Mittwoch, 10. April 2013

Wo sind die Ludwig Marcuse-Leserinnen und Leser?

Rolf Hochhuth empfahl einmal, es ist lange her und gehört in die 60er Jahre, den richtigen Marcuse zu lesen: nicht Herbert, sondern Ludwig Marcuse. Er ist vergessen und nicht vergessen: Ich finde ihn nirgendwo zitiert, aber viele seiner Bücher sind noch im Diogenes-Verlag zu haben und finden - leider gibt der Verlag keine Verlaufszahlen an -  ihre Leserinnen und Leser. Seltsam. Sein Mein 20. Jahrhundert, 1960 erschienen, von mir um 1961 auf die Empfehlung des Bibliothekars der Volksbücherei in Köln-Sülz hin gelesen, ist wahrscheinlich - Selbst-Diagnosen sind heikel - das für mich wichtigste Buch; wahrscheinlich bin ich mit ihm - so das mit einem Autor geht - am stärksten identifiziert. Wahrscheinlich war er damals, in den 50er und 60er Jahren, ein einflussreicher Autor, der auch für den Merkur und die Zeit regelmäßig schrieb. Er wurde - obgleich ein moderner und heute sehr aktueller Autor - in der öffentlichen Diskussion freundlich ignoriert - wahrgenommen, aber nicht aufgenommen. Das hängt mit unserer komplizierten Nachkriegsgeschichte, mit der schwierigen Auseinandersetzung um die so genannte, aber unmögliche Bewältigung der Vergangenheit zusammen - und mit dem selbstgerechten, moralischen Rigorismus, der die Frage der Schuld-Verhältnisse nicht ausreichend in einem komplexen Spektrum von Handlungsformen differenzierte.

Ludwig Marcuse votierte für das Individuum und dessen Verantwortung; er hatte sehr genau im Blick, wie die deutschen Eliten dazu beigetragen hatten, die nationalsozialistische Regierung salonfähig zu machen und zu halten; er war sehr für die Differenzierung der Verantwortung. Das wollte man in der Nachkriegszeit nicht so genau wissen. Er wurde vorsätzlich missverstanden. Er war ein Hymniker des individuellen Lebens; er wehrte sich gegen die großen Theorien, die den Einzelnen klein hielten. Das war nicht seine Sicht. Er war auf der Seite des Einzelnen - zu recht. In jeder Psychotherapie wird die individuelle Lebensgeschichte durchgesehen, sortiert und in Narrativen geordnet. Der Einzelne, erfahren wir heute wieder drastisch, droht in seiner Not, wie es  schon immer gang und gäbe war, übersehen zu werden. Das sah er schon früh. So war er ein Opponent der verdrucksten, herrschaftlichen Formel vom falschen und richtigen Leben des Frankfurter Philosophen Theodor Wiesengrund Adorno.

Sie kannten sich seit den 30er Jahren und hatten später Kontakt in Kalifornien. Ludwig Marcuse in seinem Zwanzigsten Jahrhundert: "Ich werde nicht den Abend des Jahres 1947 vergessen, an dem Thomas Mann zu einer Vorlesung 'Nietzsches Philosophie im Licht der Erfahrung' in sein kalifornisches Haus ein lud: A und uns"(S. 51). Thomas Mann in seinem Tagebuch (25.3.1947) dazu: "Vorlesung des ganzen Nietzsche-Aufsatzes in 2 Stunden, unterbrochen durch Souper-Pause, für Adorno's, Markuse's, Speyer, K. u. Klaus Pr.. Erheblicher Eindruck" (S. 109). Theodor Wiesengrund Adorno in seinem Brief an Max Horkheimer vom 13.12.1963: "... hier schicke ich Dir einen Aufsatz des Herrn Ludwig Marcuse, der gegen uns, spezifischer wohl gegen mich gerichtet ist; ein Satz ist eine private Unverschämtheit. Ich meine nun doch, man müsste da etwas Energisches tun, und ich wäre Dir dankbar, wenn Du ihm so eindeutig schriebest, daß es den Bruch bedeutet. Mit so etwas kann man sich nicht mehr an einen Tisch setzen. Die Arbeit charakterisiert ebenso sein erbärmliches Niveau wie sein abscheuliches Ressentiment" (S.722).

Ludwig Marcuse hatte in seinem Text "Zur Verteidigung der Massenkultur" geschrieben: "Die Wirkung einer Musik darf nicht befohlen werden. Man kann nicht diktieren, wie Beethoven gehört werden soll; wem er nichts gibt, der soll ihn gar nicht hören. Es kommt nicht darauf an, dass er 'richtig' aufgenommen wird (nach dem Ukas irgendeines Musikologen), sondern dass er genossen wird". Der Musikologe war eine schlechte Note; der kalifornische Professor aus Los Angeles machte sich über den Frankfurter Professor lustig. Der Frankfurter Professor schlug darob grob um sich. Wobei sein Wort vom erbärmlichen Niveau gut auf seinen eigenen Aufsatz Über Jazz passt - eine kindische Arbeit, mit der er - so meine Lesart - 1938 offenbar Sigmund Freud zu erreichen versuchte. Gegen Adornos majestätischen Tonfall, der in den 60er Jahren zum herrschenden Tonfall wurde, kam Ludwig Marcuse nicht an. Er hatte eine andere Statur, war kein beflissener Langweiler und klang mit seiner tiefen Stimme auch anders. Er war zu stolz, um sich intellektuell zu spreizen; er hatte es nicht nötig. Er zwang einen auch nicht in seinen Text hinein; er ließ sich tatsächlich genießen. Ludwig Marcuse ist, nach meiner kürzlichen Wieder-Lektüre (seines Mein 20. Jahrhundert), ein Genuß zu lesen  - der  erstaunliche Autor, der großzügig gab.

(Überarbeitung: 23.2.2016)

            

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen