Montag, 3. August 2020

Die Zukunft unserer pandemischen Gegenwart

Der pandemische Schatten lähmt. Er wird wieder größer. Wir tappen im Hellen durchs Dunkle. Wenn wir die Haustür hinter uns schließen, ist unklar, in welcher Umwelt wir uns bewegen. In einer Wolke von Aerosolen unklaren Ausmasses ? Wer schleudert sie uns entgegen? Wer nicht? Wo und wann fühlen wir uns sicher? 

Das wissen wir nicht mehr.
Aber die wichtigsten Ungewissheiten über unsere pandemisch bedrohte Umwelt sind bekannt. Ich folge Caroline Buckee (The New England Journal of Medicine 2020; 383: 303 - 305): 1. Wir wissen nicht, wo wir uns befinden: die Zahl der Infizierten ist unklar; 2. Die Biologie des Virus ist unklar; 3. Die Wege der Infektionen sind unklar. Weshalb die Modell-Rechnungen, die prognostischen Extrapolationen und abgeleiteten Empfehlungen unscharf und ungenau sind und nur für kurze Zeiträume - im besten Fall - zutreffen. Weshalb die Verhaltensvorschläge grob sind: 1. Masken tragen; 2. distanzierte Interaktionen ; 3. Gruppen vermeiden.

Was tun?
Die erste Regel im Augenblick: dazu beitragen, die Infektionszahlen niedrig zu halten. Das ist eine vergleichsweise einfache, allerdings lästige Übung. Weitaus schwieriger ist die Inventur unserer Lebensformen und unserer Lebensgewissheiten. Die gegenwärtige Pandemie lehrt uns: die westlichen, demokratisch legitimierten Gesellschaften haben sich darauf verständigt - in einem hochkomplizierten Prozess gemeinsamen Fantasierens eigener Großartigkeit und Überlegenheit - , gegen die sieben Jahrzehnte alten Warnungen vor den sozialen Kosten und Grenzen des Wachstums und vor dem Ende der Natur buchstäblich über unsere Verhältnisse zu leben mit den bekannten Folgen einer weitreichenden, unfairen Ausbeutung und Destabilisierung unserer globalen Lebensverhältnisse. Im Augenblick haben wir kein Wort für das, was passiert. Die Vokabel Vollbremsung (unseres psychosozialen Lebens) tröstet mit der Aussicht auf das Ende des Bremswegs und spielt mit der Illusion, wir hätten das Steuer in der Hand. Das hatten wir noch nie. "Nous ne sommes jamais sortis de l'évolution", sagte Pascal Picq, Paläontologe und Anthropologe, im Interview mit Édouard Reis  (Ouest-France, 11/12.7.2020, S. 6) - wir sind abhängig von den natürlichen Prozessen.  Nach Corona wird es nicht geben. Gasgeben wird nicht helfen. Wir müssen andere Lebensformen finden.

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