Mittwoch, 12. Oktober 2016

Journalismus-Lektüre XXXXII (Beobachtung der Beobachter): eine Bemerkung zum journalistischen Einmaleins

Über ihre Konzepte, da wiederhole ich mich häufig, geben die journalistischen Beobachterinnen und Beobachter unzureichend Auskunft. Ein Beispiel - es kommt mir typisch vor - ist der Text von Ralph Bollmann über Sigmar Gabriel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: "Der Populist". Untertitel: "Sigmar Gabriel war mal Wirtschaftsminister. Jetzt schaltet er um auf Wahlkampf und Volksnähe. Kann er sich damit retten?" (F.A.S. vom 9.10.2016, S. 28, Nr. 40).

Das journalistische Einmaleins besteht darin, die politischen Kontexte als gelungene oder missglückte Realisierung eines Machtmotivs zu verstehen und ihn auf einen individualisierten Kontext zu reduzieren. So lässt sich leicht über komplexe Kontexte raisonnieren - aus der Perspektive dessen, der oder die den Politiker oder  die Politikerin in die Tasche stecken zu können glaubt. So dreht der Beobachter seine Position des Nicht-Wissens oder Wenig-Wissens um. So hält er seine Leserin und seinen Leser bei Laune: es geht so vertraut zu mit der Einladung zur Herablassung. Die andere Frage ist: an wen adressiert Ralph Bollmann seinen Text? Imaginiert er Sigmar Gabriel als den Leser seines Textes?

Dazu gibt er natürlich keine Antwort. Aber die Beschäftigung mit dem politischen Akteur lässt eine Art von imaginierter Beziehung vermuten. Das ist gewissermaßen die (heimliche) interaktive Seite des journalistischen Einmaleins.

Sigmar Gabriel nimmt zur Zeit eine - auf den ersten Blick - widersprüchliche Position ein: das Wirtschaftsabkommen mit Kanada (CETA) favorisiert er, das mit den U.S.A. (TTIP) nicht. Die Verhandlungen und die Details der Verträge sind enorm kompliziert und schwierig (ich verstehe sie nicht). So sehr, dass die verhandelnden Gremien ängstlich auf einer Intransparenz bestehen: die Mitglieder des Bundestages bekommen die Vertragsentwürfe nur eingeschränkt zu Gesicht - begrenzte Lesezeiten, kontrollierte Lektüre, nur Aufzeichneungen sind gestattet, keine Kopien, ein Austausch mit Kolleginnen oder Kollegen untersagt. Das Parlament ist ausgeschaltet. Es müsste dringend einbezogen werden. Gertrud Lübbe-Wolff, die ehemalige Richterin am Bundesverfassungsgericht, hat dazu den alarmierenden Text verfasst: "Geheimniskrämerei bei TTIP (MERKUR 807, August 2016, S. 53 - 61)  Hält Ralph Bollmann das nach?

Er schreibt über Sigmar Gabriel: "Das Wirtschaftsministerium war von Anfang an nur Mittel zum Zweck. Wenn Gabriel nicht als Kanzlerkandidant antritt und dann vermutlich auch den Parteivorsitz abgeben muss, ist auch das Regierungsamt nichts mehr wert". Woher weiß er das? Mittel zum Zweck: zu welchem? Was bedeutet ein öffentliches Amt für ihn? Weiß er auch nicht. Das Konzept des Machtmotivs - als des einzigen politischen Motivs - , ist ungenau und schlicht; Politik gilt als ein persönliches Vergnügen oder Missvergnügen im Kampf um die höchsten Ämter. Ist das Politik? Im Zuschnitt von House of Cards? Wohl kaum. Es wäre die Bankrott-Erklärung unserer Politik.

House of Cards ist das Spiel des Irrealis mit der Verachtung der politischen Prozesse und damit der Verachtung der Demokratie und ihrer institutionalisierten Verfassung im Kontext der ständigen Frage: was wäre, wäre es so? Ist es so? Um die Antwort wird derzeit gerungen. Die Evolution der demokratischen Verfasstheit westlicher Gesellschaften steht zur Debatte - die jenseits des Atlantiks ziemlich robust geführt wird. Bislang können wir, auch wenn es manchmal schwer zu sein scheint, unserer demokratischen Verfasstheit, den Institutionen und Prozeduren vertrauen. Ohne diese Zuversicht müssten wir einpacken.

(Überarbeitung: 13.10.2016)
 

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