Donnerstag, 11. November 2010

Die Zähigkeit des neurowissenschaftlichen Aberglaubens (NeuroNeuro I)

In der SZ vom 6./.7.11.2010 ist auf S. 22 ein Interview abgedruckt, das Christian Weber, 43 Jahre alt und Redakteur der Sparte Wissen dieser lesenswerten Tageszeitung,  mit Felix Tretter, Chefarzt der Suchtabteilung des Klinikums München-Ost, führte. "Ein Hirn ohne Körper erlebt nichts", ist das Interview überschrieben. Die Unterzeile lautet: "Der Psychiater Felix Tretter wettert gegen reduktionistische Menschenbilder". Tretter wettert klingt lustig - und abfällig. Der Ton zieht sich durch den Text. Der Journalist war parteiisch. Er machte diese zwei Bemerkungen:
1. "Würden Sie zustimmen, dass alles, was uns ausmacht, letztlich auf Gehirnfunktionen beruht?"
2. "Letztlich geht es doch um die Annahme, dass alles geistige Erleben eine materielle Grundlage hat".
Der erste Satz ist trivial und tiefsinnig. Letztlich hängen wir natürlich von unserem Kreislauf ab. Wenn unser Herz nicht mehr schlägt, macht unser Gehirn gar nichts. Und so weiter und so fort. Das Argument von der letztlichen Begründung dreht sich im Kreis und ist naiv. Da gebe ich Felix Tretter sehr recht. Tiefsinnig ist der Satz insofern, weil er eine enorm komplexe Situation entwirft: Zwei Männer bewegen sich in einer Beziehung des Austauschs - und da empfiehlt der Interviewer den Blick nach innen unter die individuelle Schädeldecke, weil dort ja das Entscheidende sich abspielt. Angenommen, das wäre möglich - dann kommt der Blick unter die Schädeldecke, der die Beziehung unterbricht, immer zu spät, und wir verstehen die Bewegung der Beziehung der Beiden nicht. Mit anderen Worten: die Bewegung der Beziehung lässt sich mit dem Blick unter die Schädeldecke gar nicht erfassen. Christian Weber behauptet das aber. Das ist erstaunlich.
Der zweite Satz ist auf andere Weise trivial und tiefsinnig. Klar, wenn wir ein Bild von Claude Monet neben das Bild meiner Tochter legen, beide sind gleich groß, haben wir Konfigurationen von Leinwand und Farbe vor uns, die man in feine Partikel zerlegen kann. Aber könnten wir von den Partikeln aus die Bilder und deren Qualitäts-Unterschiede sehen? Wohl kaum. Welche materielle Grundlage haben die Unterschiede? Man kann sie so gar nicht erfassen. Christian Weber behauptet das aber.

Wieso sind diese Gedanken, die in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts gedacht und erledigt wurden, so zählebig?
Hier einige Vermutungen: 1. Menschliche Systeme sind hochkomplex, bewegen und beziehen sich in bedeutungsvollen Kontexten von Such-Bewegungen und kommunizieren symbolisch. Seit Jahrtausenden versuchen wir das zu verstehen. Manche Neurowissenschaftler möchten diesen  irritierenden Prozess abkürzen. 2.  Wenn menschliche Systeme nach ihren materiellen Grundlagen durchgesehen werden, verschwinden die Unterschiede. Differenzierungen werden aufgehoben, Verschmelzungsfantasien machen sich breit, die existenzielle Angst, Einsamkeit und Vergänglichkeit werden geleugnet. 3. Wenn menschliche Systeme nach ihren materiellen Grundlagen durchgesehen werden, schauen wir mit einem gewissermaßen linearen Blick auf Funktionsabläufe, die einer Maschine ähneln. Maschinen haben wir  - normalerweise, wenn sie sich nicht wie der Zug im Kinofilm Unstoppable von Tony Scott (U.S.A. 2010) selbständig machen - in der Hand und können in sie eingreifen. Maschinen bedienen zu können verleiht Macht. Menschen zu Maschinen zu machen verleiht Macht und Status.  4. Die Betonung des Körpers - auf der Ebene von Zellen, Neuronen, Synapsen, Genen - folgt der "Fleischerkonzeption" des Menschen, wie Pierre Legendre das nannte, das, wie er sagte und was man ständig wiederholen muss, "unverstandene Erbe des nationalsozialistischen Kahlschlags".  Seelische Systeme sind in ihrer eigenwilligen Komplexität manchen Köpfen noch immer lästig. 
  

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