Mittwoch, 18. November 2015

Die Politik der Rührseligkeit

"Wir weinen mit Ihnen", sagte unsere Bundeskanzlerin in ihrem ersten Kommentar nach der Orgie der Mörder, die sich Kämpfer des ISIS nennen, am vergangenen Freitagabend.Das Entsetzen über das immense Leid der Franzosen, der Schrecken, die Irritation waren enorm -  in einem untergründigen Gefühlsgemisch von Lähmung, das sich in mir breit machte. Wie am 11.9.2001 wurde das Katastrophen-Kino real. Ich kam schlecht vom  Fernseher weg, um schlafen zu gehen. Die Morde waren zu erwarten. Und dennoch traute ich meinen Augen nicht. Ein mir vertrauter Gedanke ging mir nach: warum sollen wir verschont bleiben? 

Wir weinen mit Ihnen, wirkte für mich wie eine plumpe Umarmung: ein aufgedrängter, rührseliger Trost. Wir weinen mit Ihnen gehört zum Repertoire Merkelscher Betulichkeit wie das Asyl ohne Grenzen, der Hass im Herzen,  wie die Formel von den politischen Partnern, die sich wie Freunde behandeln oder wie die Metapher vom Rettungsschirm, unter dem sich die Schutzlosen versammeln können. Rührseligkeit als Politik-Ersatz, der erstaunlicherweise als substantielle Politik durchgeht. Jasper von Altenbockum schrieb dazu: "Nach den Terroranschlägen gab die Bundeskanzlerin eine bewegende, in ihren politischen Teilen aber merklich vorsichtige Antwort" (F.A.Z. vom 16.11.2015). Weder fand ich ihre Sätze bewegend noch vorsichtig. Sie las sie sehr konzentriert ab, um nicht zu stolpern. Wir wissen, dass unser freies Leben stärker ist als jeder Terror: Kein Blick ins Innere unserer Republik: was ist los bei uns? Kein Wort zur Wirklichkeit: die jetzigen und vermutlich die künftigen Mörder sind die Bürger unserer Gesellschaft und der Gesellschaften unserer EU-Nachbarn, hier und dort aufgewachsen. Sie müssten angesprochen werden - erreicht und gewonnen werden. Das wäre eine langfristige Poltik. Kurzfristig müssen sie ausfindig gemacht und verstanden werden. Armut, die Exklusion und die mit ihnen verbundenen schrecklichen psychosozialen Folgen finden kein Interesse. Reden über unsere Köpfe hinweg.

Rührseligkeit ist verdeckte, nicht eingestandene Hilflosigkeit. Das ist ihre andere Seite. Wer hilflos ist, rudert in viele Richtungen. Wer heftig rudert, macht vielleicht vergessen, dass er oder sie nicht weiß, wohin. Rührseligkeit ist keine Politik, sondern ein Wirrwarr. Wie unser Innenminister vor zwei Tagen, der gestand, nicht sagen zu können, was er wusste, weil das, was er wusste, uns erschreckt hätte. Das war: besorgte Rührseligkeit. Oder war es Geständniszwang? Aber wahrscheinlich gibt es jemanden im Beraterstab des Bundeskanzleramts, der oder die rät, die Rührseligkeitskarte zu spielen. Über den Satz Wir weinen mit Ihnen muss man kurz und intensiv nachgedacht haben.


(Überarbeitung: 31.7.2018)

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