Freitag, 1. Juli 2016

Ein zweites Wort zur Inflation des Hasses

Heute morgen (1.7.2016, S. 13) veröffentlicht der niederländische Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seinen Text "Der Terror hat sehr viel mit dem Islam zu tun. Auch das Attentat in Orlando sollte die Tat eines Einzelgängers sein, der die Religion nur zu seiner Rechtfertigung missbraucht - ein gängiges Erklärungsmuster. Wie glaubthaft ist es?".

Zwei Anmerkungen zum Titel. 1. Natürlich haben die Morde mit der islamischen Religion zu tun. Die Frage ist: wie viel? Das wissen wir nicht. 2. Auch ein Einzelgänger ist nicht allein: seine innere
Welt dürfte mit Leuten bevölkert sein, mit denen er zumindest in fantasierten Beziehungen in Kontakt ist; diese Art von Beziehungen, die für ihn real sind, kennen wir nicht. Malcom Gladwell hat dazu neulich seinen Text "Threshold of Violence" im The New Yorker veröffentlicht (10/19/2015).

Ruud Koopmans schreibt: man "muss zunächst Aussagen und Verhalten des Täters selbst ernst nehmen". Keine Frage. Aber man muss auch das ernst nehmen, was er nicht sagt - womit und mit wem er in seiner inneren Welt noch beschäftigt ist. Osmar Mateen äußerte sich auf Facebook - so zitiert ihn Ruud Koopmans: "Die echten Muslime werden die dreckigen Wege des Westens nie akzeptieren. Ihr tötet unschuldige Frauen und Kinder durch Luftschläge. Spürt nun die Rache des Islamischen Staates". Was sagte er zu seiner inneren Welt, zum Ausmaß und zur Qualität seiner mörderischen Rage? Er gab mit seinem mörderischen Handeln Auskunft über seine immense Rage. Ihre lebensgeschichtlich relevanten Kontexte sind nicht bekannt.

Drei Seiten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zurück: Matthias Hannemann bespricht die umfangreiche, enorm gründliche Arbeit von Asne Seierstad "Einer von uns". Sein Text hat den Titel: "Herr Möchtegern ist jetzt Terrorist". Der Möchtegern  ist die Vokabel seines Miss- und Unverständnisses. Er moniert an Asne Seierstads Arbeit: "...ob man sich den politischen Facetten des Themas, die bei Seierstad natürlich vorkommen, aber nur en passant behandelt werden können, nicht trotzdem noch einmal intensiver annehmen muss". Seierstads Versuche, sich der inneren Welt von Anders Breivik zu nähern, waren ihm offenbar nicht genug. Er führt diesen (vertrauten) Kontext ein: "Die Islamophobie und der Hass auf die weltoffene Demokratie und ihre Repräsentanten nehmen in Zeiten des Populismus, der Flüchtlingsströme und der IS-Anschläge in Europa nicht gerade ab". Was besagt er dieser Satz über die innere Welt von Anders Breivik?

Eine Buch-Besprechung gibt nur indirekt Auskunft über die Beschäftigung des Rezensenten mit einem Text - man muss sie erschließen. Bemerkenswert finde ich, dass er nach der Lektüre des Buches von Asne Seierstad Anders Breivik einen Möchtegern nennen kann. Bemerkenswert finde ich auch, dass er Karl Ove Knausgaards Text "The Inexplicable. The terrible enigmas of Anders Breivik" nicht berücksichtigt (The New Yorker, 5/25/2015, S. 28 - 32). Der Möchtegern ist auch das Wort der Verachtung. Asne Seierstad und Karl Knausgaard haben die Anstrengung des Verständnisversuchs unternommen. Der Hass droht zur Passepartout-Vokabel des Ablegens in die öffentliche Wiedervorlage zu werden.    

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