des Verständnisses für die unglaublich schwierige Lage unserer Politikerinnen und Politikerinnen. Die Komplexität der Verhältnisse, das unglaubliche Leid, die Rage der Vergeltungslust - wie können unsere Politikerinnen und Politikerinnen da einen klaren Gedanken fassen und schlafen? Vielleicht geht es Thomas Gutschker ähnlich - und er erträgt es nicht. Wenn man selber zu wüten beginnt, sollte man eine Auszeit nehmen. Wüten erzeugt nur weiteres Wüten.   

Who's Afraid of the ChatGPT?

Zur Zeit haben wir den Aufschrei der Besorgnis über die Technik des ChatGPT,  die die Autorenschaft von Texten obsolet zu machen droht. Künstliche Intelligenz  ist auch hier heiße Luft: Sie ist die ungenaue Floskel - was hat sie mit Intelligenz zu tun? - zum Bluffen im Dienste der Akquisition Milliarden-schwerer Forschungsprojekte. Sie ist nützlich zum Management  und zur Untersuchung der gewaltigen Datenmengen, die in einem gesellschaftlichen Gefüge  anfallen, im Dienste der Durchsicht unserer durch Häufigkeiten beschriebenen Wirklichkeiten. So bekommt man einen Überblick über die relevanten Prozesse; verstanden sind sie damit noch längst nicht.

Ich habe ChatGPT dreimal getestet. Zugegeben: ein wilder Test der Texte-Produktion von ChatGPT.  

1. Ich bat ChatGPT , mir den Grundgedanken von  Erwin Straus' Buch Vom Sinn der Sinne zu beschreiben. Heraus kam der Stuss einer Nicht-Lektüre; vom Grundgedanken keine Spur. 2. Ich wollte den Sinn des Satzes von Pauline Kael, der US-amerikanischen Filmkritikerin, erläutert bekommen: "When the lights go down and all our hopes are concentrated on the screen". Kein Wort zum Kino und zu den hopes. 3. Ich wollte Theodor Wiesengrund Adornos Satz erläutert bekommen: "Aus jedem Besuch des Kinos komme ich bei aller Wachsamkeit dümmer und schlechter wieder heraus".  ChatGPT schrieb diesen Satz Heinrich oder/und Thomas Mann zu. Ein Verständnis-Versuch wurde nicht unternommen. Im Falle Thomas Manns war diese Zuschreibung Unsinn. Denn Thomas Mann war in seinen kalifornischen Jahren ein regelmäßiger und begeisterter Kinogänger. Ob Heinrich Mann ein Fan des Kinos war, weiß ich nicht.

Was folgt daraus? In den drei Beispielen druckst ChatGPT wie ein Abiturient herum, der seine Unkenntnis mit Geschwafel ausfüllt. Wozu ist dann ChatGPT gut? Zur Erzeugung von Schwafel und Stuss. Brauchen wir das? Wir brauchen gute Autorinnen und Autoren, die in der Lage sind, unsere Lebenswirklichkeiten präzis zu beschreiben. Wir brauchen keine Autorinnen und Autoren, die mit ihren weitläufigen Praxen des Abkupferns und Aufsaugens der Schreib- und Sprechakte des mainstream unsere Zeit stehlen.


(Überarbeitung: 24.10.2023)

 

Montag, 23. Oktober 2023

Die ARD-Journalistin Sandra Maischberger bestürmt Robert Habeck am 12.10.2023 mit der ChatGPT-Technik

Die ChatGPT-Technik ist ein alter Hut. Wir kennen sie aus unserem Alltag. Ein Beispiel: Sie sprechen mit jemanden, der oder die Sie nicht ausreden lässt, indem er oder sie Ihre Sätze unablässig mit vermuteten oder erratenen Redewendungen beendet. Wir haben ein Gespür und ein Gedächtnis für die vertrauten sprachlichen Pfade, die in unserer Sprachkultur ausgelegt sind und zur Verfügung stehen: Formeln, Klischees, Sprachfiguren. Wir verfügen über eine Art natürlichen ChatGPTs. Es funktioniert nicht schlecht; nicht immer, aber häufig. ChatGPT macht (im Prinzip) nicht viel anderes; allerdings errät es nicht, sondern errechnet aus Millionen oder Milliarden Sätzen buchstäblich blitzschnell die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmtes Wort auf ein anderes folgt.

So schnell war die ARD-Journalistin Sandra Maischberger nicht; aber sie war schnell genug, unseren Wirtschaftsminister Robert Habeck zu bedrängen mit ihrem hastigen Einholen & Überholen. Das Muster des Erratens und des ungebetenen Komplettierens fremder Sätze folgt der Unhöflichkeit des Vordrängelns und Drängens.  Sandra Maischberger beherrschte das Muster perfekt: schamlos unnachgiebig. Im Austausch mit Robert Habeck versuchte sie, den Minister für Wirtschaft und Klima festzulegen, dass seine Interventionen im nächsten Winter greifen werden. "Ist das ein Versprechen?", setzte sie nach. "Ein Plan", antwortete Robert Habeck, der ihn geduldig erläuterte. "Ein Plan ist kein Versprechen", behauptete Sandra Maischberger schnell & unnachgiebig. Robert Habeck erläuterte stoisch die Überlegungen seines Plans, unser Land mit ausreichender Energie zu versorgen. Sandra Maischberger ließ die Erläuterung  nicht gelten: ein Plan sei kein Versprechen. 

Natürlich enthält ein Plan ein zumindest implizites Versprechen. Sandra Maisberger dachte nicht nach. Was wollte sie wissen? Wollte sie überhaupt etwas wissen? Offenbar nicht. Sie wollte ihn überwältigen und zu einem Geständnis zwingen.  

Irgendjemand muss ihr irgendwann gesagt haben, dass effektiver Journalismus in der verständnislosen und erbarmungslosen Konfrontation besteht. Depotenziere den Politiker! Zeig' ihm, was eine Harke ist! Wir sind objektiv! Jemand in der A.R.D., mächtig genug, diese Politik auszugeben, hat den journalistischen Auftrag gründlich missverstanden und lässt die Unkultur des Anrempelns pflegen.  

Die Sendung kann in der Mediathek der  A.R.D. bis zum 11.10.2024 aufgerufen werden.


 

 

Mittwoch, 11. Oktober 2023

Der Qualitätsjournalismus träumt nach nach der Wahl in Hessen am 8.10.2023 vor sich hin

Die AfD ist im kommenden hessischen Landtag gut vertreten. Was kann man machen? Carsten Knop, der Schlauberger der Frankfurter Zeitung für die klugen Köpfe, schlägt eine Deutschland-Koalition vor  (Ausgabe vom 11.102023, S.1) - bestehend aus der Union, der SPD und der FDP. Deren Protagonisten brauchten sich dann nicht mehr mit den Abgeordneten von der AfD herumzuschlagen; die wären dann gewissermaßen sprachlos. Und was ist mit den Abgeordneten der Grünen? Carsten Knop: "Man könnte Abstand nehmen von der in weiten bürgerlichen Kreisen inzwischen verhassten Politik der Grünen, man könnte sich pragmatischer auf Wirtschaftsthemen konzentrieren, welche die Wähler mindestens so sehr bewegten wie die Migrationsfrage. Doch auch bei diesem Thema würde man in dieser Runde wohl eher zusammenfinden".

Frage: in weiten bürgerlichen Kreisen verhasste Politik - woher weiß Carsten Knop das? Wie groß sind die Kreise und und wie groß ist der Hass? Er weiß es nicht. Er blufft mit seiner Behauptung. Der Hass ist nicht untersucht - wie auch? So sät man Zweifel und diskreditiert die grüne Politik der Dringlichkeit. Ich hatte in meinen Blogs vom 18.4.2023 und vom 14.7.2023 vermutet: unsere jetzige Regierung soll scheitern. Carsten Knop (*1969) ist der Mann, der vom Projekt des Scheiterns tagträumt und seinen Beitrag leistet. 

Dienstag, 19. September 2023

Das Gedöns mit der Brandmauer im Sommer 2023. Was ist eine Brandmauer?

1. Der DUDEN sagt dazu: "feuerbeständige Mauer zwischen aneinander stoßenden Gebäuden". 

2. Der Titel des 1999 in Schweden und 2001 in der Bundesrepublik erschienen Romans von Henning Willander.

3. Typischer Merkel-Kitsch der Hilflosigkeit. Ob unsere ehemalige Bundeskanzlerin die Erfinderin dieses politischen Nicht-Konzepts war, weiß ich nicht. Sie hatte jedenfalls im Februar 2020 nach  Thomas Kemmerichs Wahl mit den Stimmen der sogenannten Alternative für Deutschland zum Ministerpräsidenten Thüringens aus Afrika angerufen und darauf bestanden, die Wahl rückgängig zu machen. Das Bundesverfassungsgericht rügte sie deswegen. Eine Ordnungsstrafe erhielt sie nicht. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts war nicht einstimmig - es gab ein Sondervotum, das Angela Merkel recht gab. Unabhängig davon kann man dennoch Angela Merkels Nicht-Konzept als die Vokabel der Vermeidung verstehen, die politischen Vertreter der  sogenannten Alternative für Deutschland zu   schneiden (wie man sagt), im Umgang die spitzen Finger zu pflegen und von politischen Verfahren so weit wie möglich auszuschließen. Mit dieser Anweisung verletzte Angela Merkel ihren Amtseid, der von ihr forderte, das deutsche Volk in den Blick zu nehmen. Es ist erstaunlich, dass sie damit durchkam und dass die in den Parlamenten vertretenen Parteien, die dem Nicht-Konzept der Brandmauer folgen, ebenfalls heutzutage damit durchkommen. Die Brandmauer ist die Aufforderung zur Exklusion gewählter Parlamentarier.

4. Ein parlamentarisches Eigentor. Ständiger Anlass für Stunk, Klatsch & Häme, für parlamentarischen Stillstand und fröhliche Vermeidung relevanter politischer Arbeit.

5. Eine Art parlamentarischer Hypothek. Jetzt kommt der Oppositionsführer mächtig ins Trudeln  - Friedrich Merz redet sich rein & raus. Der faschistische Hohn von der früheren (in den 20er und 30er Jahren) Schwatzbude ist nicht weit entfernt. Ob diese zerstörerische Vokabel ausgesprochen wird, müssen wir sehen. Das Schenkelklopfen findet schon statt.

6. Was kann man machen?

7. Das Parlament kann sich entschließen, die Partei der vermeintlichen Alternative wegen ihrer faschistischen Sprache, ihrer Zerstörungsabsichten und ihrer parlamentarischen Inkompetenz und Passivität auszuschließen.

8. Wenn sich das Parlament darauf nicht verständigen kann, müssen seine gut meinenden Repräsentanten mit den destruktiv auftrumpfenden Vertretern und Vertreterinnen schmutzig diskutieren und die faschistischen Töne und Vokabeln nicht durchgehen lassen, so dass sie ausreichend protokolliert werden können. Den Aufschrei der Parlamentarier, die angekündigt hatten, ihre parlamentarischen Kollegen & Kolleginnen zu jagen, muss das Parlament aushalten. Die Union, die sich in den vergangenen Jahrzehnten darauf verständigt hatte, der Empfehlung Konrad Adenauers zu folgen und nicht ihrem Riechorgan, wird nicht umhin kommen, ihre olfaktorischen Fähigkeiten wieder zu beleben.  

 

Caren Miosga und die Scheu vor dem Begriff des Faschismus am 25.8.2023 in den "Tagesthemen" der ARD

 Donald John Trump, der abgewählte und wegen seiner Zerstörungsversuche demokratischer Verfahren mehrfach angeklagte Politiker, ist zur Zeit für die Mehrheit der republikanischen Wählerschaft - wenn man den laufenden Meinungsbefragungen eine Realitätsaussage zutraut - der Kandidat für die kommende Wahl des Präsidenten oder der Präsidentin. Für einen Teil der republikanischen Wählerschaft gilt Donald Trump als das Opfer der korrupten  nordamerikanischen Jurisdiktion. Das Ideal des fair trial wackelt. Das ist schwer aushalten. Weshalb Caren Miosga am 25.8. 2023 in den Tagesthemen die US-amerikanische, lange Zeit in Berlin lebende Philosophin Susan Neiman fragte: "Wie kann man dieses Spiel demaskieren?" 

Susan Neiman entgegnete : "Ich würde erstmal auf das Wort Populismus verzichten - ein verschleierndes Wort. Was mit Trump und seinen Anhängern passiert, ist ganz klar  - Protofaschismus". Caren Miosga lachte verlegen  und zögerte: "Sie verstehen schon, dass wir Deutsche mit unserer Vergangenheit... Schwierigkeiten haben... Trump mit solchen Begriffen zu belegen". Susan Neiman signalisierte   freundlicherweise ihr Verständnis. Dabei sollten wir mit unserer Vergangenheit uns im Faschismus besonders gut auskennen; offenbar hat unsere Vergangenheitsbewältigung unsere Vergangenheit unzureichend bewältigt."Aber, wenn Sie's denn behaupten", setzte Caren Miosga ihre Frage des Unverständnisses und der Scheu fort, "wie kann man's demaskieren?" Susan Nieman empfahl, die Dinge beim Namen zu nennen; kein beschwichtigendes Vokabular zu verwenden: "Bis der Faschismus manifest ist, ist es zu spät".  

Ungemütliche Aussichten für die Tagesthemen im späten August 2023.David Remnick, der Chefredakteuer der Zeitschrift The New Yorker, beschrieb Donald John Trump als schamlos. Dem Konzept der Wahrheit folgt Donald Trump nicht. Es gibt nichts zu demaskieren. Donald John Trump ist ein offenes Buch. Was ihm dient, zählt und ist wahr; was ihm nicht dient, ist unwahr und muss bekämpft und zerstört werden. Er liebt die Macht der Unterwerfung. Er liebt den faschistischen Krawall. Mit der Aussicht kann man natürlich schlecht einschlafen. Bleiben Sie zuversichtlich! lautet der regelmäßige GuteNacht-Gruß von Ingo Zamparoni. Was macht man?

