Montag, 16. September 2013

Welche Beschämung ist zumutbar?

Am letzten Donnerstag, dem 12. September 2013, berichtete die SZ auf ihrer ersten Seite: "Muslimische Mädchen müssen zum Schwimmunterricht". Das Leipziger Bundesverwaltungsgericht hatte einen Tag zuvor entschieden: dass muslimische Schülerinnen mit einem als Burkini verkalauerten Badeanzug "ihren religiösen Bekleidungsvorschriften gerecht werden" könnten, schreibt Johann Osel von der SZ. Er zitiert offenbar aus dem Urteil, dass das "Grundrecht der Glaubensfreiheit keinen Anspruch darauf schaffe, in der Schule 'nicht mit Verhaltensgewohnheiten Dritter konfrontiert zu werden, die außerhalb der Schule an vielen Orten beziehungsweise im Alltag verbreitet sind'". Möglicherweise liest sich das komplette Urteil anders. Aber an diesem Satz fällt der selbstgerechte Ton auf, den wir aus den Tagen alter Erziehungspraxis kennen: wenn du deine Füße unter meinen Tisch .... Zu weit gegriffen? Das Argument mit dem Alltag ist auch unscharf: niemand zwingt mich zuzusehen; was ich nicht sehen will, sehe ich nicht. Aber um das Sehen-Müssen geht es gar nicht so sehr, sondern um das erzwungene Gesehen-werden: um die Selbst-Präsentation in Gegenwart junger Männer, der sich manche muslimisch gebundene Schülerinnen nicht aussetzen möchten. Wir sind bei dem Problem der Scham.

Dazu schreibt Johan Schloemann in der SZ einen Tag später auf der zweiten Seite:
"Dieses Gefühl der Scham ist keine 'Ausübung' der Religion im engeren Sinne, schon gar keine rituelle, gottesdienstliche oder sonst wie von der religiösen Gemeinschaft vorgeschriebene und praktizierte Handlung - sondern einfach eine Begegnung des religiös erzogenen oder gestimmten Menschen mit dem säkularen Alltag". Einfach ist zu einfach. Wo gehört die Scham hin? Scham ist eines unserer zentralen affektiven Regulationssysteme, mit dem wir unsere (wahrgenommene) Handlungspraxis mit unseren tiefsten Überzeugungen regulieren. Beschämt zu werden ist eine schreckliche Erfahrung und erschüttert unser Selbst-Gefüge. Die Würde des Menschen ist unantastbar, sagt der erste Artikel unseres Grundgesetzes, sie zu achten und schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Ich dachte immer, der Schutz vor Beschämung gehört dazu.

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