Freitag, 11. März 2022

Anne Wills Lullaby of Berlin - zwischen Angst, Vorwurf und Beschwichtigung. Am 6.3.2022 stellte sie die Frage: "Wie weit wird Putin gehen?"

Wie weit wird Putin gehen? war am Sonntagabend, dem 6.3.2022, die Frage der Anne Will-Mannschaft; sie versprach eine Abschätzung der Gefahr, die der russische Präsident einzugehen bereit sein könnte. Alexander Graf Lambsdorff, Andrij Melnyk (der ukrainische Botschafter) und Egon Ramms (pensionierter Oberbefehlshaber des Allied Joint Forces Command im niederländischen Brunssum) bildeten die Rede-Runde im Studio, Frans Timmermanns (stellvertretender Präsident der Europäischen Union) war zugeschaltet. Annalena Baerbock, unsere Außenministerin, war ebenfalls zugeschaltet und wurde als Erste befragt.

Wie weit wird Putin gehen? war die Frage nach der größten Befürchtung: Wird der russische Präsident seine Drohung, auf Interventionen der westlichen Regierungen mit einer atomaren Antwort zu reagieren, realisieren? Befürchtungen  abzuschätzen und zu klären, setzen eine Abschätzung der Gefahr voraus. Worin besteht sie? Sie zu beschreiben, ist schon schwierig. Man müsste die Prozesse der russischen militärisch-politischen Entscheidungen kennen, deren Strukturen, Gremien und Hierarchien. Man müsste die Beziehungsstrukturen kennen, deren Macht- und Einflussverhältnisse. Man müsse die Beziehungsnetze, die Abhängigkeiten und Verpflichtungen kennen, die Wladimir Putin zu Wladimir Putin machen.  Putins Macht ist ein wenig bekanntes Interaktionsprodukt gegenseitiger, vielleicht asymmetrischer Abhängigkeiten. Mit anderen Worten: Anne Will verhob sich mit Anne Will ; was einfach daherkam, war nicht federleicht, sondern enorm kompliziert. Die Frage Wie weit wird Putin gehen? war TV-Bluff. Sie ließ sich in diesem Forum nicht klären.

"Sie waren dabei", begann Anne Will, als sie sich Annalena Baerbock zuwandte,  "als die Außenminister keine Flugverbotszone für die Ukraine einrichteten". Sie zitierte Wolodymyr Selenskyi, den ukrainischen Präsidenten, der gesagt hatte, dass die Menschen, die heute sterben, auch derentwegen sterben würden. "Lassen Sie das gelten?", frug Anne Will. Die Komplexität der Frage hatte sie zu einer Art moralischen Frage verdreht,  die auf eine  einfache Antwort mit einem Nein! wartet. Diese Verdrehung war der Trick der rhetorischen Politik der talk show,  die Komplexität der Frage zu leugnen  und die Last der enorm schwierigen Antwort Annalena Baerbock aufzubürden. Die Außenministerin warb (tapfer) mit ihrer Antwort für ein Verständnis der gemeinsamen westlichen Politik einer vorsichtigen (wirtschaftlichen) Intervention. Anne Will zog die moralische Schraube ohne Bedenken nach: "Die Menschen lassen Sie erst mal allein. Sie wünschen sich ja diese Flugverbotszone". Annalena Baerbock räumte ein: "Ja, das sind die Momente der Außenpolitik, wo man eigentlich nur zwischen Pest und Cholera wählen kann". Die Flugverbotszone zu etablieren, erläuterte sie, wäre schwierig, weil Putin sie als Kriegshandlung verstehen und möglicherweise den dritten Weltkrieg initiieren könnte; sie hätten, sagte sie, die Verantwortung, ihn zu verhindern. Anne Will nahm das Argument nicht auf und setzte nach: Wenn es keine Flugverbotszone gibt, wäre sie dann bereit, militärisches Gerät (Flugzeuge zum Beispiel) in die Ukraine zu liefern? Ja, aber es sei kompliziert, so Annalena Baerbock: die einzigen Kampfflugzeuge, die ukrainische Piloten fliegen können, sind veraltete Jets und stehen nur in Polen zur Verfügung; das polnische Militär müsste, um selbst operieren zu können, Ersatz bekommen. Es ist also kompliziert; schnelle Lösungen sind nicht in Sicht. Annalena Baerbock wurde verabschiedet, die komplexe Frage der Sendung vertragt. 

Die Männerrunde diskutierte weiter mit Anne Will. Andrij Melmyk drängte verständlicherweise; die Zeit sei knapp, sagte er, und jede Stunde oder Minute zähle. Das Argument der verweigerten Flugverbotszone ließ er nicht gelten: Putin würde seinen mörderischen Plan in jedem Fall fortsetzen und nach der Zerstörung der Ukraine die Nachbarländer ebenso besetzen. Besser sofort drastisch mit allen Mitteln intervenieren als später. Er gab  die erste Anwort auf die Frage der Sendung: der russische Präsident wird seinen mörderischen Vormarsch nicht aufgeben: Putin wird weit gehen.  

Würde es überhaupt helfen, die Kampfjets zu liefern?, lavierte Anne Will um die Frage ihrer Sendung herum, indem sie Egon Ramms, den pensionierten hohen Offizier, ansprach.  Egon Ramms favorisierte diese Idee nicht. Raketen würden eher gebraucht, war seine Auffassung. Die wären aber verschimmelt, warf Anne Will spöttisch ein; sie hatte auf die Bestände der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik angespielt. Nein, ließ der pensionierte General den Satz der Unkenntnis nicht durchgehen, das wäre nicht schlimm; wenn die Elektronik und der Suchkopf intakt sind und die Batterien arbeiten, würden sie fliegen und treffen. Egon Ramms überraschte die Runde mit seiner Einschätzung, dem ukrainischen Militär den Sieg zu zutrauen  - ihrer Kampfbereitschaft und ihrer Moral wegen, die die russische Führung offenbar unterschätzt hätte; inzwischen wären Fahrzeuge und Panzer in einem Ausmaß zerstört worden, das den derzeitigen Beständen der Bundeswehr entspreche; die Zahl der gefallenen russischen Soldaten sei enorm hoch. Anne Will bezweifelte die Angaben.

Wie wurde die Frage der Sendung beantwortet? Frans Timmermanns kennt den russischen Präsidenten (etwas) aus der Zusammenarbeit mit ihm, als Putin der stellvertretende Bürgermeister in St. Petersburg war: "Der Mann  macht keinen Rückschritt", so Timmermanns, "Putin kann nur eskalieren". Was wird ihn aufhalten? Die Realität, vielleicht - so wie sie Graf Lambsdorff, Egon Ramms und Frans Timmermanns wahrnehmen. Die Ukraine, so die einhellige Aufassung der drei Fachleute (Ramms, Graf Lambsdorff und Timmermanns), wird er nicht kontrollieren können; er wird den Frieden nicht gewinnen; er hat sich verschätzt und sich national wie international diskreditiert. Er ist gescheitert. Ob diese Lesart sich als tragfähig erweist, werden wir sehen.

Die Frage Wie weit wird Putin gehen?  wurde in einer Annäherung beantwortet. Der russische Präsident wird erst sprechen, wenn er handelt. Die Unsicherheit, ob er gegen die Wirklichkeit seines Scheiterns den Krieg fortsetzt, bleibt. Graf Lambsdorff, Egon Ramms und Frans Timmermanns waren vorsichtig optimistisch. Es wird auf den Realitätssinn der russischen Regierung ankommen. Wir kennen ihn nicht. Es wird auf die Wirksamkeit der Prämisse der verabredeten Boykott-Interventionen ankommen: ob die damit provozierten Interaktionen der Russen, deren vermuteter Protest, wirken. Eine Intervention, die gewissermaßen langsam einsickert und Zeit braucht. Womit wir bei einem vertrauten Problem angelangt waren: die Zukunft ist offen; diese Ungewissheit müssen wir aushalten - da hilft kein Fernseh-Journalismus mit seinem Vergnügen an der gedanken- und konzeptionslosen Konfrontation, mit seinem Drängen auf schnelle Antworten und seiner Illusion, er könnte die Wirklichkeit in ein TV-Studio zwängen und dort die Wahrheit aus ihr herauspressen. Good night, sleep tight, hope the bugs don't bite. 

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