Sonntag, 31. Juli 2016

Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter) XXXII: Play it cool!

Gestern, dachte ich, als ich die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in der Hand hielt, ein Blatt der redaktionellen Aufgeregtheit aufzuschlagen (31.7.2016). Schon die erste Seite mit ihrer Stimmungs-mächtigen Schlagzeile Jugendliche spielen Amokläufe nach. Du meine Güte, dachte ich mit Schrecken: im Internet tummeln sich die potentiellen Mörder - war mein erster Einfall.

Mein zweiter Einfall: das kennst du - das je nach Gemütslage mehr oder weniger genussvolle Nachschmecken des fremden Leids, das Sich-Aufrichten und Sich-Beruhigen am fremden Leid. Schadenfreude ist die schönste Freude sagt unsere Alltagsweisheit bösartig-klug, aber präzise; im Englischen und Französischen gibt es übrigens das Wort Schadenfreude nicht. Das Vergnügen am Mord aus sicherer Entfernung zu pflegen, wird uns jeden Tag offeriert. Allerdings ist das Vergnügen am Mord ein schwieriges Vergnügen: der Blick in den Abgrund und das Elend des Tabubruchs. Weil es Tag für Tag im Wohnzimmer gepflegt wird, fällt es beim Nägelkauen oder Chips-Knabbern nicht auf. Manchmal, wenn es in den Tagesthemen einem entgegen zu kommen scheint, wird es ziemlich getrübt - dann dominieren der Schrecken, das Entsetzen, das Leid in einer Verfassung der Sorge und Aufgeregtheit. Freuds Konzept des Liebes- und des Todestriebs - verspottet und umstritten - ist noch immer relevant. Bislang ist es noch nicht widerlegt. Die Impulse des Liebens müssen die Impulse des Zerstörens binden können - sonst wird es ungemütlich. Es ist, so Freud, ein Wettlauf. Er ist noch nicht zugunsten der Lust an der Zerstörung entschieden. Jugendliche testen exzessiv ihre widersprüchlichen Impulse. Wenn wir uns gut erinnern, wissen wir: als Jugendliche spielten wir mit Vergnügen aggressive Spiele. Was würde man heute dazu sagen, dass wir früher regelmäßig rauften und uns prügelten, uns gegenseitig erschossen und uns vernichtende Vokabeln zusteckten? Früher blieb das robuste aggressive Vergnügen unter uns; kein Erwachsener erfuhr davon. Heute wird es gesteigert, indem es in einem imaginierten Forum von (wie auch immer ) Bekannten und von (fantasierten) Unbekannten geteilt und getestet wird; man kann annehmen, dass die vermuteten Jugendlichen auch eine erwachsene, sie orientierende Antwort auf ihr robustes Vergnügen erwarten. Man müsste sie sprechen können.

Mein dritter Einfall: was die Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zu meinem Frühstück auftischte, hat einen langen Bart. In den 50er Jahren kam die Frage zur verrohenden Wirkung von Kino-Gewalt in der Forschungs-Fragestellung auf: machen aggressive Kinofilme aggressiv? Ja und nein. Es hängt von den Suchbewegungen des Rezipienten oder der Rezipientin ab: wer sucht, der findet, und welchen Einfluss das, was er findet, auf ihn oder sie hat - hängt wieder um von den Suchbewegungen und den Realisierungswünschen ab. Der Weg zum Mord ist lang - Mord hat eine lange Vorgeschichte.

Mein vierter Einfall: zur später in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung aufgeworfenen Frage Kann man Terroristen erkennen? Nein, man kann es nicht. Die möglichen (Handlungs-bereiten) Täter müssten über ihre Impulse, Fantasien, Affekte Auskunft geben. Anders geht es nicht. Deshalb ist die erste und beste Prävention: der Kontakt der Eltern  zu ihren Kindern - sie sollten in etwa wissen, was ihre Kinder bewegt und wie ihre Interessen aussehen; sie sollten also in einem offenen Gesprächskontakt mit ihren Kindern stehen - wobei es die Kunst der Eltern ist, die Intimität ihrer Kinder zu bewahren und dennoch mit ihnen einen regelmäßigen relevanten Austausch zu pflegen.

Fünftens. Meine Erleichterung bei der Sonntags-Lektüre kam, als ich im Feuilleton (S. 37 - 38) das Gespräch mit Gerhart Baum, Burkhard Hirsch, Julia Encke und Anne Ameri-Siemens (von der  Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung) las über das Theaterstück von Ferdinand von Schirach Terror. Gerhart Baum: "Die Bundesrepublik hat sogar völkerrechtlich anerkannt, dass der Abschuss eines Passagierflugzeugs ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist, und sich verpflichtet, Terroristen nicht als Soldaten in einem Krieg zu behandeln, sondern als Verbrecher. Ich wehre mich leidenschaftlich gegen die ständigen Versuche, zu insinuieren, es handele sich in Wirklichkeit um einen kriegsähnlichen Zustand, in dem wir uns befinden".

Sechstens. Gelassene Töne dringen schlecht durch.  Heute lese ich auf der ersten Seite der  Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.8.2016) den Text von Jörg Bremer: "Nicht mutlos werden!"Jörg Bremer lobte Papst Franziskus für dessen Wort: "Das ist Krieg". Jörg Bremer: "Nicht nur der Papst benutzt dieses harte Wort, sondern auch Frankreichs Präsident Hollande. Und am vergangenen Donnerstag nahm auch Bundeskanzlerin Merkel das Wort 'Krieg' in den Mund". Wie war das mit Gerhart Baum? Wird er gehört?


(Überarbeitung: 1.8.2016) 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen