Montag, 16. April 2012

Forsches Waten in flachen Gewässern

Am 13.3.2012 brachte die SZ auf ihrer ersten Seite diese Nachricht: "Inzest bleibt verboten. Europäische Richter bestätigen deutsche Regeln". Der erste Satz dieser Nachricht lautete: "Inzest darf in Deutschland weiter bestraft werden, ein Verbot der Geschwisterliebe verletzt nicht die Europäische Menschenrechtskonvention". In diesem Satz klingt das Verbum dürfen nach. Es transportiert einen ironischen Ton, eine Missbilligung und ein Missverständnis. Gerichte handeln nicht willkürlich, sondern müssen bestrafen, wenn eine relevante Norm verletzt wurde; wie sie den Strafrahmen auslegen, unterliegt ihrer Prüfung. Die Formel von den deutschen Regeln degradiert das Verbot des Inzests zur nationalen Marotte auf das Niveau der Vorfahrtsregel. André Green, der große, kürzlich verstorbene Mann der französischen Psychoanalyse, nannte einmal die Faustregel, dass in schweren psychotischen Störungen zumeist ein gravierendes inzestuöses Problem der Kern dieser Erkrankungen wäre. Das ist die klinisch-psychiatrische Seite. Pierre Legendre, Jurist, Historiker und Psychoanalytiker, sieht in den Verboten des Inzests und des Mords die für die Kultivierung des Menschen notwendigen institutionalisierten Grenzen; er schreibt in seiner Vorbemerkung zu Das Verbrechen des Gefreiten Lortie:
"Beim Studium der institutionellen Konstruktionen, unter deren Ägide die Menschheit sich reproduziert, begegnet man unausweichlich der Frage des Abgrunds. Ich verstehe darunter die Tragödie, in die sich die Menschenwesen verstricken, wenn die untersagte Grenze überschritten wird, jene Grenze, die von den beiden in hohem Grad juridischen Begriffen des Inzests und des Mordes markiert wird".
Die Figur der (erwachsenen) sexuellen Selbstbestimmung muss im Kontext der "institutionellen Konstruktionen", wie Legendre sagt, gesehen und relativiert werden.             

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen