Montag, 4. Juli 2011

"Brennend heißer Wüstensand...schön war die Zeit, schön war die Zeit" (memories are made of this)

Heute, am 4.7.2011, dem amerikanischen Independence Day, veröffentlicht die SZ auf ihrer ganzen ersten Feuilleton-Seite die Rede von Günter Grass zur Jahrestagung der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche mit dem Titel "Die Steine des Sisyphos. Über das Verhältnis von Journalismus und Politik, die Geschwindigkeit der Zeitläufte und die Macht der Konzerne". Einen solchen Text schrieb Günter Grass auch in den sechziger Jahren. Jetzt ist der leicht klagende Ton der Rückschau hinzugekommen - der Blick auf die alten Verdienste. Geblieben ist der Blick des Autors, der am Schreibtisch durch die Lektüre der Tageszeitungen in die Welt schaut. Geblieben ist der Verdacht auf die üblichen Verdächtigen: die "Lobbyistenverbände", die "Konzerne" und ihre Vordermänner und  Hintermänner. Geblieben ist das Verständnis von Journalismus: Detektivarbeit und Aufklärung der Korruption. Geblieben sind die einfachen Vermutungen und einfachen Begriffe. Beispiel: "Ist ein der Demokratie wie zwanghaft vorgeschriebenes System, in dem sich die Finanzwirtschaft weitgehend von der realen Ökonomie gelöst hat, doch diese wiederholt durch hausgemachte Krisen gefährdet, noch zumutbar? Sollen uns weiterhin die Glaubensartikel Markt, Konsum und Profit als Religionsersatz tauglich sein?"

Wenn es so einfach wäre. Wie immer, diese Einsicht hatte Ludwig Marcuse als Erinnerung auf seinen Schreibtisch platziert, ist alles komplizierter. Ein Autor wie Günter Grass hat die Personen im Blick, nicht die Strukturen von Systemen, nicht die komplexen Bewegungen dessen, was man Öffentlichkeit nennt, was Öffentlichkeit bewegt und worauf sie sich blitzschnell, Affekt-sicher abstimmt, ohne sich abzustimmen. Was macht eine so gute Zeitung wie die SZ, wenn in N.Y.C. der Chef des I.W.F. verhaftet und der Öffentlichkeit präsentiert wird? Wenn sie darüber berichtet, trägt sie zu einem kakophonen Chor aus Vorurteilen, Ressentiments, mächtigen voyeuristischen und kannibalistischen Affekten bei und wird von den Positionen seiner Leserinnen oder seine Leser vereinnahmt. Den Sachverhalt zu sortieren braucht Zeit, Geduld und kühle Köpfe. Wenn sie nicht darüber berichtet, wird sie nicht gelesen. Es gibt auch für die Öffentlichkeit, wie Paul Watzlawick das für die alltägliche Kommunikation gesagt hat, kein Entkommen. Was macht also eine Zeitung wie die SZ? Kein Wort dazu von Günter Grass. Wie bezieht eine Zeitung eine demokratisch angemessene Position? Die SZ riskiert mehr und mehr über die Subtexte der öffentlichen Diskussion zu sprechen. Ist das angemessen? Sollte sie es mehr tun? Das Fernsehen serviert uns die Welt in fragmentierten, Kontext-losen Nachrichten und betreibt das folgenreiche Geschäft der Angst-Regulation. Sollen die Zeitungen die Kontexte nachliefern? Na klar. Aber wie weit? In Reportagen von vierzig Seiten? Wer liest sie? Was kann eine Zeitung wie die SZ verkraften? Was ist für sie wirtschaftlich? Ihre Jahrgänge auf CDs zu vertreiben ist nicht mehr wirtschaftlich. Das aktuelle Lexikon - ein höchst verdienstvolles Büchlein - zu vertreiben ist nicht mehr wirtschaftlich. Was kann also eine Zeitung tun? Fragen über Fragen. Kein Wort dazu von Günter Grass, der den journalistischen Alltag und dessen System-Bedingungen offenbar nicht kennt, wohl die Geschichte mit den mächtigen oder vermeintlich mächtigen Anzeigen-Kunden. Die hätte ich gern Einzelfall für Einzelfall erzählt - von einem tapferen Autor.

Günter Grass schwärmt von den alten Zeiten, vom existenzialistischen Grundproblem. Das Problem ist, wie wir das Grundproblem im Alltag leben, gestalten oder nicht gestalten. In mancher deutscher Literatur erkenne ich das Getriebe meines bundesdeutschen Alltags nicht wieder; mir fehlt eine intime Kenntnis von Organisationen, von Systemen. Aus dem letzten Roman, den ich von Martin Walser gelesen habe - Der Tod eines Kritikers von 2002 - , habe ich zwei Klischees entnommen: der Kritiker fuhr einen Jaguar - leider  sagte er nicht, welchen (Max Frisch fuhr einen Jaguar 420, sein Verleger einen Jaguar XJ) - und legte seinen gelben Kaschmir-Pullover auf die Motorhaube - leider sagte er nicht, ob er aus einer schottischen oder italienischen Strickerei stammte (Jerome David Salinger stattete die Mitglieder seiner Glass-Familie mit dieser Strickware aus). Ich habe dem Text nicht entnehmen können, wie unser Literaturbetrieb funktioniert. Dabei müsste Martin Walser doch ein intimer Kenner sein.

Günter Grass sagte über seine Berufsgruppe: "Vielleicht deshalb, weil wir Schriftsteller ohnehin kritisch miteinander umgehen, was Journalisten so gut wie nie tun". Ich kenne keine Berufsgruppe, deren Mitglieder sich gern kritisieren. Als Winfried Georg Sebald seine Bilanz der westdeutschen Nachkriegsliteratur zog in Luftkrieg und Literatur  (1999), gab es ein Riesengeschrei. Hans Magnus Enzensberger meinte: Schlecht recherchiert. Aber vor ein paar Tagen, am 25./26.6.2011, veröffentlichte die SZ Michael Kleebergs Text Die Erfindung des Helden der Flakhelfer-Generation. Vor fünfzig Jahren starb Ernest Hemingway - er war das große Vorbild der jungen deutschen Autoren nach 1945. Aber waren sie wirklich seine Schüler? Sie waren es offenbar nicht.

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