Freitag, 4. März 2022

Ernüchterungs-Kater - Journalismus-Lektüre (Beobachtung der Beobachter) 103

Ernüchterung allerorten. Unsere Außenministerin Annalena Baerbock sagte: Wir sind aufgewacht. Unsere Regierung revidierte innerhalb von zwei Tagen ihre politischen Balancen und ihre Fahrpläne in der Außen- , Verteidigungs - und Klimapolitik. Geht doch könnte  man mit einer flapsigen Formel sagen: das Gegenprogramm zur gelähmten Politik der Merkel-Regierungen - und Beifall klatschen: Endlich! Was es bewirkt, müssen wir sehen. Die Wirklichkeiten sind, wie wir alle wissen, immer komplizierter. Wir übersehen sie nicht. Wir werden sehen. 

Jetzt können wir den aufgescheuchten Journalisten der Zeitung für die klugen Köpfe sehen, der behauptet, es immer schon gewusst zu haben: Jasper von Altenbockum.  Eine gescheiterte Generation überschrieb er seinen Leitartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Samstag, dem 26.2.2022, auf der Seite Eins. Zur gescheiterten  Generation zählt Jasper von Altenbockum die bundesdeutschen politischen Protagonisten der letzten Jahre, die eine Außenpolitik getrübter Wahrnehmung betrieben; er schreibt: "Der deutsche Idealismus erweist sich nun als historischer Irrtum, als Täuschung, als das moralische und materielle Versagen einer Generation. Bis hinauf zu Frank-Walter Steinmeier sucht sie nach Worten, um aus der Provinz ihrer Friedensillusionen wieder in die Mitte des Weltgeschehens zu finden".

Es ist die Frage, ob die Vokabeln Idealismus & Friedensillusionen den Charakter der Merkelschen Politik des Laufenlassens treffen. Hat der Journalist Jasper von Altenbockum mit der Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gegengehalten? Ich kann mich nicht erinnern. Er tut so. Er sagt nicht, wen  er zur gescheiterten Generation zählt; er deutet es an: Frank-Walter Steinmeier (Jahrgang 1956, sechs Jahre älter als Jasper von Altenbockum und zwei Jahre jünger als Angela Merkel) ist sein Generationen-Prototyp.  Jasper von Altenbockum traut dieser Generation nichts mehr zu - zählt er sich eigentlich dazu? Müsste er doch. "Dass allerdings", tönt Jasper von Altenbockum, "ein Neuanfang deutscher und europäischer Außen- und Sicherheitspolitik möglich ist, erscheint wenig wahrscheinlich. Von der Ampelkoalition ist er nicht zu erwarten". Der letzte Satz seines Textes: "Denn nicht wir haben versagt, nicht wir haben uns getäuscht: Das wart ihr". Mit wir meint er wohl seine  Kolleginnen & Kollegen (wen auch immer) und mit ihr das von uns gewählte politische Personal - also uns auch. Er behauptet, sich nicht getäuscht zu haben.

Journalisten betreiben das schwierige Geschäft des Beschreibens komplexer Sachverhalte und des Schreiens nach Beachtung. Das gerät schon einmal durcheinander. Sie müssen nüchtern bleiben, wenn man schlecht nüchtern bleiben kann, weil man mitgerissen wird, klug sein, wenn es gegen das Geschäft geht,  Zeit mit dem Nachdenken zu verlieren, schnell sein, wenn man nicht schnell sein kann. Weshalb Jasper von Altenbockum mächtig klagt - und seine Klage projektiv in das Scheitern einer Generation verdreht: Schuld hat die gescheiterte Generation - auf keinen Fall jemand von seiner Zunft. Der Mann von der Zeitung für die klugen Köpfe geht mit verdrehtem, (vermutlich) hochrotem Kopf durch die Welt. Kriegt er den Kopf wieder gerade und klar? 

Wahrscheinlich nicht. Es geht nicht mehr um nachträgliche Schlaumeierei und Rechthaberei.  Dazu ist es zu spät. Sondern um die präzise und nüchterne Auslegung des Sprechens des russischen Präsidenten. Abgesehen von dessen Lügen und Inszenierungen gibt er jetzt (nach meinem Verständnis) etwas Auskunft mit der Sprache seines Bombardements des größten ukrainischen Atommeilers: er droht mit dem atomaren Unfall. Eltern, deren Sohn mit einem Streichholz herumzündelt, würden es ihm wegnehmen.  Wer diszipliniert Wladimir Putin? Mit welchen Mitteln?

Jasper von Altenbockums Vorwurf einer gescheiterten Generation ist monströs: als hätte man die reale  Grausamkeit eines Mannes von außen, ohne einen imtimen Zugang zu dessen selbstverborgener, fantasierter oder imaginierter innerer Welt zu haben, präzis prognostizieren können. Man kann es noch immer nicht. Hinzukommt die Unkenntnis des Beziehungsnetzes der Leute, die Wladimir Putin zu Wladimir Putin machen. Manchmal spricht jemand erst mit seinem Handeln eine deutliche Sprache. Vorher muss man raten. Vor allem muss man sich trauen zu raten und den Vermutungen einen Realitätsgehalt zutrauen.


(Überarbeitung: 8.3.2022)


 

 

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