Freitag, 24. März 2023

"Habeck zeigt Nerven": das Beispiel eines bundesdeutschen dysfunktionalen Journalismus (Lektüre des Journalismus - Beobachtung der Beobachter 101)

"Habeck zeigt Nerven" ist die Überschrift des Kommentars von Julia Löhr in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (24.3.2023, S. 17). Das Verbum zeigen gehört zum psychotherapeutischen und kommunikativen Jargon des Aufmunterns. Muster: Zeigen Sie Ihre Gefühle!  Geht das? Nein. Gefühle sind keine Dinge, die ich vorzeigen kann. Ich kann sie bestenfalls beschreiben und mitteilen. Das Verbum zeigen hat sich auch als naive Erkenntnistheorie etabliert: Am Zeigen des Gegenüber kann ich deren oder dessen emotionale Gestimmtheit ablesen. Muster: Mensch, bist Du wütend! Woher weiß ich,  abgesehen von seiner phänomenologischen Miskonzeption einer eindeutigen Kommunikation, dass ich das Zeigen, richtig deute? (s. meinen Blog vom 3.3.2011: Die Crux mit dem Zeigen)

Das weiß ich nicht. Ich vermute beim Gegenüber eine Gestimmtheit. Vielleicht ist es meine Gestimmtheit, die ich bei ihr oder ihm errate. Sie oder er müsste meine Vermutung bestätigen. Anders geht es nicht. Weshalb die Journalistin Julia Löhr nicht schreiben kann: "Habeck zeigt Nerven". Am Montag, dem 21.3.2023, hat Robert Habeck gegenüber Caren Miosga in den Tagesthemen Auskunft gegeben über die Disloyalität in der Regierungsarbeit: jemand hat ein noch nicht ausreichend geklärtes Regierungsprojekt weitergereicht, um es zu desavouieren. Robert Habeck  erläuterte den Vorgang:

"Hier ist der Gesetzentwurf an die BILD-Zeitung, und ich muss unterstellen, bewusst geleakt worden, um dem Vertrauen in die Regierung zu schaden, und insofern sind (unsere) Gespräche zerstört worden. Wahrscheinlich mit Absicht zerstört worden, des billigen taktischen Vorteils wegen. Deswegen bin ich ein bißchen alarmiert, ob überhaupt Einigungswille da ist. Es hat dem Vorhaben geschadet, es hat der Debatte geschadet, es hat dem Vertrauen in die Regierung geschadet. Und eine Regierung, die ihr Vertrauen verspielt, hat ihr größtes Pfund verloren. D.h. wer Transparenz so interpretiert, dass er andere Leute anschwärzt, zerstört das Vertrauen in die Regierung. Und das ist in diesem Fall passiert".

Frage der Modoratorin: "Bekommen Sie das verlorene Vertrauen wieder gekittet?"

Robert Habeck: "Davon gehe ich aus. Das Miteinander im Kabinett ist tadellos....es gibt ein gutes Einvernehmen. Wir können die Dinge ganz normal und ruhig bereden, aber wir kriegen sie nicht über die politische Ziellinie gebracht, weil dann immer wieder geschaut wird, wie ist der mediale Echoraum, was macht mein nächster Parteitag, wie hoch sind die nächsten Landtagswahlen. Eine Regierung ist ja nicht dem nächsten Parteitag oder den nächsten Landtagswahlen verpflichtet - sondern dem Land. Wir müssen uns auf uns selbst konzentrieren und klarmachen, welches Privileg es ist, in dieser Regierung zu sein, klarmachen, dass Klimaschutz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, dass es da keine Arbeitsteilung geben kann, dass einige quasi abgeschoben werden, diese Aufgaben zu erledigen, und andere es nicht tun. Und wenn das allen klar ist, kriegen wir auch eine gute Lösung hin. Dann werden Sie sehen, dass wir in den nächsten Wochen reihenweise Gesetze verabschieden, weil die ja alle schon geschrieben sind und quasi beschlussreif und fertig".

Frage der Modoratorin: "Haben Sie den Glauben, dass Sie in dieser Koalition beim Klimaschutz wirklich noch etwas erreichen?"

Robert Habeck: "Wir haben also viel erreicht. Und das ist in der gleichen Koalition gewesen - nur in dieser Koalition war es möglich. Ohne jetzt nachtreten zu wollen - , dass wir so einen Aufholbedarf haben, dass weder der Netzausbau noch die erneuerbaren Energien nach vorne gebracht wurden, obwohl die alte Koalition ja entschieden hat, wir steigen aus der Atomkraft und aus der Kohle aus - und hat nichts geleistet, um in irgendetwas einzusteigen. Die alte Koalition hat gesagt, Deutschland wird 2045 klimaneutral, das hat die Regierung Merkel entschieden, das ist von heute aus gesprochen, in 22 Jahren. Eine neue Heizung läuft in der Regel 30, 35, vielleicht 40 Jahre. Jetzt muss man ja nur ein bißchen rechnen. Eine Gas- oder Ölheizung, die ich jetzt kaufe, passt nicht zu den Klimazielen - das ist ein Widerspruch. Nun kann man sagen: ja, das ist ein Widerspruch, ihr habt Pech gehabt, wir leben mit Widersprüchen  -  oder man kann versuchen, diesen Widerspruch aufzulösen. Wenn man eine Regierung haben will, die die Widersprüche nicht auflöst, dann sollte man sich überlegen, was man von Politik erwartet. 

Das ist der ernste Hintergrund, warum wir mit dem - zugegebenermaßen - großen Druck, mit diesem großen Engagement jetzt voraus gehen, weil ich es persönlich nicht mit meinem Amtseid vereinbaren kann, Probleme nicht zu lösen. Und dass das unangenehm ist, das ist zu zugeben - aber zu sagen, wir wollen 2045 klimaneutral werden, Leute baut noch ein paar Gasheizungen ein, ist - eine Lüge".

Die Moderatorin: " Der Appell des Bundeswirtschaftsministers. Ich danke Ihnen herzlich für dieses Gespräch".

 Hat Robert Habeck Nerven gezeigt?

Er hat nicht gelogen. Er war mutig. Er hat sich gegen den politischen Betrieb gestellt und eine politische Praxis beschrieben: die Verweigerung von Veränderung entlang des Merkelschen Mottos eines gewaltigen demokratischen Missverständnisses : Es ist immer Wahlkampf. Er hat, wie er sagte, eine strukturelle Beschreibung des politischen Betriebs gegeben. 

Welche Bedeutung hat der in der Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte Text von Julia Löhr? Er ist das Beispiel eines Journalismus, der zum Zeitlupentempo beiträgt und in den  Affekt der Verweigerung und Verleugnung einstimmt, weil er vor allem am Klatsch und an der Not der  politischen Machtprozesse interessiert ist, aber nicht an der Dringlichkeit  einer substanziellen Politik. Es gibt nicht nur die Korruption der hin- und hergeschobenen Geldbeträge, der betrügerischen Täuschungsmanöver und der schlechten Geschäfte, sondern auch eine Korruption des Zusehens und Schweigens und Ausbeutens einer dysfunktionalen politischen Praxis.       

      

 

    

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