Donnerstag, 5. Juni 2014

Nordic Noir & English Noir

Mit Nordic Noir werben die Skandinavier auf den für den englischen Markt produzierten DVDs für ihre Fernseh-Serien Killing, The Bridge und Borgen. Borgen kenne ich nicht; die letzte Staffel von The Bridge sah ich vor einigen Tagen. Gestern sah ich - in einem Zug - die letzten fünf Folgen der englischen Staffel Broadchurch. Die Formel Nordic Noir spielt auf die nordamerikanischen Schwarz-Weiß-Filme vor allem der zweiten Hälfte der 40 er Jahre an, die inzwischen als Schwarze Serie gelten - düstere Filme des Scheiterns, die vom Elend und den Abgründen des Verbrechens erzählen und die man lesen kann als die Dokumente einer zerrissenen Nachkriegs-Gesellschaft.

Killing und The Bridge etablierten eine andere als die von unserem Fernsehen gewohnte Erzählweise: die erste Staffel von Killing breitete ihr verzweigtes Narrativ in 20 Stunden aus, die beiden folgenden Staffeln in jeweils zehn Stunden. The Bridge benötigte ebenfalls jeweils zehn Stunden. Ein Verbrechen wird in jeder Staffel geklärt; die beiden Staffeln von The Bridge sind aufeinander bezogen und erzählen die Beziehungsrealitäten der ermittelnden Beamten weiter. Killing ist eine dänische Produktion, The Bridge eine dänisch-schwedische Produktion. Beide Serien haben einen gleichen Fokus: den präzisen, äußerst nüchternen Blick auf die verschiedenen, ineinander wirkenden Beziehungsrealitäten der Beamten, der Opfer und der Verdächtigten im Kontext der institutionellen und gesellschaftlichen (dänischen wie schwedischen) Wirklichkeiten. Panoramen werden beschrieben; das oder die Verbrechen sind die Steine, die in die Wirklichkeiten geworfen werden und Wellen der Entgrenzung, der Entdifferenzierung und der Dekompensation erzeugen. Die persönlichen Folgen sind verheerend. Der Kontakt mit der Destruktion des Verbrechens zerstört die Protagonisten mehr oder weniger. Noir ist der Nachhall dieser Serien. Wahrscheinlich wird eine dritte Staffel von The Bridge folgen. Die Autoren von Killing und The Bridge waren Soren Sveistrup und Hans Rosenfeldt.

Broadchurch (Buch: Chris Chibnall und Louise Fox) ist der fiktive Ort an der englischen Küste von Dorset. Die Leiche eines Jungen wird am Strand gefunden; er stammt aus Broadchurch. Das Verbrechen zerstört das Gefüge des Ortes; Angst vor der Dekompensation, Misstrauen, Pogrom-Lust breiten sich aus. Der ermittelnde Beamte droht am Prozess der Ermittlung zu zerbrechen; die ihm zugeordnete Beamtin des Ortes, verwickelt in das Gefüge von Bindungen und Loyalitäten, zerbricht. In der letzten (achten) Folge wird das Verbrechen geklärt und das psychosoziale Gefüge und die Protagonisten (fürs erste) repariert. Broadchurch wird fortgesetzt.

Man kann jemandem nicht ins Herz sehen, bilanziert der Beamte, nach einer Erklärung gefragt, das Resultat der Ermittlungsarbeit. Man sieht jemandem die mörderische Destruktivität nicht an, gibt er zu verstehen - und kommentiert zugleich die gegenwärtig noch immer enorm eifrigen, aber vergeblichen Versuche, mit  dem Blick von außen (mittels einer Apparatur) auf die chemisch-elektrischen Prozesse an den Synapsen das Menschliche ausmachen zu wollen. Wenn man nicht hineinschauen kann, muss man in eine Gesprächsbeziehung, in der der eine dem anderen Auskunft über seine innere Welt gibt, kommen. Aber das ist, so lehrt das Noir, enorm schwierig.
  

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