Freitag, 6. Dezember 2013

Hypothese zur Wut auf den Tourismus

Gestern, am 5.12.2013, hatte die Redaktion der SZ für ihr Reisen-Buch die für den Kinogänger herrliche Idee, Drehorte und Reiseorte zusammen zu bringen; New York City schnitt dabei natürlich gut ab - so gut, dass Fritz Göttler, der Filmkritiker dieser Zeitung, keinen mächtigen Impuls  (oder muss er ihn mächtig in Schach halten?) verspürt, Manhattans Pflaster unter die Füße nehmen. Klar, so wie die Kino-Optik N.Y.C. oder andere nordamerikanische Städte oder Landschaften in den Blick nahm und nimmt, kriegt man das als Tourist nicht hin.

Tourist - diese Vokabel mit der für uns geläufigen negativen Konnotation fiel mir auf in einem anderen Text, in dem der Satz von Hans Magnus Enzensberger zitiert wurde: "Der Tourist zerstört das, was er sucht, indem er es findet". Dieser Satz ging mir nach. Leider konnte ich den Text nicht finden, in den er gehört. Er soll aus dem Jahr 1989 stammen. Also nicht aus Enzensbergers Einzelheiten. Bewusstseins-Industrie aus dem Jahr 1962, als er " Eine Theorie des Tourismus" vorlegte, die eher eine Hypothese des Tourismus war:
"Dies die unberührte Landschaft und die unberührte Geschichte, sind die Leitbilder des Tourismus bis heute geblieben. Er ist nichts anderes als der Versuch, den in die Ferne projizierten Wunschtraum der Romantik leibhaftig zu werden. Je mehr sich die bürgerliche Gesellschaft schloß, desto angestrengter versuchte der Bürger, ihr als Tourist zu entkommen".
Der vorletzte Satz des Textes:
"Der Tourismus zeigt, dass wir uns daran gewöhnt haben, Freiheit als Massenbetrug hinzunehmen, dem wir uns anvertrauen, obschon wir ihn insgeheim durchschauen".

So klang das Enzensbergersche Idiom Anfang der 60er Jahre. Heute würde er (vermutlich) den apodiktischen Tonfall (nichts anderes als, je mehr - desto, entkommen und  Massenbetrug) ironisch unterlaufen - diese Anpassung ans unbarmherzige Frankfurter Gewissen ist passé - , aber die Abneigung, sich einem Touristen zu nähern, ihn zu verachten und sich ins Fäustchen zu lachen über die ausgetretenen Wanderwege, auf denen man ihn (leider) wiederfindet,  kehren heute wieder in dem Zitat des über 20 Jahre alten Satzes vom Tourist, der zerstört, indem er findet.

Was zerstört er? Nimmt man den Satz wörtlich, dann modifiziert der Tourist sein Bild einer Stadt oder einer Landschaft, die sich ihm anders präsentiert. Das kann natürlich ernüchternd sein. Das Schlimmste, was einem passieren kann, sagte Sigmund Freud einmal, wäre die Erfüllung eines Kinderwunsches - eines besonders sehnsüchtig gepflegten Wunsches; er hatte die (mögliche) Begegnung mit Rom schlecht ausgehalten. Aber das meint der Satz vielleicht gar nicht. Das Problem ist der Tourist im Plural. Der oder die Reisende ist nicht mehr allein; der Strand ist besetzt, die Bucht belegt, und vor der Sehenswürdigkeit wartet eine lange Schlange. Die oder der Reisende ist nicht die oder der Erste. Im Plural ist man - bezogen auf die Gruppe der Einheimischen - ein Fremder; man fühlt sich ausgeschlossen. Allein glaubt man, unter den Einheimischen  - vielleicht - nicht aufzufallen und  die Illusion pflegen zu können, dazu zu gehören. Neulich fuhr ich auf den Parkplatz eines kleinen Hotels in Worcestershire: ich ertappte mich dabei, wie ich mir die Nummernschilder der anderen Fahrzeuge anschaute und Ausschau hielt nach einem bundesdeutschen Kennzeichen. Ich fand keins, aber beim Frühstück saß (leider) am Nebentisch ein Deutsch sprechendes Paar mit adoleszenter Tochter.

So verstanden, repräsentiert der  Tourist (auf den ich innerlich mit dem Finger zeige, ohne mit dem Finger auf ihn zu zeigen) die Projektionen der (abgelehnten) Aspekte meines Selbstbildes und meiner Identität. So verstanden, verdichtet die dem Touristen attestierte Zerstörung den eigenen Wunsch, dem Landsmann oder der Landsfrau nicht zu begegnen. Und was ist mit dem so genannten Massen-Tourismus? Den hatte doch wohl Hans Magnus Enzensberger im Sinn? Das ist eine andere Geschichte.  Man kann sie lesen als das Produkt einer von vielen Prozessen der Demokratisierung oder, anders gesagt, der Assimilierung aristokratischer Lebensformen. Das Auto ist das vertraute Beispiel. Es ist ein Kind der Kutsche. Früher war die von Pferden gezogene Kutsche ein wirklich kostspieliges, nur der Oberschicht verfügbares Vergnügen, aus den Kosten ein Spiel zu machen. Heute haben die Pferde-Kutschen unsere Welt und unsere Lebensformen verändert - das touring by car wurde so möglich. Und wie das so ist: eine oder mehrere Industrien realisieren diese Vergnügen und beuten sie aus zu unserem Vergnügen und zu unserem Missfallen.

Schreiben ist übrigens ähnlich wie Reisen in der Hinsicht: jemand war (fast immer) schon vor einem da. In meinem Fall hier war es Joseph von Westfalen, der im TRANSATLANTIK-Heft  8/1984 den Text schrieb: "Der deutsche Stolz. Geschichte einer Kränkung". 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen