Freitag, 18. April 2014

Das Rätsel des Charismas

Am 21.4.2014 jährt sich der 150. Geburtstag von Max Weber, dem acht Jahre jüngeren Zeitgenossen Sigmund Freuds. Anlass für die Redaktion der SZ, auf der ersten Seite ihres Feuilleton-Buchs (17./18.4.2014, Nr. 90, S.9) Max Webers Begriffe durchzugehen. Gustav Seibt beschäftigte sich mit dem Charisma - das im Griechischen wie Lateinischen Geschenk bedeutet -  und zitiert Max Weber:
"Der Herrschaftsverband ist die Vergemeinschaftung in der Gemeinde oder Gefolgschaft. Der Typus des Befehlenden ist der Führer. Der Typus des Gehorchenden ist der Jünger". Ich nehme den Satz als repräsentativ für Max Webers Konzept.
1. Angedeutet ist die starre vertikale Abhängigkeit von der Hiercharchie; eine Dialektik beweglicher horizontaler wie vertikaler Beziehungskonfigurationen kommt offenbar nicht vor.
2. Das Charisma des Leiters blendet den interaktiven Prozess aus, der den Leiter zum Leiter macht oder als Leiter etabliert und ihn als Leiter erhält; der interaktive Prozess besteht in komplexen Begegnungen, in denen (nicht-bewusste) Beziehungsversprechen und Beziehungsfantasien ausgetauscht werden in einem Kontext von Projektionen, Identifikationen und Idolisierungen; der interaktive Prozess hat eine Geschichte intimer Begegnungen, deren Radien sich zunehmend erweitern in einer Bereitstellung sich vergrößernder privater wie öffentlicher Bühnen, auf denen die interaktive Attraktion inszeniert wird.
Mit anderen Worten: der Begriff des Charismas verdeckt den interaktiven Prozess, indem er zum Merkmal einer Persönlichkeit gemacht wird. Ian Kershaw hat  mit diesem Begriff Adolf Hitlers Wirkung zu erklären versucht. Welche internen Interaktionen Adolf Hitler zum  Führer machten, der in dieser dann öffentlich bestätigten Identität seine mörderische Politik in Gang setzen konnte, ist weiterhin unklar. Das Charisma ist nicht die Fähigkeit eines Einzelnen, sondern das Produkt der (mehr oder weniger nicht-bewussten) Abstimmung von Vielen.   

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