Samstag, 4. Mai 2013

Fußball-Theater

Umberto Eco schrieb 1980 seinen Text Sportgerede. Seine Beobachtung: das Sprechen über den Sport ersetze oder verdränge den öffentlichen Diskurs über die relevanten Fragen. Seit dem 4. Juli 1954, unserem heimlichen nationalen Feiertag, wissen wir: unser Fußball dient - knapp gesagt - der Regulation der nationalen Identität und des nationalen Grundgefühls. 1954 ging ein enormes Aufatmen durch die junge Republik. Es ist nicht vergessen. Gegenwärtige Klage: Deutschland war lange nicht mehr Weltmeister. Jetzt gibt es den 25.5.2013: zwei bundesdeutsche Mannschaften sind im Londoner Wembley-Stadion im Finale der Champions League. 1966 war Wembley der Ort der Schmach, als ein Tor anerkannt wurde, das kein Tor war - was der damalige Bundespräsident schon wusste. Die Schmach wird repariert - ausheilen wird sie nicht. Aber jetzt können wir noch mehr sehen: Moral, Schuld, Lebensentwürfe, Kapitalismus und Anti-Kapitalismus werden mit der Aufregung um das Endspiel verhandelt. München gegen Dortmund - die Bilder sind, hier ist der Vorschlag für eine Liste: die Glitzerstadt gegen die Anti-Glitzerstadt, das Grün und Blau von Bayern gegen das (alte) Grau des Ruhrgebiets, Hochgeschlossen gegen Hochgekrempelt, Filzstift gegen Schaufel, Schlau gegen Redlich, BMW gegen Opel, geringe Arbeitslosigkeit gegen hohe Arbeitslosigkeit, Aufstieg gegen Abstieg. Die Zerrissenheit der bundesdeutschen Identität kommt im Fußball-Theater auf die Bühne. Die Frage der Schuld beispielsweise - so alt wie die Bundesrepublik - : ist jemand, der sich schuldig gemacht hat, doch unschuldig? Muss er oder sie nicht doch besser geschont werden, weil er oder sie eigentlich für die eigene Schuld nichts kann und weil eine Straf-bewehrte Konsequenz nicht zuzumuten ist? Die Frage des Anstands: kann man sich nehmen, was man kriegen kann? Muss man sich nehmen, was man kriegen kann? Die Frage der Moral: darf man das psychosoziale Gefüge einer Mannschaft, die  ein wichtiges Spiel vor sich hat, torpedieren? Die Frage des Lebensentwurfs: wie wollen wir leben? Ich bin natürlich fürs Ruhrgebiet. Leider werden diese Fragen am 25.5.2013 nicht geklärt. Hoffentlich kommen sie hier bald auf den Tisch.   

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