Dem faschistischen Krawall gut zuhören und ihn faschistischen Krawall nennen. Wer erinnert sich an die 50er & 60er Jahre, als das Adjektiv nationalsozialistisch mit einer  Überwindung ausgesprochen werden musste? 1952 empfahl der erste Bundeskanzler unserer (damals noch unvollständigen) Republik, mit der Nazi-Schnüffellei aufzuhören. Die Abrechnung mit dem Nationalsozialismus und seinen Protagonisten war ungern gesehen. Die Herren wollten nicht aufgestört werden. Die konservative Regierung wollte nicht aufgestört werden. In den 70er Jahren bewahrte die Vokabel Holocaust uns vor Zungen-Verdrehern - sie ging vergleichsweise leicht über die Lippen. Caren Miosga versuchte, ihr Publikum vor der schwer auszusprechenden Vokabel Faschismus zu schützen. Susan Neiman bestand darauf, sie in den Blick zu nehmen und auszusprechen.

Donnerstag, 10. August 2023

Wie dringlich ist die Digitalisierung?

Sehr. Die anderen Länder sind schneller. Wir hinken hinterher. Wir vertrödeln den Fortschritt. Wir leben in einer Digitalisierungswüste. Die Wüste ist das Bild der kollektiven Not. Die Bundesrepubklik Deutschland trocknet aus. 

Ist das so? Die Zeitung für die klugen Köpfe alarmierte mich am 2.8.2023 mit der Schlagzeile auf ihrer ersten Seite: "Ampel plant Kürzungen am Digitalbudget". Oh je. Statt 377 Millionen nur noch 3,3 Millionen. Schon wieder Kürzungen an der falschen Stelle. Schon wieder die Ampel: schon wieder die Mädels & Jungs von der Abteilung exekutiver Unernst. Sie wurschteln vor sich hin und machen dies & das. 

Jetzt propagiert unser Gesundheitsminister das Verfahren des elektronischen Rezepts. Klingt einfach. Alles nur die Sache eines einfachen Klicks. Dann gibt es kein rosa Papier mehr.. Kein Signieren und kein Abzeichnen mehr. Alles ruckzuck in Sekundenschnelle. Aber was ist mit unsereins, der sich mühselig im World Wide Web bewegt und sich im digitalen Labyrinth ständig verirrt? Leider lebt unsere Tochter gute 200 km von uns entfernt und kann mir nicht regelmäßig raushelfen. Digitalisierung ist schön und klingt gut, aber wer macht mich fit? 

Schreiben muss man erst erlernen, bevor man es kann. Autofahren muss man erst lernen, bevor man es darf. Das Bewegen in den tausenden von Millionen von digitalen Kontexten kann man so irgendwie - irgendwer zeigt's einem, und wenn es Karl Lauterbach selber ist. Das ist die große Lüge und die große Illusion. Kein Wunder, wenn wir hinterher hinken. Wer läuft regelmäßig gern vor die Wand?

Die Digitalisierung ist eine Invasion. Wir müssen drauf vorbereitet werden. Sie versteht sich nicht von selbst. Zuerst müssen die Kontexte der Digitalisierung geklärt werden. Welche Kontexte sollen digital übersetzt & aufbereitet werden? Und dann muss sie uns jemand beibringen. Das geht natürlich nicht einfach und ist teuer. Das Beispiel des schulischen Unterrichts gibt eine Idee von der Höhe des Aufwands.  

Wir haben eine Schulpflicht. Sie macht uns halbwegs fit. Was ist mit der Digitalisierung? Wie lernen wir, uns digital zu bewegen? Eine Tasse Tee zum geduldigen Nachdenken wäre nicht schlecht. Das Beispiel der digitalisierten Patientenakte. Ist das eine gute Idee? Klingt gut, ist aber kompliziert. Wie gut ist die Information einer Akte? Eine riesige Daten-Menge hat sich möglicherweise angesammelt. Sich da durchzuscrollen, dauert und dauert. Wahrscheinlich wäre der Anruf der Kollegin oder des Kollegen effektiver - wenn doch nur diese Form des Austauschs honoriert würde! Die digitalisierte Akte soll den Kontakt ersetzen: die mechanische Lösung statt einer menschlichen. Und natürlich müssen für vernünftige Forschung die riesigen Datenmengen  medizinischer Interventionen zur Verfügung stehen. Das muss gut geplant und geschützt sein. Das geht nicht schnell. Schlagwörter helfen da nicht. Und das Super-Schlagwort Digitalisierung muss von Fall zu Fall gründlich überlegt sein. Wir mögen hinterherhinken - aber Hinterherstolpern ist schlecht.

 

(Überarbeitung: 11.8.2023)    

 

Journalistisches Raunen: Silicon Saxony - ist doch Klasse!

 Am 8.8.2023 die gute Nachricht im Fernsehen: TSMC, der Mikrochiphersteller in Taiwan, plant eine großzügige Produktion in  Dresden. Das ist doch enorm. Etwas bewegt sich in unserer Republik. Silicon Saxony macht sich breit. Was für eine Erleichterung! Die Dringlichkeit unseres Handels wird realisiert. Was sagt das Frankfurter Blatt des Zögerns  dazu?  Aufmacher der Frankfurter Allgemeinen Zeitung  am 9.8.2023: "Kretschmer rühmt Chipfabrik als Beitrag zu souveränem Europa". Er rühmt. Er rühmt. Er rühmt. Seltsamer Zungenschlag.  Da hat sich die oder der Schlagzeilen-Zuständige gewunden: wie kann man nur solche Töne anschlagen! Das Kopfschütteln wird rechts oben unter dem Kopf der Zeitung im Kommentar fortgesetzt - der Titel: "Das Wärmepumpen-Debakel". Julia Löhr, zuständig für die Wirtschaft, reagierte auf die zurückgegangene Zahl der Anträge auf staatliche Förderung der Wärmepumpen von 141.873 (innerhalb der ersten sieben Monate von 2022) auf jetzt 55.858 Anträge. Daraus macht sie ein Debakel. Ein Debakel der Regierung. Woher weiß sie das? Wann ist ein Debakel ein Debakel?

Schwer zu sagen. Man muss die Entwicklung abwarten. Vielleicht wollen die Leute erst einmal in Ruhe nachdenken - nach dem  medialen Aufruhr über eine Regierung, die ihr Handwerk - was für eine Vokabel der  Anmaßung! - der Gesetzgebung nicht verstehen würde....was für eine Vokabel der Ignoranz des komplizierten Prozesses der gewaltigen, raschen und notwendigen Veränderung.

Niemand weiß, was uns gelingen und was uns mißlingen wird. Abwarten und Tee-Trinken ist eine lebenskluge Devise.  Zu ausgiebig sollte man Tee allerdings nicht zu sich nehmen. Wenn es brennt, muss man die Tasse aufs Tischchen stellen und aufstehen.

 

Freitag, 14. Juli 2023

Schlechte Karten für grüne Politik: zum bundesdeutschen Zwang des Mäkelns an der Gegenwart. Wer hat Angst vor der Farbe Braun?

"Der Ampelstreit scheint noch nicht beigelegt", leitet Anne Will ihre Sendung Anne Will (am Sonntag, dem 9.7.2023) mit dieser Frage an Lisa Paus, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ein, "da tragen Sie den nächsten öffentlich aus. Was haben Sie und die Grünen genau nicht aus den zurückliegenden Monaten gelernt?"  

"Was haben Sie und die Grünen genau nicht aus den zurückliegenden Monaten gelernt?" Die Frage ist eine Spitzenleistung journalistischer Frage-Technik des ausgetüftelten Überfalls. Anne Wills Redaktion hat offenbar lange nachgedacht. Die Frage stammt aus dem Arsenal eines terrorisierenden Lehrers, der seinem Schüler die unerledigten Hausaufgaben um die Ohren schlägt. Die Frage traf. Lisa Paus, es war ihr anzusehen, sortierte und rechtfertigte sich: "Na, ich denke, wir haben doch einiges geschafft". 

Zweites Beispiel: der Kommentar von Jasper von Altenbockum (F.A.Z. vom 13.7.2023, S.9) mit dem Titel: Merz will es wissen. Das Pronomen Es ist, wie wir wissen,  "semantisch leer" (DUDEN-Grammatik). Also: was will Herr Merz wissen? Das weiß der F.A.Z.-Journalist nicht. Er vermutet, Herr Merz, der mit seinem ambitionierten Projekt des großen Wähler-Fischens bislang gescheitert ist,  möchte im Kampf um Zustimmung der Wählerschaft Profil gewinnen, weshalb er jetzt den Generalsekretär ausgewechselt hat. Das ist das Klischee einer schlichten Vermutung: Profil wird einem oder einer in einem komplierten Prozess nicht-bewusster öffentlicher, affektiver Abstimmung zugeschrieben; Zuschreibungen sind Projektionen eines Bildes von Einschätzung und Erwartung; sie dienen der Bildung eines Vorurteils oder eines Ressentiments. Profile werden in Umfragen abgefragt; ob und was sie zum Erfolg beitragen, ist unklar. Das hat Jasper von Altenbockum nicht im Blick.  Er beschreibt sein Unverständnis, das sich auch als Beschreibung eines Sinn suchenden Journalisten lesen lässt: "Die Ampelkoalition streitet, stümpert und stocht vor sich hin, doch die Opposition konnte daraus nicht viel Honig saugen". Armer Friederich Merz; Imkern liegt ihm nicht. Aber dagegen ist unsere Regierung unter aller Kanone.

Drittes Beispiel des öffentlichen Mäkelns. "Die Zwischenbilanz der Ampel", so die F.A.Z. in der selben Ausgabe, "die Bundesregierung hat trotz ihres Dauerstreits manches geschafft". Was zum Beispiel? "295.300 Wohnungen wurden im vergangenen Jahr fertiggestellt. Das ist weit entfernt von der Zielmarke von 400.000". Weit entfernt? Fast drei Viertel der geplanten Wohungen sind - 75%. Sind die weit entfernt?

Da kann man sich streiten. 75% sind eine ganze Menge. Das Glas ist doch ziemlich voll. Wieso dieser Unterton? Unsere Regierung muss offenbar ihr Fett abkriegen. Neulich lauteten im Juni 2023 zwei Schlagzeilen der Frankfurter Sonntagszeitung: die Digitalisierungswüste und das Welken der Grünen. Zwei Schlagzeilen zur Beschreibung der bundesdeutschen Situation: Nix läuft richtig. Dabei wusste schon Walt Disney: Die Wüste lebt. Und was welkt, blüht anderswo wieder. Wir haben eine Regierung, die angetreten ist, die Korruptheit, Lähmung  und Verzagtheit der vorigen Regierung zu vertreiben, und die die Dringlichkeit des Handelns verstanden hat. Dieser Belebungsversuch ist hier & da offenbar nicht willkommen. Zu viel offene Zukunft. Das wollen wir nicht genau wissen. Wir bleiben lieber in der Gegenwart unserer vertrauten verdrucksten Vergangenheit. Mäkeln ist eine Variation des Klagens. Stillstand ist schlecht, Bewegung erst recht. Wo ist der Journalist, wo ist die Journalistin - die Mut machen und das Risiko begrüßen? Wer hat immer noch Angst vor der  Farbe Braun

(Überarbeitung: 19.7.2023)


Dienstag, 18. April 2023

Was ist schlecht an einer Regierung, die Zeit für ihre Diskussionen braucht? Das Geschäft des nörgelnden Drängens. Lektüre des Journalismus - Beobachtung der Beobachter 102

Gar nichts. Man kann doch nur damit einverstanden sein, wenn die Mitglieder unserer Regierung sich Zeit nehmen, ihre Differenzen angesichts ihrer immensen, unglaublich schwierigenArbeitsaufgaben zu besprechen und zu klären versuchen. Weshalb dann die öffentliche Aufgeregtheit, Hohn, Spott und Verachtung für unsere Regierung, die sich ein paar Tage Zeit nimmt, um ihre Arbeitsaufgaben gründlich zu besprechen?  

Meine Antwort: unsere Regierung soll nicht regieren. Sie soll auf die Nase fallen. Schon ihr Spitzname Ampelkoalition - welcher schlaue & bösartige Kopf hat ihn bloß erfunden? - ist die Vokabel des Triumphs der Herablassung; denn neben dem Pfosten mit den farbigen Glühbirnen steht in der nahen Umgebung der Kasten, der sie steuert und der gesteuert wird von einem anderen Kasten, der einem starren oder dynamischen Programm folgt, das jemand irgendwann irgendwo installiert hat...was sollen die Ampel-Politiker können?

Irgendwem folgen. Wem?

Erinnern wir uns. Unsere ehemalige Kanzlerin gab am Sonntagabend, dem 13.3.2011, dem WDR-Journalisten Ulrich Deppendorf das Fernseh-Interview, in dem sie das bundesdeutsche Publikum zu beruhigen suchte: alles sei sicher, sagte sie sinngemäß; niemand müsse sich Sorgen machen. Am Montag, dem 14.3.2011, überraschte uns Angela Merkel mit der Energiewende - wer war der Erfinder dieser Vokabel? - . Sie buchstabierte das Wort so aus: "Die Ereignisse in Japan haben uns gelehrt, daß Risiken, die für absolut unwahrscheinlich gehalten wurden, dennoch eintreten". Der Satz war eine Lüge. Die unwahrscheinlichen Ereignisse waren schon längst eingetreten. Die promovierte Physikerin erzählte uns was vom Pferd. Zu meiner Überraschung kam sie und kommt sie damit weiterhin durch. Sie hatte nur eine Nacht, mit ihren Fachleuten zu diskutieren und ihre gewaltige Kehrtwendung mit den künftigen gewaltigen hohen Kosten abzuschätzen. Mehr war nicht drin. Mit der EU und den anderen Regierungen konnte sie sich nicht abstimmen. Wieso auch? Die (damals) schlechten Aussichten der Wiederwahl der CDU zählten. Die Chancen der Realisierung nicht. Was wird schon sein in ein paar Jahren?

