Freitag, 11. Oktober 2013

Was gibt es Neues über Adolf Hitler?

In der ZEIT (Nr. 40 vom 26.9.2013, S. 17 - 20) stellte die Redaktion ihren ehemaligen Kollegen Volker Ullrich mit den Worten vor: "Als Hitler sich selbst erfand. Unser Autor ist der erste deutsche Historiker, der nach Joachim Fests Werk von 1973  eine große Biografie des Diktators gewagt hat. Er zeichnet das Bild eines Menschen, der seine wahren Seiten verbarg und auf dessen Inszenierung wir noch heute hereinfallen".  Volker Ullrich sollte sich bei seinen Kollegen für die Falle mit dem Hereinfallen bedanken. Das Verbum enthält schwierige (naive) Konzepte. 1. Es  stimmt (implizit) das Lied der Rechtfertigung von der manipulativen Interaktion von Betrüger und Opfer und von einer schlichten Schuld-Verteilung an: der Betrogene ist für seinen Schaden nicht verantwortlich. Das müsste man aber im Einzelfall prüfen. 2. Es enthält eine latente Psychologie vom Betrüger: er trägt eine Maske und verbirgt sein wahres Gesicht, wie wir sagen. Die Dichotomie von Maske und Gesicht entspricht der bekannten (entlarvenden) Ontologie von Bühne und Kulisse: dort setzten die Akteure ihre Masken ab. Verstehen oder sehen wir sie dann besser? Der Betrüger, der betrügt, sagt seine Wahrheit - indirekt: zumindest spricht er über seine Fähigkeit zu betrügen; möglicherweise verfolgt er selbstzerstörerische Absichten, indem er vertrauensvolle Beziehungen zerstört und dabei vereinsamt. Christopher Bollas, der kalifornische Psychoanalytiker, hat darauf hingewiesen. Und der Akteur auf der Bühne ist ebenfalls enorm persönlich engagiert. 3. Das Verbum transportiert einen voyeuristischen Wunsch: man begnügt sich nicht mit dem, was man sieht und empfindet; es ist die Frage, welche Erkenntnisabsicht man mit dem Blick hinter die Kulissen verfolgt; das müsste man ebenfalls prüfen.

"Hitler ist ein Rätsel", schreibt Volker Ullrich, "er war es sogar für seine nächsten Gefolgsleute". Klingt vertraut, aber stimmt es auch? Adolf Hitler hat seinen zur Politik transformierten mörderischen Hass  nie verschwiegen; regelmäßig redete er er sich in Rage; er etablierte, sobald er sein politisches Amt inne hatte, mit Hilfe der Ministerien und Apparate und Gruppierungen sofort die Praxis der symbolischen, der psychischen und bald der physischen Vernichtung. Wo ist das Rätsel? Ich finde es ein Rätsel, nach dem Rätsel Adolf Hitler zu fragen. Wenn man allerdings den miserablen Chaplin-Film über den großen Diktator - den übrigens Ullrich favorisiert - daraufhin ansieht, bleibt man tatsächlich irritiert zurück. Aber wenn man die von geneigten Juristen formulierte Gesetzgebung  im Frühjahr 1933 und später verfolgt, weiß man Bescheid. Man muss die Absichten zusammenzählen. Vielleicht klangen sie damals so monströs, dass Viele sich buchstäblich wegduckten. Vielleicht sympathisierten auch Viele mit dem angekündigten Mord-Programm. Wir wissen es nicht genau. Das Rätsel sind die von Ullrich genannten Gefolgsleute: was dachten sie sich? was fantasierten sie? was erträumten sie? was ließ sie folgen? Folgten sie überhaupt? Das Wort von den Gefolgsleuten impliziert eine Beziehung der Unterwerfung. War das so?  Welche Beziehungen hatten die Beamten und Berater zu ihrem Regierungschef und alle die anderen, die ihm oder den anderen nationalsozialistischen Repräsentanten und Funktionären für den deutschen Gruß den rechten Arm entgegen streckten?  Welche Projektionen, Fantasien, Wünsche prägten diese Beziehungen? Wir wissen es nicht. Noch immer sind Joseph Goebbels' Tagebücher die einzige relevante Quelle für diese Fragen. Die anderen Parteigänger, Funktionäre, Berater, Mitglieder der Stäbe gaben keine oder ungefähre, geschönte Auskunft. Deshalb sind die Beziehungsgefüge ungeklärt.  Nur nach Adolf Hitler zu fragen, wie es Volker Ullrich sich vornimmt, blendet die Beziehungsgefüge aus, die Adolf Hitler zu Adolf Hitler machten. Zudem, ich weiß nicht, ob Volker Ullrich das ausreichend bedacht hat, perpetuiert die Frage nach dem Rätsel Adolf Hitler dessen seltsame Faszination und macht ebenfalls Adolf Hitler zu Adolf Hitler und verhindert eine nüchterne Sicht.

"Hitlers Charakter zu entschlüsseln wie einen Gencode - das bleibt vielleicht eine Unmöglichkeit, so unmöglich wie eine nachgetragene Psychoanalyse oder faschismustheoretisch bewehrte Pathogenese. Möglich aber ist, die erhaltenen Fragmente zu einem Persönlichkeitsbild zusammenzusetzen", verspricht Volker Ullrich. Ein Persönlichkeitsbild, keine nachgetragene Psychoanalyse - was Theorie-los zu sein ankündigt wird (wieso eigentlich?), ist natürlich nicht Theorie-los. Wenig später schreibt er: "Das Minderwertigkeitsgefühl des früh Gescheiterten saß tief". Minderwertigkeitskomplex lautet das Konzept des Psychoanalytikers Alfred Adler. Die Diagnose der Tiefe setzt eine intime Kenntnis voraus.  Volker Ullrich tut das, was er nicht zu tun beabsichtigte. Übrigens existieren sorgfältige Explorationen  bereits - Ullrich hat sie nur nicht zur Kenntnis genommen, sah ich in einem Exemplar seines Buches auf der Frankfurter Messe: Norbert Brombergs und Verna Volz Smalls "Hitler's Psychopathology" (von 1983) taucht (beispielsweise) im Literaturverzeichnis nicht auf. So kann er sich nicht mit einem psychoanalytischen Versuch auseinandersetzen. Aber auch die Kenntnis der Persönlichkeit erklärt nicht den schrecklichen Zerstörungsprozess der Jahre 1933 - 1945 und die fürchterliche mörderische Orgie der letzten sechs Jahre.  Wahrscheinlich werden wir darüber, befürchte ich, kaum Neues erfahren. Es wird bei der bekannten indirekten, heimlichen Idolisierung des Mannes aus Braunau bleiben.

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