Mittwoch, 13. November 2013

Gibt es ein digitales Ich?

"Als die Menschen noch wussten, was Liebe ist" - ist der Text in der heutigen SZ (vom  13.11.2013, S. 18) überschrieben, der die Frankfurter Veranstaltung eines "philosophischen Gesprächs" in der UBS-Bank referiert. Es sprachen: Peter Sloterdijk und Frank Schirrmacher. Frank Schirrmacher ist unser Internet-Apokalyptiker, der sich in seiner Besorgnis schon einmal verstolpert. Zum Beispiel würden einige "Internetgiganten" unser alltägliches Verhalten "komplett erfassen, jede Bewegung, um es zu Geld zu machen" - ich zitiere den Referenten, der Schirrmacher zitiert, der behauptet, wir hätten einen "Doppelgänger im digitalen Raum", ein digitales Ich, das "beginne wichtiger zu werden  als das reale".

Das ist mächtige Schwarzmalerei - abgesehen von der seltsamen Konstruktion eines digitalen Ichs. Am besten spricht man ja zuerst von den eigenen Erfahrungen. Ich bin Kunde bei Amazon, wo ich, seit das hmv-online-Geschäft in London insolvent wurde, meine DVDs regelmäßig bestelle. Seitdem bekomme ich eMails, die mich darüber informieren, welche ähnlichen Filme zu meinem letzten bestellten existieren und welche Filme andere Kunden orderten, die auch meinen Film bestellten. Das finde ich gar nicht schlecht, so bekomme ich Anregungen. Ich werde auch über neue DVDs informiert, über TV-Serien usw. Bin ich auch nicht böse drüber. Was mich nicht interessiert, klicke ich weg. Aber ich habe noch nie gesehen, dass die von den Amazon-Rechnern heraus gerechneten Angebote meinen Geschmack und meine eigene Suche getroffen hätten: die sind offenbar nicht bekannt. Wie soll das auch gehen? Wie soll ein Rechner aus meinen Kauf-Entscheidungen meine Intention herausrechnen können? Das kann er nicht, weil er meine Kino-Erfahrungen der 50er Jahre - beispielsweise - nicht kennt: die existieren nur in meinen Erinnerungen. Man kann es anders sagen: eine retrospektive Extrapolation von Verhaltensdaten zur Vermutung einer Absicht ist problematisch, weil sie die Kontexte vermischt und auf die alte  Wissenschafts-Kontroverse hinausläuft: kann man vom Verhalten auf die innere Welt eines Menschen schließen? Also: Behaviorismus contra Introspektion? Nein, man kann nicht. Um die Introspektion, also um die Selbst-Auskunft, kommt man nicht herum. Die Subjektivität als unser Erkenntnis-Mittel müssen wir schon hinzu bitten. Ohne Subjektivität lebt ein Ich nicht. Das digitale Ich ist eine Schimäre.

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