Am 15.April 2011 titelte die Süddeutsche Zeitung:  

"Erste Berechnung der Bundesregierung"

"Energiewende kostet Milliarden"

"Schnellerer Ausstieg aus der Atomkraft wird Bürger stark belasten".

Wieso kam Angela Merkel damit durch und wurde am 17.4.2023 mit dem höchsten Verdienstorden ausgezeichnet? Antwort: unsere öffentliche Diskussion hat einen defekten moralischen Kompass, der vom permanenten Nachbeben der deutschen moralischen Katastrophe  (Thomas Mann) zu seltsamen Ausschlägen bewegt wird.

Zur Ehrung ein verdrossener Dank: Angela Merkel ist der Schlangengrube entkommen

Gestern, am 17.4.2023, erhielt Angela Merkel von Walter Steinmeier, unserem Bundespräsidenten, das Bundesverdienstkreuz. Sie dankte dann ihren Kolleginnen und Kollegen, die ihr geholfen hätten, die Schlangengrube (ihr Wort) des politischen Geschäfts zu überleben.  

Das Bild ihres Vorwurfs & ihrer Anklage: Was habt Ihr sechzehn lange Jahre mit mir gemacht!  

Wer stieß sie in die Grube? Wieso hat sie die Grube so lange ausgehalten? Was hat sie in ihrer Grubenzeit getan?

 Angela Merkel gab eine schillernde, ungenaue Antwort - lächelnd hingerotzt. Der politische Betrieb: mittelalterliche Quälerei einer Frau. Was war es noch? Die Verleihung schmeckte ihr nicht, muss man vermuten. Die Grubenzeit schmeckte ihr nicht. Was schmeckte ihr nicht? Und was schmeckte ihr?

Jemand müsste sie dazu befragen.

Aber die Verleihung des Bundesverdienstordens wird das Nachfragen verhindern. Wir bleiben, wie so oft in den 74 Jahren bundesdeutscher Suche nach angemessenen Antworten, auf unseren Fragen sitzen.


Montag, 27. März 2023

Regierungspolitik ist Parteienpolitik. Zu einer seltsamen Sprachpraxis. Die Rederunde "Anne Will" am 26.3.2023

Gestern, am 26.3.2023, in der A.R.D.-Sendung Anne Will. Anne Will fragte Konstantin Kuhle, den Vorsitzenden der Freien Demokraten Niedersachsen, zur Einstimmung: 

"Volker Wissing wollte, und das hat er zuletzt in Interviews immerfort und andauernd gesagt, Rechtssicherheit. Was hat die F.D.P. außer großen Ärger denn nun erreicht?" - Es geht um das Veto unseres Verkehrsministers Volker Wissing gegen das verabredete Verbot der EU, ab 2035 Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren nicht mehr zuzulassen, und um dessen Votum einer Ausnahme für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren, die mit e-Fuels betrieben werden.

"Was hat die F.D.P. denn nun erreicht?", fragte Anne Will. Sie sprach nicht die Politik der  bundesdeutschen Regierung oder des bundesdeutschen Verkehrsministers an, sondern die Politik der  Partei der Freien Demokraten. Das ist journalistische Ausgebufftheit: Die Machtpolitik zählt, klar doch, die Sachpolitik ist das Vehikel; wer wird sich da Illusionen machen. Dass die Regierungsmitglieder ihren Eid auf ihr jeweiliges Amt leisten, nicht auf ihre Parteienzugehörigkeit - schließlich sind sie für das Deutsche Volk verantwortlich - : geschenkt. Wer wird das Grundgesetz so genau nehmen - Artikel 21: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit" - ja: die Willensbildung. Der Begriff ist wie weit gefasst? Das Volk soll adressiert/erreicht werden. Aber auch der oder die Wählerin? Wohl kaum.

Aber wer wird da schon penibel sein. Geschäft ist Geschäft. Und das Geschäft geht vor- Aber nett ist doch, wie Anne Will Robert Habecks Beschreibung, dass das (korrupte) politische Geschäftsinteresse den politischen Betrieb dominiert, bestätigt. Der öffentliche Aufschrei über den vermeintlichen Kontrollverlust des Wirtschaftsministers in der vergangenen Woche war Heuchelei. Robert Habeck gab zuviel Auskunft. Am Ende der Sendung Anne Will fand  Robert Habecks Wahrheit ihre Fürsprecher. Immerhin.

Freitag, 24. März 2023

"Habeck zeigt Nerven": das Beispiel eines bundesdeutschen dysfunktionalen Journalismus (Lektüre des Journalismus - Beobachtung der Beobachter 101)

"Habeck zeigt Nerven" ist die Überschrift des Kommentars von Julia Löhr in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (24.3.2023, S. 17). Das Verbum zeigen gehört zum psychotherapeutischen und kommunikativen Jargon des Aufmunterns. Muster: Zeigen Sie Ihre Gefühle!  Geht das? Nein. Gefühle sind keine Dinge, die ich vorzeigen kann. Ich kann sie bestenfalls beschreiben und mitteilen. Das Verbum zeigen hat sich auch als naive Erkenntnistheorie etabliert: Am Zeigen des Gegenüber kann ich deren oder dessen emotionale Gestimmtheit ablesen. Muster: Mensch, bist Du wütend! Woher weiß ich,  abgesehen von seiner phänomenologischen Miskonzeption einer eindeutigen Kommunikation, dass ich das Zeigen, richtig deute? (s. meinen Blog vom 3.3.2011: Die Crux mit dem Zeigen)

Das weiß ich nicht. Ich vermute beim Gegenüber eine Gestimmtheit. Vielleicht ist es meine Gestimmtheit, die ich bei ihr oder ihm errate. Sie oder er müsste meine Vermutung bestätigen. Anders geht es nicht. Weshalb die Journalistin Julia Löhr nicht schreiben kann: "Habeck zeigt Nerven". Am Montag, dem 21.3.2023, hat Robert Habeck gegenüber Caren Miosga in den Tagesthemen Auskunft gegeben über die Disloyalität in der Regierungsarbeit: jemand hat ein noch nicht ausreichend geklärtes Regierungsprojekt weitergereicht, um es zu desavouieren. Robert Habeck  erläuterte den Vorgang:

"Hier ist der Gesetzentwurf an die BILD-Zeitung, und ich muss unterstellen, bewusst geleakt worden, um dem Vertrauen in die Regierung zu schaden, und insofern sind (unsere) Gespräche zerstört worden. Wahrscheinlich mit Absicht zerstört worden, des billigen taktischen Vorteils wegen. Deswegen bin ich ein bißchen alarmiert, ob überhaupt Einigungswille da ist. Es hat dem Vorhaben geschadet, es hat der Debatte geschadet, es hat dem Vertrauen in die Regierung geschadet. Und eine Regierung, die ihr Vertrauen verspielt, hat ihr größtes Pfund verloren. D.h. wer Transparenz so interpretiert, dass er andere Leute anschwärzt, zerstört das Vertrauen in die Regierung. Und das ist in diesem Fall passiert".

Frage der Modoratorin: "Bekommen Sie das verlorene Vertrauen wieder gekittet?"

Robert Habeck: "Davon gehe ich aus. Das Miteinander im Kabinett ist tadellos....es gibt ein gutes Einvernehmen. Wir können die Dinge ganz normal und ruhig bereden, aber wir kriegen sie nicht über die politische Ziellinie gebracht, weil dann immer wieder geschaut wird, wie ist der mediale Echoraum, was macht mein nächster Parteitag, wie hoch sind die nächsten Landtagswahlen. Eine Regierung ist ja nicht dem nächsten Parteitag oder den nächsten Landtagswahlen verpflichtet - sondern dem Land. Wir müssen uns auf uns selbst konzentrieren und klarmachen, welches Privileg es ist, in dieser Regierung zu sein, klarmachen, dass Klimaschutz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, dass es da keine Arbeitsteilung geben kann, dass einige quasi abgeschoben werden, diese Aufgaben zu erledigen, und andere es nicht tun. Und wenn das allen klar ist, kriegen wir auch eine gute Lösung hin. Dann werden Sie sehen, dass wir in den nächsten Wochen reihenweise Gesetze verabschieden, weil die ja alle schon geschrieben sind und quasi beschlussreif und fertig".

Frage der Modoratorin: "Haben Sie den Glauben, dass Sie in dieser Koalition beim Klimaschutz wirklich noch etwas erreichen?"

Robert Habeck: "Wir haben also viel erreicht. Und das ist in der gleichen Koalition gewesen - nur in dieser Koalition war es möglich. Ohne jetzt nachtreten zu wollen - , dass wir so einen Aufholbedarf haben, dass weder der Netzausbau noch die erneuerbaren Energien nach vorne gebracht wurden, obwohl die alte Koalition ja entschieden hat, wir steigen aus der Atomkraft und aus der Kohle aus - und hat nichts geleistet, um in irgendetwas einzusteigen. Die alte Koalition hat gesagt, Deutschland wird 2045 klimaneutral, das hat die Regierung Merkel entschieden, das ist von heute aus gesprochen, in 22 Jahren. Eine neue Heizung läuft in der Regel 30, 35, vielleicht 40 Jahre. Jetzt muss man ja nur ein bißchen rechnen. Eine Gas- oder Ölheizung, die ich jetzt kaufe, passt nicht zu den Klimazielen - das ist ein Widerspruch. Nun kann man sagen: ja, das ist ein Widerspruch, ihr habt Pech gehabt, wir leben mit Widersprüchen  -  oder man kann versuchen, diesen Widerspruch aufzulösen. Wenn man eine Regierung haben will, die die Widersprüche nicht auflöst, dann sollte man sich überlegen, was man von Politik erwartet. 

Das ist der ernste Hintergrund, warum wir mit dem - zugegebenermaßen - großen Druck, mit diesem großen Engagement jetzt voraus gehen, weil ich es persönlich nicht mit meinem Amtseid vereinbaren kann, Probleme nicht zu lösen. Und dass das unangenehm ist, das ist zu zugeben - aber zu sagen, wir wollen 2045 klimaneutral werden, Leute baut noch ein paar Gasheizungen ein, ist - eine Lüge".

Die Moderatorin: " Der Appell des Bundeswirtschaftsministers. Ich danke Ihnen herzlich für dieses Gespräch".

 Hat Robert Habeck Nerven gezeigt?

Er hat nicht gelogen. Er war mutig. Er hat sich gegen den politischen Betrieb gestellt und eine politische Praxis beschrieben: die Verweigerung von Veränderung entlang des Merkelschen Mottos eines gewaltigen demokratischen Missverständnisses : Es ist immer Wahlkampf. Er hat, wie er sagte, eine strukturelle Beschreibung des politischen Betriebs gegeben. 

Welche Bedeutung hat der in der Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte Text von Julia Löhr? Er ist das Beispiel eines Journalismus, der zum Zeitlupentempo beiträgt und in den  Affekt der Verweigerung und Verleugnung einstimmt, weil er vor allem am Klatsch und an der Not der  politischen Machtprozesse interessiert ist, aber nicht an der Dringlichkeit  einer substanziellen Politik. Es gibt nicht nur die Korruption der hin- und hergeschobenen Geldbeträge, der betrügerischen Täuschungsmanöver und der schlechten Geschäfte, sondern auch eine Korruption des Zusehens und Schweigens und Ausbeutens einer dysfunktionalen politischen Praxis.       

      

 

    

Freitag, 3. März 2023

Hart, aber ungelenk: Konfusion am Montag, dem 27.2.2023

Frieden mit Putin: eine Illusion? war der Titel der WDR-Rederunde mit neuer  Diskussionsleitung. Der neue Mann, der Frank Plasberg ablöste, hieß Louis Klamroth. Er hatte das Gespräch nicht in der Hand. Er kam nicht zum Leiten. Die Redaktion der Sendung hatte sich verhoben. Wer diskutiert schon gern eine Illusion? Wie kriegt man seine Diskutanten eingeladen? Wer übernimmt den Part des Protagonisten der Illusion, wer den Part des Illusions-Ernüchterers? Schwieriges Geschäft. Am Wochenende hatten sich als Illusionistinnen Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht auf der Tagung in Berlin hervorgetan und in der ARD-Lesart (Tagesthemen) blamiert. In der Logik der Fernsehleute musste damit Frau Schwarzer oder Frau Wagenknecht - (öffentliche) Anklage, Konfrontation,  Tribunal müssen sein -  ins Studio: zur  Abrechnung. Wer hatte diese Konstellation auf sich genommen? Katrin Göring-Eckart, Heribert Prantl, Winfried Münkler und Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Einziger Gegenpart: Sahra Wagenknecht. Von ihr weiß man: sie ist gut und tapfer und gibt nicht nach; sie ist ihr Honorar wert.  

