Dienstag, 3. Dezember 2013

Der Aufbruch und der Durst: vom Problem der Deutung unserer Gegenwart

Vor 50 Jahren wurde der nordamerikanische Präsident John Fitzgerald Kennedy am 22.11.1963 in Dalles ermordet. Die SZ erinnerte am 22.11.2013 an die die U.S.-Amerikaner erschütternde und die Welt-Öffentlichkeit bewegende Tragödie. Die Erinnerung ist nicht verblasst; sie arbeitet in den nationalen Öffentlichkeiten unterschiedlich - wie sehr oder wie wenig, wissen wir nicht; wir können das Ausmaß der inneren, nicht der veröffentlichten, sondern der intimen Beschäftigung nicht ausmessen - weiter. Reymer Klüver tat es für die SZ; sein Text hatte den Titel: "Eine Art Held. John F. Kennedy gab der Nation, wonach sie dürstete. Doch auch er hätte die Menschen desillusioniert". Was gab dieser Präsident seiner Nation? Reymer Klüver gab diese dichte Antwort: "Kennedy fing schlicht den Geist der Zeit ein".

Das Adverb schlicht fungierte im Text als eine Art Selbst-Vergewisserung des Autors, der darum bat, seine Formel vom Geist der Zeit als eine Erklärung zu akzeptieren. Worin bestand er? "Die Amerikaner sehnten sich damals nach einem Aufbruch. Und er gab der Nation, wonach sie dürstete. Er versprach die Schande der Rassentrennung zu beenden, er schuf den Peace Corps, er verordnete die Landung auf dem Mond, er gab ihr das uramerikanische Gefühl zurück: dass die Zukunft grenzenlos ist und die Probleme lösbar sind, wenn man sie nur angeht". Waren das die damaligen Subtexte - die zentralen Wünsche und Fantasien der U.S.-Amerikaner? Der Aufbruch und der Durst - was war das in den nationalen Kontexten? Schwer zu sagen. Es sind so ungenaue Texte oder Narrative unbekannter Reichweite. Der aus einem offenbar tiefen Ressentiment gespeiste Hass auf den jetzigen  U.S.-Präsidenten, der in einer milden Form als Verachtung des gescheiterten, ehemals messianischen Politikers bei uns mittlerweile kursiert  - sein Ausmaß und seine Qualität sind sicherlich nicht abzuschätzen - ist enorm; gewissermaßen schlecht gefiltert schafft er heute in einem (für mich) unvertrauten Ausmaß seine politischen Realitäten; die U.S.A. wirken zerrissen. Diesen erschreckenden Eindruck hatte ich das letzte Mal am 3. 10.1995, als die Geschworenen im Mordprozess Orenthal James Simpson, den Football- und Schauspieler, freisprachen - und Fotos vom Jubel und vom Entsetzen bei uns erschienen und eine tiefe Kluft der nordamerikanischen Bevölkerung illustrierten.

Mit anderen Worten: welche Kontexte werden für die Deutung einer Gegenwart herangezogen und ausgewertet? Im Falle von JFK kann man sagen: er wird lebendig gehalten. Weshalb? In welchen Tagträumen? In welchen Fantasien? In welchen Gedanken und Erinnerungen? Who knows?
Am besten fängt man mit Beschreibungen der nationalen Zerrissenheiten in vielfältige, geschichtete Kontexte an - und hütet sich vor den vertrauten Kontexten, die der Beruhigung dienen.

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