Mittwoch, 10. April 2013

Der Kino-Kalligraph

Pauline Kael, die verstorbene, großartige Filmkritikerin des The New Yorker, sagte einmal: Sie sehe sich Kinofilme nur einmal an. Sie wollte sich ihren ersten Eindruck erhalten. Sie war, man kann es ja ruhig auf Englisch sagen, enorm - quick. Das bin ich nicht. Ich weiß manchmal erst beim zweiten Sehen, was ich von einem Film zu halten habe. Beispielsweise wird Tony Scotts Unstoppable (U.S.A. 2010) von Mal zu Mal besser - ich habe ihn fünfmal gesehen. Alfred Hitchcocks Filme habe ich x-mal gesehen - meinen Lieblingsfilm North By Northwest ca. achtzig Mal. Manche Filme erweisen sich als enorm robust. Von den Filmen Michael Hanekes kann ich das nicht sagen: einmal gesehen, bin ich desinteressiert. Einmal gesehen, weiß ich: Ich habe die Katastrophe, den mörderischen Abgrund gesehen und ausgehalten. Einmal gesehen, weiß ich, warum es geht: um das verschlungene,
rätselhafte Spiel mit dem Einbruch des Grauen. In den Filmen Michael Hanekes, die ich kenne (Bennys Video, Funny Games, Caché, Das weiße Band, Amour), muss ich auf diesen Augenblick warten - dann sind sie überstanden; mehr haben sie nicht zu bieten.

Dann sind sie übersichtliche Geschichten. Bennys Video: die Geschichte einer entgleisten Sozialisation in einem verwahrlosten familiären System. Funny Games: das medienpädagogische Rigorosum des Gewalt-Vergnügens, aus dem der Kinoautor Haneke den Ausweg anbietet, als er sein Publikum fragt: Wollen Sie mehr - an Gewalt? Da wusste ich, wo ich war: in einem Anti-Peckinpah-Film, der Straw Dogs auf den Kopf zu stellen probierte. Caché: Michelangelo Antonionis Blow Up eine Schrauben-Drehung weiter erzählt. Das weiße Band: die deutsche sadistische Erziehungs-Kultur und ihre traumatischen Beschädigungen. Amour: der Verfall und die Desintegration der Beziehung eines alten, ungleich alternden Paares mit dem Ausgang eines seltsam in der Schwebe gehaltenen, kitschig  verbrämten Totschlags, bei dem man sich aussuchen kann, ob er vom dekompensierenden Protagonisten halluziniert oder verübt wurde; nüchtern und liebevoll dagegen hatten Sarah Polley mit Away From Her und Richard Eyre mit Iris die Tragödie der Unerreichbarkeit und des Verlusts erzählt.

Michael Haneke, das kann man an seinem letzten Film Amour sehen, ist ein von Alfred Hitchcock  inspirierter Kinoautor. Die Ausstattung der großbürgerlichen Pariser Wohnung ist glänzend: man kann das Alter der Protagonisten an der Ausstattung sehen und buchstäblich riechen. Die Ausstattung erreicht das Niveau von Alfred Hitchcocks Ausstatter Robert Boyle in North By Northwest. Seine letzten Filme leben von einer präzisen Fotographie. Michael Haneke ist kein Mann des Kinos. Seine Filme finde ich (manchmal) schön, aber kalt. Freiwillig, nur zu meinem Vergnügen, würde ich mir einen seiner Filme nicht ansehen.  Er ist der Mann, der das U.S.-Kino zu dekonstruieren versucht, aber von dem U.S.-Kino lebt - als Ausgangspunkt für eine alte, umstrittene, streng und hermetisch kommunizierte Medien-Kritik an der Gewalt des Kinos. Anthony Lane überschrieb seinen Aufsatz im The New Yorker über Michael Haneke mit Happy Haneke - er meinte dessen Spaß, dem Publikum einen Erziehungsdurchgang aufzuzwingen: Gewöhnt euch das Vergnügen am robusten Kino ab! Seltsamerweise wird diese Version von verordneter Kinodiät ausgezeichnet. Aber vielleicht dienen seine Filme als Bußgang fürs schlechte Gewissen der schreibenden Kinogänger, die immer noch Vergnügen am nordamerikanischen Kino haben und nicht so recht wissen, wie sie es behaupten können gegen den Kalligraphen mit dem großen Zeigefinger.

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