Die erste Panne: jemand von der Redaktion hatte den Titel der Sendung falsch geschrieben. Ilusion konnte man lesen. Die Illusion, kann man daraus schließen, war den Fernsehleuten nicht geheuer. Ich war also gespannt, wann der Fehler korrigiert wird: in der Mitte der Sendung. Was wurde aus der Illusion? Sie war nicht zu klären. Es gab keinen Raum für einen nachdenklichen Austausch. Man hätte die Stichworte Putin, Frieden & Illusion geduldig ausbuchstabieren und zusammentragen müssen, was man weiß. Die Rederunde ging im Raufen unter. Das war schade, aber vertraut: das übliche Niveau. Louis Klamroth raufte sich vergeblich die Haare. Der Realitätsgehalt der existenziellen Bedrohung wurde nicht ausreichend zu bestimmen gesucht. Das Geschäft mit der Bedrohung ist nur auf den ersten Blick unterhaltsam; auf den zweiten verwundert die konzeptionelle Naivität - was die Leitung und die Dynamik einer Rederunde im Fernsehen angeht; auf den dritten Blick: die TV-Forschheit, die die Ängstlichkeit verdecken soll, statt genau nachzufragen: in welcher Konstellation steckt der Präsident Wladimir Putin in seiner Regierungstruppe? Was weiß man? Louis Klamroth war offenbar schlecht vorbereitet.

Dienstag, 14. Februar 2023

Jetzt haben wir den Schlamassel II: die Wahlergebnisse passen wie bei Armin Laschet schon wieder nicht; wer aber eine Regierung zustande bringt, gewinnt. Und was ist mit Berlin?

Mein Vater wurde in Berlin geboren. Meine Mutter versuchte ihm, das Icke auszutreiben. Berliner, das bekam ich schon früh mit, haben eine zu große Klappe, nehmen sich zu wichtig und sind zu laut. Das war wahrscheinlich vor dem zweiten Weltkrieg so. In der Nachkriegszeit hielt Bully Bulahn mit seinem Koffer, der noch in Berlin stand, die Fahne für Berlin hoch. Das war doch Klasse; ich war immer sehr gerührt. Der gepfiffene Walzer bei Sechs-Tage-Rennen war auch Klasse. Das geteilte Berlin war nicht Klasse. Zum Glück gab es das in der alten Präambel zum Grundgesetz gegebenene Versprechen, die Teilung irgendwann rückgängig zu machen. Irgendwann: irgendwie war die alte Republik zufrieden mit dem Irgendwann. Das änderte sich 1990. Wolfgang Schäuble erinnerte eindrucksvoll an das im Grundgesetz institutionalisierte Versprechen; Bonn war out; es gab kein Zurück vom Versprechen. 

Seitdem ist Berlin unser Monster. Für jede Menge Spott gut. So brauchen wir uns nicht zu erinnern, was wir mit der Vorkriegsmetropole verloren haben und was uns jetzt fehlt: das Gefühl für ein Zentrum. Kein Wunder, wenn jetzt herumgeeiert wird, wer Berlin regieren soll und wird.  Regieren? Soll das in dieser Republik funktionieren? Das Vergnügen am politischen, administrativen und psychosozialen Gepolter ist seltsam laut & sehr unterhaltsam. Und das mediale Gekabbel (Presse, Funk & TV) allerorten vertreibt das Entsetzen über unsere Zukunft.

Was ist mit unseren Brücken? Was ist mit unseren Steckdosen? Und wo bleibt die Munition?

Mittwoch, 8. Februar 2023

Es kommt immer was dazwischen: unsere (globale) Klima-Katastrophe und die Dringlichkeit des Geschäfts

Gestern (am Mittwoch, dem 9.2.2023) las ich im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - Schlagzeile: "BP verdoppelt seinen Gewinn". Unterzeile: "Der Konzern macht eine halbe Kehrtwende und stutzt die Klimapläne. Dafür investiert er wieder stark in Gas und Öl.  Die Börse jubelt" (F.A..Z. vom 8.2.2023, S. 21).

Wer ist die Börse? Kann sie jubeln? Nein. Es sind die Leute, die investieren & kaufen. Wer wohl? Das aufzuklären, wäre doch einer journalistischen Anstregung wert. Und was ist eine halbe Kehrtwende

Die halbe Kehrtwende ist die journalistische, euphemistische Formel für: Desinteresse & Stillstand. Kein journalistischer Aufschrei. Der verschlafene journalistische Beobachter & Komplize, der seinen Auftrag vergessen oder sich keine Mühe gegeben hat, heißt: Philip Plickert. Aber vielleicht hat die Redaktion der klugen Zeitung ihn nicht angehalten & unterstützt, sich Mühe zu geben. Dabei hat António Guterres gerade zur Kenntnis gegeben:

"We need disruption to end the destruction. No more baby steps. No more excuses. No more bottemless greed of the fossil fuel industry and its enablers".   

Die Quelle  ist: Bill McKibben, Daily Comment des The New Yorker vom 6.2.2023.   

Montag, 6. Februar 2023

Jetzt haben wir den Schlamassel: Angela Merkels Merksatz ("Es ist immer Wahlkampf") wird wieder getestet

Das Dilemma der Demokratie ist: die gewählten Akteure denken ständig, bewusst und nicht-bewusst, an die eigene Wiederwahl. Angela Merkel hat das Dilemma in dem unübertroffenen Satz ausgesprochen: "Es ist immer Wahlkampf". Wie sie ihn verstanden hat als eine Kurz-Beschreibung ihrer Lebensrealität, wissen wir nicht.  Man kann natürlich vermuten, was sie gemeint hatte: die Politikerin oder der Politiker bewegt sich unter einer so genannten journalistischen Beobachtung vor einer Spiegelwand, jemand kommentiert den Auftritt und extrapoliert oder prüft die Chancen der (Wieder-)Wahl. Das ist nicht mehr als recht: schließlich möchten wir wissen, wen wir gewählt haben und was gemacht wird. Das Problem ist: unser eigener Blick ist abhängig vom fremden  (journalistischen) Blick - den wir  (etwas)auswählen können & bezahlen müssen. Wir wissen nicht, mit welchem (wissenschaftlich fundierten) Blick beobachtet wird; wir kennen dessen Konzepte nicht. Das Problem ist: der fremde Blick gehört zu einem Geschäft, das wir nicht überschauen. Wir wissen nicht, wie gut oder wie schlecht es läuft und was unternommen wird, damit es gut läuft. Das Geschäft ist vor allem ein Beziehungsgeschäft, wie es Janet Malcom beschrieben hat (s. meinen Blog Janet Malcom ist tot vom 21.6.2021): benötigt wird eine  tragfähige (zuverlässige) Beziehung zu einer Gewährsfrau oder zu einem Gewährsmann, die oder der Auskunft gibt über die verborgenen oder nicht so  verborgenen Prozesse, die entlang einer feinen Linie von Inklusion und Exklusion verlaufen. Wir kennen nicht die Art & die Qualität der Komplizenschaft der Beziehungsübereinkunft. Anrempeln ist hier & da gestattet. Die journalistische Beobachtung ist ritualisiert und inszeniert: wir drücken uns die Nasen platt und sind von denen abhängig, die uns ihre Beobachtungen berichten und uns zu überzeugen suchen von ihren Beobachtungen. Das Geschäft mit dem Sehen & Hören und dessen Auswerten & Mitteilen  ist kompliziert. Viel Beziehungsarbeit steckt drin. Die Beziehungsnetze kennen wir nicht. Sie sind das unbekannte Gold des Geschäfts.

Jetzt haben wir den Fall von Nancy Faeser, unserer Bundes-Innenministerin, die sich neben ihren Amtsaufgaben für das Amt der hessischen Miniserpräsidentin bewirbt und ihren (kleinen) Hessen-Wahlkampf bestreitet. Für sie wird jetzt eine riesengroße Spiegelwand installiert. Jetzt wird genau aufgepasst - wird uns versprochen.

Hilft das? Nancy Faeser hat nichts dagegen. Ihr Chef übrigens auch nicht. Sagt er zumindest. Was haben wir davon? Abgesehen vom sadistischen Vergnügen? Man müsste Nancy Faesers Arbeitsbelastung kennen. Neulich fand sie Zeit, zur Fußball-Weltmeisterschaft nach Katar zu fliegen. Was tut eine Ministerin? Man müsste die Liste ihrer Arbeitsbesprechungen kennen, ihrer Telefonate, ihrer Bewegungen, ihrer Büro-Anwesenheiten (allein oder im Kontakt). Erfahren wir leider (noch) nicht. Das wäre doch jetzt die Gelegenheit, die Realität einer Regierungsarbeit zu verfolgen und zu sehen,  welche Ideen, Konzepte und Projekte herauskommen. 

 

(Überarbeitung: 13.2.2023)  

 



Dienstag, 17. Januar 2023

Schwindeln mit einem schönen Fremdwort - Journalismus-Lektüre 104: Die "Kernkraft-Renaissance"

"Kernkraft-Renaissance" überschrieb Morton Freidel seinen Text in der Frankfurter Sonntagszeitung am 15.1.2023, S. 8. Renaissance klingt gut: Bewährtes kommt wieder. Renaissance bedeutet im öffentlichen Kontext: Es geht  nicht ohne sie.  Renaissance ist die süße Vokabel der Beglaubigung einer guten Sache. So macht man Stimmung für eine alte, höchst umstrittene, megalomane Geschichte. Morton Freidel lässt die Katze - die Atomkraft - aus dem Sack:  Er schwindelt mit der Wortbedeutung ihrer Renaissance. Sie  war nie abwesend, sondern blieb  anwesend im öffentlichen Kontext - mal deutlich, mal undeutlich, als Text und als Subtext für den Fall des Notfalls. Merkels Energiewende war ein abruptes Lenkmanöver der Beschwichtigung im Wahlkampf 2011 im Dienste der CDU in Baden-Würtemberg. Mehr sollte sie nicht sein. 

Was sich daran ablesen lässt, dass wenig passierte. Die Wende blieb das Verdeckwort für das Desinteresse an einer Wende. Man kann auch mit den Aussprechen einer Sache schummeln.  Die ehemalige Kanzlerin bemühte sich nicht um einen öffentlichen Konsens der Zustimmung zur Wende; sie klärte den ambivalenten Subtext nicht; das Wahlkampf-Manöver blieb das Wahlkampf-Manöver. Die Realisierung der Transformation zog sich hin; es gab anderes zu tun; die Dringlichkeit, die Erderwärmung zu verlangsamen, wurde als Wiedervorlage in der Öffentlichkeit abgelegt - für den Fall eines sich formierenden öffentlichen Interesses. Die Kanzlerin spielte auf Zeit. Sie hielt das Unentschieden. War doch prima. Die Absicht der Transformation wurde hochgehalten wie ein guter Vorsatz, den man hinausposaunt, aber vor sich herschiebt. Wir kennen das mit den guten Vorsätzen: sie dienen der Selbstberuhigung. Gehandelt wird, wenn überhaupt, viel später. 

Jetzt ist es 12.05 Uhr. Jetzt muss gehandelt werden. Der Einfachheit halber halten wir uns am besten an das, was wir haben: die vermeintlich einfachste Lösung. Lassen wir doch die Atomkraftwerke, die laufen, weiterlaufen. Was soll's? Wir lassen alles beim alten. Augen zu und durch.

Morton Freidel schreibt: "Es ging den Atomkraftgegnern noch um etwas anderes, um einen symbolischen Sieg". Schwindel Nummer Zwei. Nein, es ging und es geht um eine Veränderung unserer Lebensformen - Leben in einem menschlichen Maß. Und damit um eine andere Realität der Stromgewinnung: keine hochkomplexe, hoch gefährliche und hoch zerstörerische Stromerzeugung als Spitzenleistung unserer Hybris, die wir mit den Konzepten des Wachstums uns kleinreden, sondern eine überschaubare, vergleichsweise einfache und nicht so sehr schädliche Lösung. Die künftigen Naturkatastrophen werden uns sehr beschäftigen; da werden wir froh sein, wenn wir uns um die heißen Meiler, die dann nicht mehr richtig gekühlt werden können, nicht kümmern müssen.

     

Freitag, 13. Januar 2023

Bliersbachs Einsprüche - der Autor ist zurück und fädelt sich ein im "Winter of my discontent"

The winter of my discontent ist die von William Shakespeare gelungene Wort-Schöpfung (für Richard III) einer mühsam in Schach gehaltenen Verzweiflung. Jetzt, Anfang 2023, ist es stürmisch & naß; der Winter ist nicht winterlich und tut nicht, was er soll. Der Rückzug in die warmen eigenen vier Wände wäre das Richtige. Aber das kann sich die Mehrheit der Leute in einer Gesellschaft nicht leisten: wir müssen raus, um unsere Leben zu bestreiten. Wir sitzen, ohne es zu sehen, im Freien. Lützerath, dieses von seinen Bewohnern verlassene, von der Öffentlichkeit belagerte, rheinische Dorf, ist das Bild für unsere republikanische Existenz: die Verzweiflung der Hilflosigkeit bahnt sich ihren Weg ins Nirgendwo. Draußen ist es unwirtlich; drinnen ist es unheimlich, ob die eigenen vier Wände uns genügend schützen & wärmen. In der Ukraine leben die Leute vorwiegend draußen - leidlich oder gar nicht geschützt vor den ständigen Bombardierungen, mit denen die mächtige, aber konfuse, hilflos drohende russische Regierung ihrer Grausamkeit folgt. Unsere Regierung tut sich schwer, dem Morden mit großzügigen Lieferungen funktionierender Waffensysteme entgegen zu treten.    

Wir schlittern durch die Gegenwart. Angela Merkel kam neulich (am 8.12.2022) mit der Aussage (in der ZEIT) ein weiteres Mal durch: "Auch wir hätten schneller auf die Aggressivität Russlands reagieren müssen". Sie machte es sich einfach. Sie gab, wie so oft, unvollständig Auskunft über das, was sie liegen ließ. Jetzt ächzt die gegenwärtige Regierung unter der enormen Last des Realitätsgeschäfts - die Frage ihrer Wiederwahl steht buchstäblich in den Sternen. Zur Schadenfreude besteht kein Anlass. Sie ist nicht zu beneiden. Ich hoffe, sie hält durch.