Mittwoch, 1. Dezember 2010

Erst undemokratisches Anordnen, dann undemokratisches Nachdenken

Das Projekt Stuttgart 21 und das künftige Projekt Stuttgart 21 + lehren uns Einiges. Zum Beispiel das Eingeständnis, dass erst jetzt die Kapazität des neuen Schienennetzes für den Bahnhof geprüft wird - von der dafür spezialisierten Schweizer Firma SMA (SZ vom 1.12.2010, S. 2). Das heißt, ohne das Schlichter-Verfahren wäre der Milliarden-teure, unterirdische Bahnhof gebaut worden ohne eine präzise Abschätzung seiner Leistungsfähigkeit. Das ist, weiß jede Berufstätige und jeder Berufstätige, gängige Herrschaftspraxis des Anordnens in großen und kleinen Organisationen: Innerhalb einer Minute wird eine Idee geboren, deren Realisierung befohlen - die dann als das so genannte politische Problem (im weitesten Sinne), an dem undemokratisch und verbissen festgehalten wird, durchgeht. Das Stuttgarter Schlichtungsverfahren, wie man in dem sehr plausiblen, guten Text von Andreas Zielcke in der SZ vom 3.12.2010 (S. 15) nachlesen kann, war eine undemokratische Farce: Befürworter und Gegner des Stuttgarter Vorhabens hatten ungleiche Rechts-Positionen; es ging um die Inszenierung der hochherrschaftlichen Geste des Abspeisens und Einlullens; das Ergebnis der Abschätzung der Leistungsfähigkeit wird nicht abgewartet, sondern der Umbau wird aufgenommen; die alternativen Pläne wurden nicht erörtert.

Die Schlichtung lässt sich auch lesen als die Inszenierung undemokratischen Herrschens und als das Desinteresse der gewählten Repräsentanten an denen, die sie ins Amt wählten. An der Figur des Schlichters lässt sich ablesen, wie sehr im öffentlichen Forum  fantasiert wird: Noch ein Großvater im Alter von 80 Jahren tritt auf als der gütige alte Herr, der seine Enkel beschwichtigt. Die Sehnsucht nach den guten Großvätern, die einem das mühselige Geschäft des demokratischen Aushandelns ordnen, ist noch immer riesig und so alt wie die Bundesrepublik. In den 50er Jahren hatten wir das greise, Herrschafts-freudige Familienoberhaupt Konrad Adenauer, jetzt haben wir neben dem alten Großvater Helmut Schmidt den jungen Großvater Heiner Geißler, der uns kurz vor Weihnachten die Rührung in den Blick treibt. Anders gesagt: das im öffentlichen Forum repräsentierte politische Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland bleibt seltsam ambivalent und verlogen - denn hinter dem Rücken des Großvaters lässt sich gut weiter machen wie bisher.

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