Montag, 16. Dezember 2013

Die Melodie des Klagens

Am Samstag druckte der Kölner Stadt-Anzeiger sein Interview mit Hartmut Rosa ab, dem, wie es dort hieß, "Zeitforscher und Soziologieprofessor" (in Jena). Er ist der Verfasser des Buches mit dem Titel Beschleunigung und Entfremdung: Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit". Der Titel kombiniert Karl Marx mit Theodor Wiesengrund Adorno und der Andeutung eines vagen Zeit-Empfindens.

Was sagt Hartmut Rosa? "Ob in Wirtschaft, Kirchen, Pflege, Bildung - auf jedem Sektor haben ganz viele Menschen das Gefühl, die Beschleunigung betrifft nicht nur ihre Arbeit, sondern die ganze Art des Lebens. Sie ist zur nagenden Erfahrung geworden, die jeder kennt".
Frage: "Woher kommt eigentlich das Gefühl, dass alles schneller wird?"
Hartmut Rosa: "Die Geschwindigkeitssteigerung ist erst einmal real... ein Grundphänomen der modernen Gesellschaft seit 300 Jahren. Durch die technische Steigerung etwa beim Transportwesen oder bei den Kommunikationsprozessen können wir Dinge und Menschen immer schneller in Bewegung setzen. Aber seit 1990 gibt es eine qualitativ neue Beschleunigungswelle. Durch die Digitalisierung, das Internet und die Öffnung der Finanzmärkte".
Frage: "Mit welchen Folgen?"
Hartmut Rosa: "Das setzt eine beschleunigte Veränderung unserer Umwelt in Gang... Die Basis der Beschleunigung ist die Wettbewerbslogik der Gesellschaft: Kapitalismus ist per se steigerungsorientiert.... Im Ergebnis beschleunigen wir alles: Wir stellen mehr her, konsumieren mehr, haben mehr Sozialkontakte. Auf allen Kanälen steigern wir den Takt und die Optionen. Nur die Zeit, die Optionen auszuschöpfen, bleibt immer gleich".

Bei Allaussagen vom Zuschnitt alles oder immer werde ich hellhörig. Beschleunigen wir alles? Natürlich nicht. Der Straßenverkehr wird langsamer, die Staus größer, ein Spielfilm oder ein Fußballspiel dauert noch immer gute 90 Minuten - allerdings die Schulzeit und das Studium werden kürzer, da wurde, könnte man sagen, beschleunigt. Aber auch da muss man fragen: sind die Lernprozesse tatsächlich beschleunigt worden? Sie wurden (in der Schule) verkürzt und  (in der Universität) gestutzt: Umwege sind weniger möglich, Abschweifen (in andere Fächer oder Lektüren) ist nicht zu empfehlen; die Prüfungstakte wurden erhöht. Es ist kompliziert. Am besten sieht man zuerst die eigenen Lebensrealität durch. Ich konsumiere weniger, ich habe weniger Sozialkontakte; ich beschränke mich. Aber das hängt u.a. mit meinem Alter (ich bin 1945 geboren) und meiner veränderten Lebensrealität zusammen. Lebensrealitäten auf den einen Nenner gemeinsamen Zeit-Erlebens zu bringen, halte ich für ein unmögliches Unterfangen. Der Soziologe Hartmut Rosa sieht die großen Einheiten, die weitreichenden Muster. Die Frage ist, wie weit trägt die Beschreibung der Beschleunigung?

Nicht weit. Man müsste sie zuerst deklinieren nach Beruf, Status, Schicht, Lebensverhältnisse. Das wäre die Aufgabe groß angelegter Forschung. Aber auch ohne solche Forschung lässt sich die Beschreibung der Beschleunigung als (soziologische) Gesellschaftsdiagnose durchgehen. Beschleunigung ist das Narrativ einer Klage, die mit den Worten angestimmt wird: man kommt zu nichts; das Leben geht an einem vorbei; die Zeit verfliegt. Es ist die Klage eines Verfehlens. Wir leben in einer Zeit des Missverhältnisses riesiger (buchstäblich globaler) Wahl-Möglichkeiten - Rosa nennt das Optionen - und mächtiger Fantasien des Glücks einerseits und begrenzter eigener, individueller Fähigkeiten und Möglichkeiten. Wer eine Wahl trifft, legt sich fest und schließt viele andere Wahlen aus. Ein Leben offeriert eine begrenzte Auswahl an Wahlen; man kann nicht mit ihnen experimentieren, man muss sie leben. Ein Leben ist begrenzt; um diese Lebenstatsache geht es. An der  Evolution einer Gesellschaft kann man nur eine Lebensspanne teilnehmen; mehr ist nicht drin. Der Aufschrei über unsere Vergänglichkeit beschleunigt unser Klagen.

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