Donnerstag, 9. Juli 2020

Die Maske und das Maulen

Die Maskenpflicht - was für ein Wort! - erinnert mich an die Gurtpflicht. Die war Mitte der 70er Jahre mächtig umstritten; in den Umfragen war die Mehrheit dagegen. Der  Gurt tauchte als Sicherheitsgurt in der öffentlichen Diskussion auf; die Autohersteller boten zuerst den Bauchgurt, dann den Dreipunkte-Gurt, schließlich den automatischen Gurt auf, den man  zu sich heranziehen und sich umlegen konnte - anders als im Flugzeug, in dem noch immer der umständliche Bauchgurt bereit liegt. Wie so oft, sind die gut gemeinten Wort-Schöpfungen ungenau. Mit der Sicherheit des Autofahrens hat der Gurt zuerst nichts zu tun: er mildert die Unfallfolgen erheblich und verhindert, dass die Insassen gegen die Windschutzscheibe knallen, in dem Glas stecken bleiben oder durchs Glas herausgeschossen werden. Autofahren ist gefährlich; auch wenn Unfälle statistisch gesehen relativ selten sind, muss man dennoch mit ihnen rechnen und sich vor den Folgen schützen. Das war die  technische, einfache Botschaft des Sicherheitsgurtes. Aber was für Ingenieure evident ist, muß noch längst nicht jedem einleuchten. Die Ingenieure ahnten nicht, dass der Gurt in die Lebensform des Autofahrens masssiv eingreift und sie ernüchtert mit der Evokation der Möglichkeit eines Unfalls. Man lässt sich ungern reinreden. Das Wort vom Sicherheitsgurt beruhigte nicht. Es gab die öffentliche Diskussion einer drastischen  Befürchtung, sich an den Autositz zu fesseln,  im verunglückten Auto festzustecken und möglichweise zu verbrennen. So wurde das Anlegen des Gurts mit dem Verbum anschnallen belegt: Teufelszeug. Anschnallen sagt genug. Wer will das schon.

Der Gesetzgeber scheute. Am 1.1.1976 wurde die Anlegepflicht gesetzlich verordnet. Wer ihr nicht folgte, musste kein Bußgeld aufbringen. Erst Anfang der 80er Jahre wurde ein Bußgeld von DM 40,00 festgelegt. Das half. Der Aufschrei klang ab. Die Quoten des Anlegens stiegen auf ein hohes Niveau. Die Folgeschäden von Unfällen nahmen ab; die Zahl der tödlichen Unfälle ging deutlich zurück.

Nun zur heutigen Maske als Mittel, sich vor der pandemischen Infektion zu schützen. Sie ist nicht (mehr) sonderlich umstritten. Die meisten finden sie - Umfragen zu Folge - vernünftig.  Sie ist wiederum ein Eingriff in unsere Lebensformen. Sie erinnert daran, dass wir unser Leben nicht ganz in der Hand haben -  dass wir uns jetzt, wenn wir uns zu nahe kommen,  mit Covid-19 infizieren können. Dass wir uns jetzt einschränken müssen.

Die Maske ist lästig. Man muss sie bereit halten. Sie stört beim Sprechen. Sie wärmt einen auf. Man muss seine Finger kontrollieren. So wird herumgemault. In den Tagesthemen wird das Pro & Contra vorgeführt. Dabei gibt es kein Pro & Contra. Ein Auto kann man ohne Sicherheitsgurte nicht kaufen. Der angelsächsische Stolz über die demokratische Verfasstheit der Gesellschaft lautet: It's a free country. Die Pandemie - was der Prozess der Erderwärmung bislang nicht geschafft hat - lehrt die Ernüchterung  unserer demokratischen Illusion. Die Freiheit ist begrenzt. Unser Grundgesetz sagt dazu (Artikel 2, Absatz 2): "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt". Dieser noble Satz, Ende der 40er Jahre formuliert, hatte verständlicherweise das erbarmungslose Ausreizen der balancierenden Kräfte unserer natürlichen Systeme nicht im Blick. Pandemien werden uns vermutlich noch lange begleiten. Die Covid-19 Pandemie ist, habe ich aufgeschnappt, möglicherweise die Folge der weit verbreiteten Invasion des Geschäfts in die Natur. Sie ist noch eine mit den Mitteln der Forschung erfaßbare Krise. Sie zwingt zur zügigen, gut durchdachten Revision unserer Lebensformen und zur Aufmerksamkeit für die Katastrophen von Armut, Ungleichheit und Erderwärmung. Leider schleppen wir das schwere Gepäck veralteter Konzepte und vertrauter Illusionen vom Wachstum, Konsum, Normalität  weiter mit uns herum. Zum Maulen haben wir keine Zeit. 
 
Überarbeitung: 18.11.2022) 


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