Dienstag, 12. November 2013

Anmerkung zum methodischen Problem des Journalismus

Gute Journalisten bringen, neben ihren Aufgaben der Information, Klärung und Kontrolle, enorme synthetische Leistungen zustande: sie beschreiben und deuten die Texte und Subtexte des öffentlichen Diskurses; sie ordnen die Vielzahl und die Komplexität der kursierenden Texte. In dieser Aufgabe sind sie Gruppen-Therapeuten ähnlich, die das interaktive Geschehen von Mitgliedern von Gruppen  - Übertragungen, Projektionen, geteilte Fantasien und die mit ihnen verbundenen Affekte - identifizieren, ordnen und interpretieren; ihre Interventionen sind Erfahrungs- und Theorie-geleitet. Welche Theorien-geleitete Methoden haben Journalisten? Diese Frage hatte ich, als ich Kurt Kisters  Aufsatz "Beziehungsweise. Die Kanzlerin und der U.S.-Präsident brauchen einander. Aber das Vertrauen ist erst mal weg. Über die Unmöglichkeit der politischen Freundschaft" (SZ vom 9./10.11.2013 Nr. 259; V2 S.1) las. Das Problem der Vokabel vom Vertrauen als Beschreibungsbegriff für die (behauptete) symmetrische Beziehung der Regierungschefin zu ihrem Kollegen, der wahrscheinlich eher ein Über-Kollege ist, erörtere ich jetzt nicht (s. meinen Blog vom 12.11.2013: Ziemlich beste Friends). Mir fiel dieser Satz auf:
"Für Merkel aber, und nicht nur für sie, ist Obama, jenseits seiner zweifelsohne bedeutenden Position, die geradezu nach einer Müntefering-Freundschaft schreit, ein eloquenter, zu pathetischer, zu häufig unzuverlässiger Präsident, mit dem sie trotzdem auskommen muss".

Ist Obama zu pathetisch, zu häufig unzuverlässig? Woran hat Kurt Kister das gemessen? An seiner eigenen Bewegtheit oder Rührung beim Anhören einer Obama-Rede? Die U.S.A. haben ganz anders als wir eine Kultur der nationalen Selbstvergewisserung - die wir uns nicht zutrauen: nicht zutrauen können.  Und was ist: zu häufig unzuverlässig? Nicht eingelöste Versprechen? Wir wissen nicht, welche Machtverhältnisse Barack Obama vorfand und (vielleicht) unterschätzt hatte; wir wissen nicht, welche Realitäten der Hass des Ressentiments wo und wie etablierte. Und muss unsere Kanzlerin mit ihm auskommen? Das Auskommen ist ein Verbum, das zu einer persönlichen, direkten Beziehung gehört, in der die Beteiligten ihre Interessen und Positionen (Eheleute wie Angestellter und Chef) aushandeln. Aber die Beziehung von Merkel und Obama ist keine persönliche, direkte Beziehung, sondern eine unpersönliche, indirekte, weil von den eigenen Apparaten und von den Interessen des eigenen Landes strukturierte Beziehung. Auskommen: reduziert die Komplexität der Gestaltung einer politischen Beziehung. Das Problem für den Journalisten sind seine Theorie des Verständnisses von Interaktionen (die Gefahr, auf vertraute Beziehungsmetapher zurückzugreifen), sein Blick des von den politischen Beziehungen Ausgeschlossenen  - ihm bleibt die Wahrnehmung der vermittelten Politik - und die Beschreibungen für das Geschehen realer politischer Beziehungen aus zweiter, dritter oder vierter Hand. Der Journalist kann seine persönlichen Berichterstatter nicht nennen; so kann er auch nicht sagen, wie er deren Berichte mit welchen Hypothesen liest. Wir wiederum können sie leider nicht prüfen, wohl die Plausibilität der Texte und Argumente.


(Überarbeitung: 7.5.2015)

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