Freitag, 21. April 2017

Recep Tayyip Erdogan, das Referendum und die öffentliche Heuchelei


Projizieren macht Spaß. Gut vierhunderttausend bundesdeutsche Bürgerinnen und Bürger, die auch türkische Staatsangehörige sind und deshalb für das Referendum zur Verfassungsänderung votieren konnten, müssen für das Vergnügen an der öffentlichen Aufregung und Empörung und für die öffentliche Sorge herhalten. Worum geht es? Der öffentliche Vorwurf lautet: Bürger der Bundesrepublik unterstützen den Plan eines künftigen faschistischen Staats; sie leben in der einen Demokratie und sabotieren die andere. Keine Frage: der türkische Staat befindet sich in einem Zustand des Aufruhrs; seine Rechtsstaatlichkeit ist bedroht - wie sehr, lässt sich von weitem schwer sagen; das Votum des Referendums verschärft die offenbar schweren Konflikte des Landes. Keine Frage aber auch:  die Pläne der türkischen Regierung sind die Angelegenheit der türkischen Bürgerinnen und Bürger. Des weiteren: wenn die türkische Regierung aus der Staaten-Gemeinschaft, mit der sie Verträge unterhält, auszuscheren beabsichtigt, ist das die Angelegenheit der gemeinsamen Institutionen der Staaten. Wir müssen uns nicht einmischen als selbstberufene Lehrmeister der Demokratie.

Was wird projiziert? Das Ressentiment unseren Bürgerinnen und Bürgern mit türkischen Wurzeln gegenüber. Sie sind nicht gern gesehen. Diese verbreitete - wie sehr, ist unklar; zum Glück bestehen auch erhebliche Sympathien - Abneigung gehört zu den kränkenden und traumatischen Alltagserfahrungen. Unverstanden ist die Wirkung der Katastrophe der offenbar von diesem Ressentiment geleiteten, gescheiterten Ermittlungsarbeit bei dem Versuch der Aufklärung der Morde, für die die Gruppe verantwortlich ist, die mit dem skandalösen Akronym einer ehemaligen Automarke belegt wurde - als hätte diese Gruppe eine zumindest im entferntesten Sinne politische Absicht verfolgt (s. meinen Blog vom 17.3.2017 Hart, aber unfair).

Es gibt keinen Grund für eine abfällige Berichterstattung. Beispiel: der Text von Berthold Kohler Abschied von den Lebenslügen in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.4.2017 (S.1):
"Die mehr als 400 000 Türken, die hierzulande Erdogans Machtergreifung zustimmten, stellen zwar nur ein knappes Drittel der türkischen Wahlberechtigten und etwa ein Fünftel der rund zwei Millionen Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit in Deutschland dar".

Der Satz ist ein Beispiel für bundesdeutsche Herablassung. Die "Türken" sind (tatsächlich) "Menschen" - keine bundesdeutschen Bürgerinnen und Bürger. Dass Berthold Kohler von "Erdogans Machtergreifung" spricht, ist das Spiel des Kommentators mit dem vertrauten, strammen nationalsozialistischen Jargon von "Hitlers Machtergreifung" - die, wie wir alle wissen sollten, keine Ergreifung, sondern das Ergebnis der Kungelei hinter den Kulissen war, die Adolf Hitler ins Amt schob. Der Satz ist ein grobes Foul. Wenig später im Text wiederholt der Autor den kontaminierten Jargon von der Machtergreifung: sein zweites Foul.

Gegen Ende des Textes fand ich diesen Satz:

"Der größter Fehler der deutschen Integrationspolitik war es nicht, zu abweisend gewesen zu sein; sie war im Gegenteil zu großzügig und von einem falschen Verständnis von Toleranz geprägt".

War sie das? War es nicht umgekehrt? Wenn ein starkes Ressentiment kursiert, kann man schlecht einen klaren Gedanken fassen.
    

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen