Dienstag, 3. April 2018

Lektüre einer Form von Journalismus (Beobachtung der Beobachter) (65): Dicketun auf Bundesdeutsch

Du bist krank, sagt der eine Jugendliche zum anderen Jugendlichen - und macht ihm sein Unverständnis zum Vorwurf. Die U.S.A sind krank, schreibt der Journalist Bernd Ulrich und macht  den Vereinigten Staaten sein Unverständnis zum Vorwurf :

"Trump stellt das Symptom eines schwer erkrankten Landes dar, fast alle seine persönlichen Widersprüche sind in Wahrheit die politischen Widersprüche der USA" ("Der Patient" ist der Titel des Textes, erschienen in der DER ZEIT vom 28.2.2018, S. 1). Seit wann sind politische Widersprüche in einer demokratisch verfassten Gesellschaft - eine Krankheit? Wie können persönliche Widersprüche politische Widersprüche sein?

Hier ist die Kostprobe des Musters der Argumentation:
"Wenn der Präsident heute die Waffengesetze ändern will und es morgen unterlässt, dann entspricht das exakt der Gespaltenheit des Landes in dieser - wie in allen anderen Fragen".

Nein, die Taktik des Präsidenten, ein öffentliches Zugeständnis zu machen und es wenig später versickern zu lassen, ist die Politik-Technik des Kalmierens und Erstickens eines öffentlichen Einspruchs. Sie hofft und rechnet mit dem Spektrum an Auffassungen, Überzeugungen und Haltungen zum Besitz und Gebrauch von verschiedenen Waffen, in dem der öffentlich in einem bestimmten Ausmaß repräsentierte Einspruch erlahmt.  Der Präsident ist an seinem politischen Überleben interessiert und an einer angemessenen Repräsentation der Einsprüche desinteressiert. Er glaubt, dass ihm ausreichend Wählerinnen und Wähler zustimmen. Was ist daran krank? Und wieso passt die Technik des Präsidenten exakt? Das Adverb exakt ist Bluff. Wenn man drüber nachdenkt, verflüchtigt sich die behauptete Genauigkeit. 

Die zweite Kostprobe:
"Auch die berühmten Checks und Balances wurden in Wirklichkeit noch nicht richtig getestet. Dass Trump mit der einen oder anderen Verrücktheit noch nicht durchgekommen ist, liegt weniger an den
Gegenkräften als an seiner fehlenden Konzentration und Organisation".

Wovon spricht Bernd Ulrich? Der Special Counsel Robert S. Mueller III wurde beauftragt. Er erledigt seine Untersuchung zur Frage der Behinderung der Justiz durch den Präsidenten. Die kritische gedruckte Öffentlichkeit verfolgt penibel die Schritte des Präsidenten. Es wird mächtig gecheckt & balanciert. Ist das nicht genug?  Ein Autor der New York Review of Books schrieb von der konstitutionellen Krise des Landes - nicht von einer Erkrankung. Die Metapher vom Patienten ist Angeberei. Bernd Ulrich lässt die Komplexität schrumpfen. Er scheint sich in seiner Verachtung sicher zu fühlen.
 
Thomas Gutschker, Journalist für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, springt ihm mit einem langen Riemen (1.4.2018, S. 2, Nr. 13) bei. "Bleiben Sie dran!", fordert der 58.5 Punkte große Titel auf. Die Unterzeile: "Donald Trump feuert einen Mitarbeiter nach dem anderen. Und er wechselt seine Überzeugungen rasend schnell. Ist das schon Politik - oder noch Reality TV?" Ja, sagt Thomas Gutschker, es ist eine Politik in der Machart der Fernsehen-Produktionen von Donald Trump.  Gutschkers Frage (am Ende seines Textes) an die Leserinnen und Leser: Ist Donald Trump der politische Zerstörer oder der alte Entertainer, der den Erwartungen seines Publikums folgt?
Gutschkers Antwort:
"Das muss jeder Zuschauer für sich entscheiden. Trump würde sagen: 'Stay tuned!' - Bleiben Sie dran!"

Während viele Nordamerikaner sich die Haare raufen und sich schämen über ihre Regierung im Weißen Haus, können wir, wenn wir der Einladung des Frankfurter Journalisten folgen, ordentlich vor dem Bildschirm lachen und in der offerierten Verachtung für den TV-Blödel baden. Diese falsch adressierte Einladung - es geht nicht um die Zuschauer, sondern um die Bürgerinnen und Bürger -  ist ebenfalls ein starkes Stück - der Verachtung. Die Verachtung gehört in den bundesdeutschen Angst- und Scham-Kontext.  Ich vermute: wir wissen ganz gut, dass zum Baden noch immer die Entspanntheit fehlt. Ich vermute: eine Reihe Leute tönen fürs Geschäft der Beruhigung herum, sind aber sprachlos. Weil wir in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts mit Adolf Hitler den Regierungschef hatten, der im Nu mit der Hilfe unserer willfährigen Elite den Staat der Weimarer Republik korrumpierte, umbaute und zerstörte - diese Katastrophe ist weder ausreichend verstanden noch verkraftet. Sie spukt durch die Köpfe der beiden Autoren. Der Unterschied vom damaligen Berlin zum heutigen Washington ist: die nordamerikanische Regierung kann die institutionellen Fundamente der Vereinigten Staaten nicht aushebeln. Die checks & balances halten. Wohl kann sie nationale und internationale Gefüge (halbwegs oder einigermaßen) funktionierender politischer Beziehungen aufs Spiel setzen - sie korrumpieren und lähmen. Wir haben keinen Grund, uns sicher und überlegen zu fühlen. Abgesehen davon -  müssen  die bundesdeutschen Techniken der Macht-Erhaltung noch gut beschrieben und verstanden werden.


(Überarbeitung: 5.4.2018)   






 

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